Beruf: Beeinflusserin
Debora Brunold fährt keine Rennen und trotzdem schauen ihr Millionen zu, wenn sie auf dem Velo sitzt. Seit die Aargauerin ein offenherziges Bild gepostet hat, ist sie in der Topliga der Fahrrad-Influencer:innen. Wie funktioniert dieses Geschäft?
Text: Simon Joller
Debora Brunold ist jetzt Radfahrerin von Beruf, wenn auch ohne Team und Wettkämpfe. «Es ist einfach zu mir gekommen und hat mich total überfordert», sagt sie. Eben erst hat sie ihren Job als Pflegefachfrau aufgegeben. Es ist Sommer 2023. Die 30-Jährige, die alle nur Deby nennen, sitzt auf der Sonnenterrasse eines Landgasthofs im aargauischen Sins. Sie trägt eine weit geschnittene weisse Bluse und enge Jeans-Shorts. Sie ist an Hals, Händen und Beinen tatöwiert. Besonders auffällig ist das Tattoo einer grossen Motte auf der Brust. Brunold ist Influencerin: «Ich probiere den Job eine Saison aus. Geht es nicht weiter, werde ich wieder Pflegefachfrau.»
Ein halbes Jahr später ist ein weiteres Treffen fast unmöglich. Wir erreichen sie in den Niederlanden am Telefon. Das Geschäft läuft. Auf Instagram folgen ihr 226000 Personen. Zum Vergleich: Die beste Schweizer Strassenvelofahrerin, Marlen Reusser, hat 37000 Follower:innen, der momentan erfolgreichste Schweizer, Marc Hirschi, hat 100000.
In drei Tagen fliegt Brunold nach Kolumbien. Eingeladen und mit einem Honorar vergütet von einem Reiseveranstalter. Dieser kauft sich mit seiner Investition Präsenz auf ihrem Instagram-Kanal, Präsenz beim europäischen Publikum. Fotos und Videos sollen dazu anregen, in Kolumbien Velo zu fahren. Vielleicht mit dem selben rosaroten Rennrad oder dem trendig erdfarbenen Dress wie die Influencerin. Auf ihren Bildern ist kaum etwas, hinter dem nicht ein Vertrag steckt. Selbst das Velo-Reinigungsmittel auf den Bildern ist Geschäft. Brunold wird aus Kolumbien eine vereinbarte Anzahl Storys mit Fotos posten.
«Wer träumt nicht davon, statt im Bürostuhl zu sitzen, sich so wie Deby in den Velosattel zu schwingen und durch die Welt zu pedalieren?», fragt Michael Zubler. Er steuert bei Specialized Schweiz das Marketing-Budget und unterstützt auch Brunold: «Debys Stories inspirieren, machen Lust, motivieren.» Sie stehe für einen modernen Fahrrad-Lifestyle fernab vom professionellen Rennsport.
Jochen Haar ist globaler Marketingverantwortlicher bei Scott, zuständig für die Influencer:innen des Veloherstellers. Die von Scott unterstützten Profi-Rennfahrer:innen erreichen mit ihren Social-Media-Aktivitäten ein Millionenpublikum. «Früher zählte allein der Glamour der Sieger, heute suchen wir bewusst auch Personen, mit denen sich die Menschen identifizieren können, die auf Augenhöhe mit ihnen sind.» Darum schliesst Scott sogar Verträge mit bikenden Familien ab. Oder mit Gravel-Fahrer:innen, deren Reichweite weit über die Rennszene hinausgeht.
Noch vor sechs Jahren ist Brunold Raucherin und Sportmuffel. Dann verliebt sie sich in einen Rennvelofahrer. Die Liebe zum Mann vergeht, jene zum Velo bleibt. Sie teilt sie auf Instagram. Im Sommer 2022 hat sie stattliche 30000 Follower:innen – und mit einem Kleiderhersteller ihren ersten Sponsor. Das sei schmeichelhaft gewesen, aber das Ziel, Profi-Influencerin zu werden, habe sie da noch überhaupt nicht verfolgt.
Dann unternimmt Brunold ihre erste Bikepacking-Tour. Eine Fahrt mit Rennvelo und leichtem Gepäck über die Pyrenäen, auf Instagram sorgfältig dokumentiert. Pro Tag gewinnt sie bis zu 10 000 neue Follower:innen, wird überhäuft mit Hunderten von Nachrichten: «Ich habe nicht mehr begriffen, was da geschieht. Aber ich fand das noch lässig», sagt sie. Leute fragen sie, ob sie Follower:innen kaufe, was sie verneint. Erklären kann sie sich die Follower-Explosion bis heute nicht. Waren es die Pässe, das Abenteuer, von dem viele träumen? War es der Algorithmus von Instagram? Am sechsten Tag ihrer Tour dieses Foto am Col du Tourmalet, im Wiegetritt, lachend, das Trikot flattert geöffnet im Fahrtwind, tiefe Einblicke in ihr Dekolleté mit der tätowierten Motte. 3.2 Millionen schauen das Bild an, fast 100 000 versehen es mit einem Herz. Deby geht viral.
Alles nur eine Frage der Tiefe des Einblicks? «Das ist nicht so wichtig», meint Jochen Haar. Und Michael Zubler sagt: «Man ist schön angezogen, will gut aussehen, das ist unterdessen wichtig für diesen Fahrrad-Lifestyle. Und da ist auch der Körperkult ein Faktor, der dazu gehört.» Brunold sagt, sie zeige gerne ihre Tattoos. Nicht weil das sexy sei, sondern weil sie sie möge. Sowieso sei das freizügige Bild per Zufall entstanden. Geschossen von einer Fotografin am Col du Tourmalet, die Hobbyfahrer:innen ablichtet, um ihnen danach die Bilder zu verkaufen. Sie erhalte ja auch viele Likes bei anderen Bildern, sagt Brunold.
Die Fotos schiesst sie meist selber. Manchmal drückt sie ihre Kamera Mitfahrenden in die Hand, immer öfter fotografiert ihr heutiger Partner, ein Fotograf. Dazu kommen die professionellen Shootings der Sponsoren. Was ihr wichtig ist: Alle Bilder werden durch die Nachbearbeitung zu Bildern, die in ihr Konzept passen. Gepflegt, manchmal eher düster. Was anfangs eher Zufall gewesen sei. Zu viel Farbe habe ihr blondes Haar gelb erscheinen lassen.
«Moderne Influencer sind Storyteller. Erfolgreich ist, wer authentisch ist», sagt Haar. Und doch rümpfen viele die Nase beim Stichwort Influencer. Brunold sagt, sie verstehe das: «Meine Grosseltern verstanden ja auch nicht, warum ich so Geld verdienen kann.» Sie erklärte es ihnen so: «Ich praktiziere ganz einfach die moderne Form von Werbung. Das, was früher Radio und TV waren, ist heute Social Media.» Bei Scott werden Influencer:innen mittlerweile «Influential Creators» genannt. Sie sollen nicht offensichtlich beeinflussen, sondern mit kreativen Inhalten begeistern. Dass aus Begeisterung Beeinflussung werden kann oder soll, dürfte naturgemäss aber doch Sinn der Sache bleiben. Geschäft ist Geschäft.
Über die Anzahl Follower:innen spricht man in diesem Geschäft lieber als über Geld. «Unser Investment ist verhältnismässig klein und hängt stark von der Content-Qualität und der Reichweite ab», sagt Zubler von Specialized. Er mache primär Materialsponsoring. Zu Scotts Engagement sagt Haar: «Influencer kosten zwar auch etwas. Doch ein Strassenteam ist viel teurer. Trotzdem nehmen Influencer in den Marketingstrategien unterdessen einen hohen Stellenwert ein.» Beide sagen, sie zahlten nie pro veröffentlichter Beitrag. Und es gebe keine Vorschriften, wie viele Posts es sein müssten. Das seien Regelungen aus der Welt der Reise- oder Kosmetika-Influencer. Vereinbart werde aber meist eine regelmässige Präsenz in den Sozialen Medien.
Brunold wagte den Jobwechsel auch, weil sie Verträge aushandeln konnte, die ihr mindestens dasselbe Einkommen wie als Pflegefachfrau garantierten. Gemäss Bundesstatistik sind das durchschnittlich 7400 Franken brutto pro Monat.
Brunolds Weg zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Velo-Influencerinnen war nicht einfach. Noch im Spätsommer 2023 sprach sie offen über ihre Zweifel und wirkte gestresst. Würde sie als Influencerin genug verdienen? Wie viel darf sie verlangen? Plötzlich fehlte die Zeit ausgerechnet zum Radfahren. Freizeit? Fehlanzeige. Nun sagt sie ein halbes Jahr später kurz vor ihrer Kolumbien-Reise: «Meine Schwester sagte mir kürzlich, sie wisse gar nicht mehr, wann ich wo sei.» Sie habe zwar häufig Stress, sei jetzt aber organisierter, sagt Brunold. «Ich habe sogar Tage ohne Arbeit. Und das aktuelle Jahr läuft geschäftlich sehr gut.»
Die Aufmerksamkeit kann schnell verfliegen, Verträge im Influencer-Business sind meist auf ein Jahr beschränkt. «Wenn es nicht klappt, arbeite ich eben wieder als Pflegefachfrau», sagt Brunold. Doch vorerst bleibt sie professionelle Radfahrerin. Auch wenn sie nie ein Rennen fahren wird.