Die Gipfel immer vor Augen

Demi Vollering ist die weltbeste Velofahrerin. Die Niederländerin hat in Meggen am Vierwaldstättersee ihre zweite Heimat ge­funden. So ist sie nahe bei den Bergen, die sie liebt. Auf einer Trainingsfahrt erzählt sie, was sie an den Schweizer:innen schätzt.

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Text: Eva Breitenstein

Fotografie: Maurice Haas

Radprofi Demi Vollering fühlt sich an zwei Orten zuhause. Das hat Vorteile, denn so kann sie gleich zwei der Saison-Höhepunkte dieses Jahres als ihre Heimrennen bezeichnen. Im August startet die Tour de France Femmes in Rotterdam. In Pijnacker, nur 40 Velominuten davon entfernt, ist Vollering aufgewachsen. Und im September könnte die 27-Jährige in Zürich Weltmeisterin werden, nicht einmal eine Stunde von ihrem jetzigen Wohnort Meggen entfernt. Dieses Dorf liegt ein paar Kilometer östlich von Luzern malerisch am Vierwaldstättersee.

«Ich kann nicht verstehen, weshalb nicht alle in der Schweiz wohnen wollen.»

Demi Vollering

Seit bald drei Jahren lebt die Nummer 1 des Frauen-Radsports in der Schweiz. Sie hatte sich bei ihrem ersten Besuch vor sieben Jahren in das Land verliebt. Ihr Verlobter Jan de Voogd war gerade des Berufs wegen hierher gezogen, Demi Vollering besuchte ihn, als sie an einem Eisschnelllauf-Rennen in St. Moritz teilnehmen wollte. Damals arbeitete sie in den Niederlanden als Floristin. Ihre Karriere auf dem Eis stagnierte, jene auf dem Velo nahm gerade erst Fahrt auf. Das Rennen auf dem See wurde schliesslich verschoben, Vollering versuchte sich zum ersten Mal auf Langlauf-Ski – auch dies der Beginn einer langfristigen Liebe.

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«Ich kann nicht verstehen, weshalb nicht alle in der Schweiz wohnen wollen», sagt Vollering lachend und könnte mit ihrer Begeisterung glatt als Botschafterin der neuen Heimat durchgehen. Ihre Wohnung hat tatsächlich etwas von Postkartenschweiz: Aus einem Fenster sieht sie die Rigi, aus dem anderen den Pilatus. Vollering serviert den Gästen Kaffee, wie sie das auch gerne für ihr ganzes Team von SD Worx tut: Sie hat gar eine Kaffeemaschine für den Teambus gesponsert.

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Demi Vollering fühlt sich wohl in der Schweiz. Foto: Maurice Haas

Gerade im Winter schätzt sie das Land, hier kennt sie im Gegensatz zu früher und den grauen, windigen und kalten Tagen in den Niederlanden keine Motivationsprobleme mehr: In der Zentralschweiz schützen sie Wald und Berge auf dem Gravel-Velo oder dem Mountainbike. Oder sie lässt die Nebeldecke hinter sich und geht in Andermatt auf 2400 Metern über Meer langlaufen oder auf eine Skitour.

Das Skifahren hat Vollering als Erwachsene in der Schweiz so richtig gelernt. Nach dem ersten Versuch, «ohne grossen Erfolg», nahm sie in den Niederlanden einige Lektionen in einer Indoorhalle – und begab sich dann in Niederrickenbach NW direkt auf eine Skitour. Aufwärts lief alles bestens, doch bergab sass sie nach jeder Kurve im Schnee. «Zum Glück war es neblig, so sah ich nicht, wie tief und steil es war», erinnert sich die 27-Jährige, «sonst wäre ich aus Angst immer noch dort oben.»

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Eine Woche vor einem Rennen ist Demi Vollering voll fokussiert. Dann gibt es keine Abenteuer mehr. Foto: Maurice Haas

Zu einem Abenteuer in der Natur hat Vollering noch nie Nein gesagt. Als Kind verbrachte sie die ganze Freizeit draussen, sie sprang mit ihren drei Geschwistern in Pijnacker über die Grachten, baute Hütten. «Wenn ich in einem Trainingslager oder an einem Rennen bin, will ich immer die Umgebung entdecken», sagt sie, deswegen sei sie Radfahrerin geworden. Noch lieber allerdings gewinnt sie Rennen, «deswegen liege ich dann doch auf dem Bett und erhole mich.» Ihre Regel: Eine Woche vor dem Rennen gibt es keine Abenteuer mehr.

«Das Wichtigste für unsere neue Wohnung in Meggen war, dass wir viel Licht haben, damit ich das Gefühl habe, fast schon draussen in den Bergen zu sein.»

Demi Vollering

Sonst aber unternimmt sie wann immer möglich kleine Entdeckungsreisen. Gemeinsam mit de Voogd fährt sie mit dem eigenen Campervan irgendwohin in der Schweiz und trainiert von dort aus. Journalist:innen bestellt sie für ein Interview auch mal spontan auf die Seebodenalp. Dort steht das Mobilehome hinter allen anderen Campern und weitab von der Seilbahnstation auf einer weitläufigen Wiese. Zwischen ihrer Yogasession und dem Velotraining serviert Vollering – natürlich – frischen Kaffee und bietet einen Campingstuhl an. Auch de Voogd setzt sich dazu, als sich eine Diskussion um die Zukunft des Frauen-Radsports entwickelt. Abends draussen ein Feuer machen, grillieren, die Natur geniessen – «das gibt mir ein Gefühl von Freiheit», sagt Vollering. Und eine Abwechslung vom harten Training. Entdeckt sie neue Gegenden, fährt sie manchmal einfach drauflos oder plant Ausfahrten mit einer App, um Anstiege zu fahren, die sie nicht einfach so gefunden hätte.

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Wenn Demi Vollering im Trainingslager oder an einem Rennen ist, will sie immer die Umgebung erkunden. Foto: Maurice Haas

Bevor das Paar vor wenigen Monaten nach Meggen gezogen ist, hat es bereits einmal ganz in der Nähe in Adligenswil gewohnt. Danach zogen die beiden nach Therwil ins Baselbiet – de Voogd arbeitete jahrelang als Leiter der OP-Technik am Unispital Basel, heute ist er selbstständiger Sportmanager. Die Berge sind für die beiden ein Hauptargument für die Schweiz, weshalb sie eine Wohnung in Meggen kauften. Sie träumen zwar von einem Haus tief in der Natur, mussten jedoch einsehen, dass sich dies finanziell zurzeit noch nicht verwirklichen lässt. «Ich brauche nicht viel Platz, um mich zuhause zu fühlen», sagt Vollering. Sie schätzt aber, dass sie die Velos nicht mehr wie in der letzten, kleinen Wohnung im Gästezimmer unterbringen muss, sondern einen schönen Velokeller hat. Das Wichtigste: viel Licht, «damit ich das Gefühl habe, fast schon draussen in den Bergen zu sein».

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Jan de Voogd (rechts) ist als Manager und Verlobter oft an der Seite von Demi Vollering. Foto: Maurice Haas

Die Berge, natürlich! Würde sie diese nicht lieben, hätte sie die Tour de France nicht gewinnen können. Den Grundstein für den Triumph im vergangenen Sommer legte sie mit einem Solosieg in der Königsetappe auf den Tourmalet. Nebel verlieh dem legendären Pass eine mystische Stimmung, die zahlreichen Zuschauer:innen verschwammen darin ebenso wie Vollerings abgehängte Konkurrentinnen. Der Kraftakt war auch eine Wachablösung zwischen zwei Niederländer:innen mit 14 Jahren Altersunterschied: Vorjahressiegerin und Radsport-Koryphäe Annemiek van Vleuten fuhr ihre letzte Saison. Vollering hatte sie in jenem Sommer auch schon vor der Tour geschlagen, doch bewusst wurde das den meisten im Heimatland der beiden erst mit der Tourmalet-Etappe. «Okay, nun ändern sich die Dinge, Demi schlägt Annemiek», so hat Demi Vollering die Reaktionen der Menschen wahrgenommen.

Seit ihrem Durchbruchsjahr 2021 hat sie schon viel gewonnen, war Tour-Zweite, siegte unter anderem bei Klassikern wie Lüttich–Bastogne–Lüttich oder dem Amstel Gold Race. Vollering mag die Härte der Eintagesrennen in den Ardennen, die kurzen Kraft-Efforts in den Steigungen. Sie fände es schade, sich zugunsten der Rundfahrten mehr auf die langen Anstiege zu konzentrieren. «Ich bin gerne Allrounderin.»

Noch ist sie in der Schweiz nicht alle Pässe gefahren, die sie gerne würde. Zu oft ist sie in den schneefreien Monaten im Ausland im Trainingslager, in der Sierra Nevada oder im französischen Tignes. Einer ihrer Lieblingspässe ist der Klausen, der weltweit ihr erster Pass war. Auch die Panoramastrasse über den Glaubenbielen mag sie. Das «Gruppetto» nimmt sie an einem Prachtstag im Februar mit auf eine ihrer Standardrunden, einmal um die Rigi: zwischen Küssnacht und Brunnen dem Vierwaldstättersee entlang, zurück via Lauerzer- und Zugersee. Um noch Höhenmeter einzubauen, gibt es Abstecher zur Seebodenalp und zum Sattel, insgesamt 90 Kilometer und 2000 Höhenmeter. Vollering nimmt auch mal das Handy aus der Rückentasche, um den See zu fotografieren, am Berg jedoch wird konzentriert und hart gefahren.

Erfolge wie jene an der Tour de France Femmes und vor allem die dazugehörige TV-Übertragung bringen Radsportlerinnen wie Vollering immer mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Sie wird nicht nur in den radsportverrückten Niederlanden erkannt, sondern öfter auch in der Schweiz. Dann versuchen andere Gümmeler:innen zu ihr aufzuschliessen, um ihr Glück für die Saison zu wünschen. Schweizerdeutsch versteht sie schon gut, selber Deutsch zu sprechen, lernt sie noch.

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Demi Vollering hat ihr Selbstbewusstsein durch den Sport stärken können. Foto: Maurice Haas

Die Athletin mag vor allem die Naturverbundenheit der Schweizer Familien. «Alle räumen auf und nehmen Rücksicht darauf, wo sie leben.» Wie sich die Menschen an öffentlichen Grillstellen treffen, zusammen in die Skiferien gehen. Einen Grund dafür sieht Vollering darin, dass die Geschäfte im Unterschied zu den Niederlanden sonntags geschlossen haben: «Ich habe das Gefühl, hier gibt es noch ein richtiges Wochenende.»

«Ich mochte das Radfahren schon als Kind so sehr! Dass ich anfangs nicht gut war, spielte keine Rolle – im Sport urteilte niemand über mich. Er lehrte mich, dass ich ich selbst sein kann, egal, wie gescheit ich bin.»

Demi Vollering

Und dann wäre da noch ihre dritte Heimat, die nichts mit Landesgrenzen und typischen Charakterzügen zu tun hat: der Sport. Als Kind hatte Vollering Mühe in der Schule. War so schüchtern, dass sie auf Ausfahrten im Velo-Club nicht lachte, nichts sagte, sodass die Clubverantwortlichen dachten, sie habe keinen Spass daran. «Dabei mochte ich es so sehr! Dass ich anfangs nicht gut war, spielte keine Rolle – im Sport urteilte niemand über mich. Er lehrte mich, dass ich ich selbst sein kann, egal, wie gescheit ich bin.» Sie habe ihre ganze Entwicklung durch den Sport gemacht: dass man durch Training besser wird, ein Ziel verfolgen kann, Selbstbewusstsein und ein gutes Gefühl erlangen kann.

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Vollerings Standardrunde geht einmal um die Rigi: zwischen Küssnacht und Brunnen dem Vierwaldstättersee entlang, zurück via Lauerzer- und Zugersee. (Foto: Maurice Haas)

In den Niederlanden versucht sie, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Bewegung auch auf das seelische Wohlbefinden von Jugendlichen einen positiven Einfluss hat.

Für dieses Engagement wurde Vollering im vergangenen Winter vom niederländischen König der «Orden von Oranien-Nassau» verliehen.

Und das ist nun definitiv etwas, was ihr die neue Heimat in der Schweiz nicht bieten kann.

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Eine der Standardrunden von Demi Vollering in der Schweiz führt einmal um die Rigi herum. Foto: Maurice Haas

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