Rundfahrt ohne Land
Die Tour de Romandie findet in der Deutschschweiz wenig Beachtung. Zu Unrecht, findet der Radsportjournalist Alain Rumpf in einer Liebeserklärung an seine Rundfahrt.
Das Besondere am Radsport ist, dass er zu den Menschen kommt und nicht umgekehrt. Für ein Fussballspiel muss man ins Stadion gehen. Doch als ich noch sehr klein war, musste ich für die Tour de Romandie nur vor die Haustür treten. Das Rennen führte fast jedes Jahr an der Waadtländer Riviera vorbei, wo ich aufgewachsen bin.
Mützen, die vom Werbetruck geworfen werden, Polizeitöffs und Fahrer, die in hohem Tempo vorbeirasen, Autos mit Fahrrädern auf dem Dach oder der Besenwagen: Die Symbole des Radsports haben dank dieses Rennens seit meiner Kindheit meine Fantasie beflügelt.
Mit zwölf Jahren begann ich selbst mit dem Radsport und verfolgte natürlich auch die TDR, wie sie damals schon hiess, genauer. Ich erinnere mich besonders an die Austragung von 1985, als Jogi Müller gewann. Selbst als er im Schlusszeitfahren in Genf den Sattel verlor, triumphierte er noch vor dem Portugiesen Acacio da Silva und dem Schweden Tommy Prim. Wie so oft fuhren die Fahrer in jenem Jahr durch den strömenden Regen. Ich sehe vor mir immer noch die Bilder von Bernard Hinault, der auf den aufgeweichten Strassen des Jura, irgendwo zwischen La Chaux-de-Fonds und Moutier, attackierte. Live-Übertragungen gab es damals nicht. Wer das Rennen nicht am Streckenrand verfolgen konnte, musste sich mit einer täglichen viertelstündigen Zusammenfassung begnügen.
Meine Erinnerungen an die Tour de Suisse hingegen sind verschwommener. Ich erinnere mich an Urs Freulers Schnurrbart, an einen Sieg von Urs Zimmermann in seinem schönen Cilo-Trikot, an eine lange Liste von Sonderpreisen und an die wiederholten Heldentaten von Beat Breu. Ansonsten ist da nicht viel. Einer der Gründe ist einfach: Das Rennen kam fast nie in die Romandie.
Als ich 1984 mit dem Rennsport begann, war ich in keinem Radsportverband angemeldet. Als Romand nahm ich an Rennen teil, die von der Union Cycliste Suisse (UCS) organisiert wurden. Die Deutschschweizer Vereine hingegen gehörten dem Schweizer Radfahrer-Bund (SRB) an. Die Tessiner:innen verteilten sich auf diese beiden Verbände.
Die Tour de Romandie gehörte der UCS, die sie 1947 zu ihrem 50-jährigen Jubiläum ins Leben gerufen hatte. Sie hatte prestigeträchtige Namen in ihrer Siegerliste: Kübler, Bartali, Koblet, Merckx, Gimondi oder Hinault. Die Tour de Suisse hingegen war seit ihrer ersten Ausgabe im Jahr 1933 Eigentum des SRB. Die beiden Rennen verfolgten parallele Wege, jedes unter der Leitung eines symbolträchtigen Direktors. Für die Tour de Suisse war es seit 1967 Sepp Vögeli. Die TDR leitete der Freiburger Claude Jacquat. Ein autoritärer und leidenschaftlicher Patriarch, der jahrzehntelang für seine Veranstaltung kämpfte.
«Wer die Romands verstehen will, muss die Tour de Romandie schauen.»
1996 fusionierten der UCS und der SRB. Damals arbeitete ich beim Weltradsportverband UCI, in dem Claude Jacquat die Technische Kommission leitete. Er sagte: «Die Deutschschweizer werden die TDR nie bekommen.» Kurz vor der Fusion zum Schweizerischen Radsportverband (FCS) wurde die Tour de Romandie aus der UCS ausgegliedert und in den Besitz einer Stiftung überführt. Der FCS übernahm die Tour de Romandie nicht.
Wie ich über die Einzigartigkeit der TDR nachdenke, reflektiere ich auch meine Beziehung zu meiner Heimat. Wofür steht die Tour de Romandie?
Die Romandie ist nicht mehr als der Teil der Schweiz, in dem Französisch gesprochen wird. Innerhalb unseres Landes hat die Romandie keine politische Existenz. Wer eine aktuelle Karte der Westschweiz sucht, wird keine finden. Die wissenschaftliche Literatur definiert die Romandie als einen Ausdruck, um die Romands von Französ:innen und Deutschschweizer:innen zu unterscheiden. Die Identität der Romandie wird von aussen und nicht von innen definiert. Knackiger formulierte es der Komiker Vincent Kucholl: «Die Westschweizer:innen, das sind alle Menschen, die Radio Suisse Romande hören, Télévision Suisse Romande schauen oder Lose der Loterie Romande kaufen.» Ich füge hinzu: und die Tour de Romandie verfolgen. Wer die Romands verstehen will, muss die TDR schauen.
«Während das Peloton zwischen Jura und Alpen unterwegs ist, fühle ich mich sogar den Genfer:innen nahe.»
Die Romandie als Einheit existiert jedes Jahr eine Woche lang. Während das Peloton zwischen Jura und Alpen unterwegs ist, fühle ich mich den Neuenburger:innen, den Jurassier:innen, ja sogar den Genfer:innen nahe, die wir für den Rest des Jahres gerne als Französ:innen betrachten. Dank der Zwischensprints und Bergpreise entdecke ich Dörfer, deren Namen ich nicht kannte, und Hügel, die ich noch nie erklommen habe. Der Chef der Organisation, Richard Chassot, ist auf allen TV-Bildschirmen zu sehen. Der ehemalige Profi des Post Swiss Team hat seine Rennfahrer-Figur gegen die eines Lebemannes eingetauscht. In Deutschschweizer Augen dürfte er die Verkörperung des feierfreudigen Romands darstellen.
Doch sie lernen bei der Tour de Romandie noch ganz andere Seiten der Westschweiz kennen. Auch wenn die höchsten Pässe Anfang Mai noch geschlossen sind, führt die Strecke durch Alpenlandschaften: die Seitentäler des Wallis und die Waadtländer Alpen.
In der Ebene dominiert der Frühling – zumindest optisch, denn während der Tour de Romandie regnet es gefühlt immer. Aber so schlimm ist das nicht. In dieser Zeit nimmt die Natur wieder Farbe an. Das Peloton fährt durch die grüne Landschaft und die leuchtend gelben Rapsfelder. Ach ja, und ein Schloss im Hintergrund darf auch nicht fehlen. Davon gibt es in der Westschweiz eine ganze Menge. Es sind charakteristische Silhouetten, die Graham Watson, dem berühmten Radsportfotografen, sehr gefielen. Die Tour de Romandie war eines seiner Lieblingsrennen.