Randdisziplinen des Radsports und noch viel mehr – das ist das «Gruppetto» #4/24

Die vierte «Gruppetto»-Ausgabe 2024 widmen wir unter anderem dem E-Sport, Radball, Bahnradsport und dem Radquer. Wir berichten aber auch über die richtig grossen Namen wie Grace Brown oder Biniam Girmay. Und natürlich haben wir die Velokultur nicht vergessen.

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Die digitale Sprinterin

Kathrin Fuhrer holte dieses Jahr Bronze an offiziellen UCI-Weltmeisterschaften, und kaum jemand hat es mitbekommen. Ihr Schweizer Nationaltrikot musste sie selber kaufen. Wer ihre Rennen mitverfolgt, sieht sie zumeist als Avatar im virtuellen Raum. Die 36-Jährige fährt zuhause in ihre sogenannten Pain Cave auf verschiedenen E-Sport-Plattformen wie Zwift oder MyWhoosh. Mittlerweile verdient sie damit so gut, dass sie davon leben kann.

Kathrin Fuhrer
Spektakulärer als im Pain Cave: Für den Fototermin trainierte Kathrin Fuhrer im Open Ride in der Europaallee in Zürich. (Foto: Maurice Haas)

Bini eint seine zerstrittenen Landsleute

Beim WM-Strassenrennen verwandelten Hunderte den Start in Winterthur und das Ziel in Zürich zur eritreischen Festhütte. Sie alle waren sich einig: Bini ist ihr Held. Biniam Girmay ist 24 Jahre alt und der beste Velofahrer, den das Land am Horn von Afrika je hervorgebracht hat. Dabei ist die eritreische Diaspora – rund 40'000 Eritreer:innen leben in der Schweiz – tief gespalten. Auf der einen Seite stehen jene, die den Langzeitherrscher Isayas Afewerki bejubeln, und auf der anderen Seite die Regimegegner:innen. Und dazwischen steht Bini, der sich davor hütet, politische Aussagen zu machen. Wir sind an der WM in Zürich auf Spurensuche gegangen.

Biniam Girmay
Wenn es um Politik und den eritreischen Herrscher Isayas Afewerki geht, zieht es Biniam Girmay vor, zu schweigen. (Foto: Dan King)

«Diese Tragödie hing wie eine dunkle Wolke über uns allen»

Die amtierende Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Zeitfahren, Grace Brown, ist eben erst zur Präsidentin der Fahrerinnen-Gewerkschaft TCA gewählt worden. In ihrem ersten grossen Interview nach der Wahl spricht die Australierin über Muriel Furrers Tod. Die 18-Jährige war beim WM-Rennen in Zürich tödlich verunfallt. Brown äussert sich zur Sicherheit im Radsport, erzählt von einem eigenen Sturz, bei dem sie dachte, sie würde sterben – und über ihren Rücktritt. Denn die 32-Jährige hat sich dazu entschieden, ihre Karriere auf dem Höhepunkt zu beenden.

Grace Brown
Grace Brown startet ihre Karriere als Läuferin. Wegen Verletzungen wechselt sie in den Radsport. 2016 nimmt sie am ersten Rennen teil. Die grössten Erfolge feiert sie in ihrer letzten Saison. (Foto: Mathilde L'Azou)

Velo mit Schuss

Im Radball lautet ein Merksatz: «Es dauert zehn Jahre, bis du dem Velo sagst, was es machen soll, und nicht umgekehrt.» Wer diesen Sport betreibt braucht viel Hartnäckigkeit, Gelduld und eine riesige Portion Leidenschaft. Wir waren zu Besuch beim UCI Weltcup in Altdorf UR. Da trafen wir den bisher letzten Schweizer Weltmeister Roman Schneider. Wir sprachen mit dem Bauingenieuren Severin Waibel, der seinen Job für den Sport auf 50 Prozent reduziert hat. Und Wing Tai Ho erzählte uns, weshalb er mit seinem Radballpartner Ka Kin Kenny Chan für ein Turnier vor wenigen Hundert Zuschauer:innen von Hongkong in die Innerschweiz gereist ist.

Radball
Es ist beeindruckend, wie die Spieler ihr Velo beherrschen. Sie fahren vorwärts, rückwärts, hüpfen seitwärts und kontrollieren den Ball, der etwas kleiner und schwerer als ein Handball und mit Stoff überzogen ist. (Foto: Pascal Mora)

Ein Quartierclub bewegt die Welt

Der VC Wiedikon war einst die Heimat von Radsportgranden wie Ferdy Kübler und Fritz Pfenninger. Obwohl in dem Zürcher Quartier heute viele ein Rennvelo besitzen, fahren die meisten doch an dem Verein vorbei. Damit verpassen sie zwei «Goldene» Bücher, eine Töffli-Gang, eine Frau, die den Umgangston ändert, und ein Kunstprojekt, das dem Verein wieder eine Zukunft gibt. Oder kurz: Die toll(kühn)e Geschichte des Zürcher Quartierclubs, der demnächst 125 Jahre alt wird.

VCW
Noch bis 2022 hiess der Veloclub VMC Wiedikon, obwohl es die Moto-Sektion längst nicht mehr gab. (Foto: Christian Senti)

Feld – Wout – Wiese

Kevin Kuhn ist momentan der erfolgreichste Radquerfahrer der Schweiz. Mit 18 Jahren sagte er noch, es sei in der Schweiz schwierig vom Quer-Sport zu leben, er werde wohl auf eine andere Disziplin setzen müssen. Heute lebt der 26-Järige im Winter in Belgien und ist Radquer-Profi. Eine Fahrt auf schlammigen Wegen und über sandiges Terrain in Belgien, der Heimat von Wout van Aert.

Kevin Kuhn
Auf dem Speeltuintje Sven Nys, dem Spielplatz des ehemaligen Radquer-Weltmeisters, muss Kuhn zuerst noch ein wenig Luft aus dem Pneu lassen, bevor er den weit über 20 Prozent steilen Stutz hinaufballert. (Foto: Anouk Flesch)

«Sie nannten mich Skelett»

Urs Zimmermann kam, sah, siegte und verschwand dann auch schnell wieder. Der Vegetarier gehörte zu den besten Veloprofis der Welt. Erst mit 20 Jahren entschied er sich für den Radsport. Vier Jahre später er die Tour de Suisse und 1986 wurde er an der Tour de France Dritter hinter Greg LeMond und Bernard Hinault. Dann stürzten ihn Essstörungen in eine tiefe Krise. Heute kann der 65-Jährige wieder offen über diese Zeit sprechen.

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Es war für Urs Zimmermann kein leichter Weg aus dem Spitzensport zurück in ein normales Leben. Heute kann er Journalisten zu dieser dunklen Zeit wieder Fragen beantworten. (Foto: Maurice Haas)

Halb Wein, halb Wasser

An einem Oktobersamstag reihen sich frühmorgens Tausende Nostalgiker:innen ein, um prüfen zu lassen, ob ihr Velo alt genug ist für die historische Ausfahrt Eroica. Weit und breit keine Bremsscheibe und keine elektronische Schaltung. Stattdessen kreativ frisierte Bärte und sorgfältig am Velohüetli entlang geflochtene Zöpfe. Am Ende des Tages liegen sich die Teilnehmer:innen auf dem Dorfplatz von Gaiole in Chianti in den Armen. Als wären Englisch, Italienisch und Flämisch ein und dieselbe Sprache, verständigen sie sich miteinander. Eine Gruppe johlender Jungs mit Lederhelmen, die das Ziel etwas früher erreicht haben, schenkt den Neuankömmlingen selbst produzierten Prosecco liebevoll ein. Am liebsten direkt aus der Flasche in den Mund.

Eroica
Das Aussehen und die italienischen Spezialitäten sind an der Eroica mindestens ebenso wichtig wie das Velofahren. (Foto: Claude Gasser)

Runde um Runde zurück ins Rampenlicht

Bahnradsport geniesst in der Schweiz kaum Ansehen. Er ist schwer zugänglich, die Besten wechseln auf die Strasse und der Nachwuchs fehlt. Doch nun haben Michelle Andres und Aline Seitz die Schweizer Frauen zurück an die Olympischen Spiele gebracht. Sie opfern viel für den Sport, verdienen wenig und haben insgesamt sie mehr schlechte als gute Trainingstage. Aber dennoch sagen sie: «Es ist ein riesiges Privileg, jeden Tag Velo zu fahren und das zu tun, wofür wir brennen.»

Seitz und Andres
Die beiden Bahnradprofis Aline Seitz (links) und Michelle Andres haben sich kennengelernt, als sie neun Jahre alt waren. Sie gehen schon lange gemeinsame Wege im Sport. (Foto: Mirjam Kluka)

Und ausserdem...

...Lara Liehner, Chiara Mettier und Sirin Städler haben während dem WM-Rennen der Juniorinnen in Zürich Muriel Furrer verloren. Sie waren nicht nur Teamkolleginnen, sondern auch Freundinnnen und Schulbanknachbarinnen.

...Roger Schell hat die grossen Zeiten des Radquers noch miterlebt, als 10'000 Zuschauer:innen die Rennen besuchten. Auch wenn es heute bloss noch wenige Hundert Fans sind, putzt er noch immer mit der gleichen Leidenschaft die Rennvelos der Fahrer:innen. ...Ariane Künzli, Matthias Peter und Andreas Roth wollen mit Jespr die bekannten Velocomputer von Garmin konkurrenzieren. Sie haben bereits einen langen Weg hinter sich mit vielen Rückschlägen. Nun gibt es den Jespr im Handel, geschafft haben sie es dennoch noch nicht ganz.

...Emma Pooley war die beste Zeitfahrerin der Welt. Heute schiebt sie ihr Velo auch einmal über einen Pass. Weltspitze ist sie aber noch immer: als Haferflocken-Bäckerin. Über diese Passion hat die britisch-schweizerische Doppelbürgerin nun ein Buch geschrieben.

...Viele Teams engagieren eigene Fotograf:innen, welche die Athlet:innen in einem möglichst guten Licht darstellen sollen. Bei Sean Hardy ist das anders. Der Engländer gehört zu jenen, welche die Radsportfotografie auf eine andere Ebene gehievt haben. Wir zeigen sein sein Portfolio.

...unser Gruppetto sind die Wädlibränner. Sie wollten «das professionellste Hobby-Team der Schweiz» gründen. Nun sind sie ein Gravel Social Club, der die Wädli brennen lassen will.

...Jonas Schmid hätte beinahe sein ETH-Studium hingeschmissen. Dann dann war da dieses Projekt, bei dem er mit anderen ein so leichtes und aerodynamisches Tandem baute, das einen Geschwindigkeitsrekord brach. Heute ist er Mitinhaber der Radiate Engineering & Design AG mit einem Dutzend Mitarbeitenden.

...In Basel gibt es ein kleines, aber feines Museum mit 150 Velos aus den 1950er- bis 1990er-Jahren. Gesammelt hat sie alle Urs Stäger. Und wer sie betrachten will, kann das nur zusammen mit Stäger, der viel zu den Velos zu erzählen hat.

...Warum darf ein Velo eines Profis eigentlich nicht weniger als 6.8 Kilogramm wiegen?Unser Technik-Kolumnist Simon Joller ist mit dem dem spanischen Q36.5-Profi David de la Cruz einen Berg hochgefahren – auf einem 5.9-Kilogramm leichten Velo.

...Bei seinem Sieg des Transcontinental Raice sagte Robin Gemperle in Führung liegend, es sei ihm egal, ob er das Rennen mit zehn Stunden oder zehn Minuten Vorsprung gewinne. Das macht ihn heute hässig.

...der neuste Comic von Irina Feller von Etna Flitz handelt von Karma und Aberglauben der Velokurier:innen.

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