Le Tour et moi

Die Tour de France ist mehr als nur ein Velorennen. Der französische Historiker Pierre Nora schrieb sie einst zum nationalen Erinnerungsort hoch. Während die Grande Boucle für die Grande Nation damit zur französischen Rütliwiese wurde, wirkte sie auch ausserhalbFrankreichs als persönlicher Erinnerungsort. Vier Journalist:innen haben ihre Beziehung zur Tour de France aufgeschrieben.

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Die Zuschauer:innen am Streckenrand sind bei der Tour de France mindestens ebenso faszinierend wie das Rennen. (Bild: Herman Seidl)

Seit 2001 im Maillot jaune

Meine Beziehung zur Tour de France war überwiegend passiv. Ich verfolgte sie seit den Zeiten von Eddy Merckx mit Interesse, direkte Berührungspunkte aber gab es kaum. Bis ich eines Tages selbst das Maillot jaune tragen durfte. Okay, nicht das Original. 2001 arbeitete ich als Sportredaktor beim Nachrichtenmagazin «Facts». Ich porträtierte damals unter anderem Sven Montgomery, als er nach dem fürchterlichen Sturz an der Tour 2001 sein Comeback vorbereitete. Eines Tages traf auf der Redaktion ein Werbegeschenk des TV-Senders «Eurosport» ein. Es bestand aus einem weissen T-Shirt und einem gelben Pulver. Damit konnte ich im Lavabo mein per­sönliches Leadertrikot einfärben. Was soll ich sagen? Natürlich ging die Sache schief, das Leibchen schillerte nach dem Färbeversuch in allen möglichen Gelbtönen. Hätte man Tony Rominger damit einkleiden wollen, er hätte es wutentbrannt in Stücke zerfetzt. Immerhin, nach ein paar Waschgängen hatten sich die Schattierungen verflüchtigt, und heute habe ich das mehr als 20 Jahre alte Maillot jaune immer noch in der Schublade. Manchmal trage ich es beim Joggen, dann fällt es nicht so auf. Denn mittlerweile ist das Gelb ziemlich verblasst. Meine erste persönliche Begegnung mit der Tour de France hatte ich erst vor drei Jahren bei der grossen Schlussetappe in Paris. Okay, ich war eigentlich nicht deswegen dort, sondern weil die Rolling Stones am Vorabend auf der Pferderennbahn in Longchamps ein grandioses Konzert gegeben hatten. Ich war deshalb nicht in Bestform, als ich die grosse Werbekarawane und danach die Fahrer auf den Champs-Élysées bestaunte (zu allem Übel war es verdammt heiss). Aber wenn mich mal jemand wegen des blassgelben Trikots anhauen sollte, kann ich behaupten: Doch, ich war dabei!

Peter Blunschi (62) bezeichnet sich selbst als AnalogNative. Er ist seit 1988 im Journalismus tätig und schreibt vorwiegend über Politik sowie Wirtschaft und Gesellschaft. Aktuell arbeitet er für das Online-Medium «Watson».

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Der Fotograf Herman Seidl hat während 30 Jahren die Zuschauer:innen der Tour de France fotografiert. (Bild: Herman Seidl)

Siegen im Liegen

Meinen ersten Fan-Anlauf nahm ich mit Beat Breu. Mit jeder Kehre, die der Ostschweizer Pöstler auf seinem vermeintlichen Riesenvelo auf dem Weg zur Alpe d’Huez hochhetzte, entflammte mein inneres Feuer für die Tour de France heller und stärker. Die Heldentat des Ostschweizers legte den Grundstein für meine ewige Leidenschaft. Bei aller Freude über die Erfolge der Schweizer Rennfahrer würde ich die folgenden Jahre als meine Aufbauzeit als Fan bezeichnen: bestenfalls intensiv begleitender, gehobener Passivsport. Die sportliche Geschichte war ja eh meistens von Anfang an klar (Indurain!). Mein wirkliches Erweckungserlebnis kam Ende der 1990er. Als Udo Bölts zu Jan Ullrich sagte: «Quäl dich, du Sau!», legte ich mich hin. Aufs Sofa. Vor den Fernseher. Und lernte zu leiden. Plötzlich achtete ich auf den immer gleichen steilen Anstieg am Col du Télégraphe, die ruppigeren Rampenin den Pyrenäen, hoffte auf möglichst heisses Wetter (lag meinem Helden einfach besser), lauerte auf leichte Tempoverschärfungen in hohen Gängen, studierte die Gesichtsausdrücke der Anderen, verstand, weshalb die Mannschaft jetzt nicht mehr nachführen konnte, und zählte die Helfer, die dem gedopten Amerikaner in seiner ausschliesslich aus Captains bestehenden Equipe noch blieben. Stundenlang. Tagelang. Jedes Jahr. Wir haben nur einen kleinen Fernseher auf Rädern. Und ich weiss genau, wann die Kiste in die Zimmermitte gerollt wird. Drei Monumente im Frühling, dann einzelne TdF-Anfangsetappen. Ab dem ersten Ruhe-Montag wird dann durchgeguckt bis Paris. Dann noch die WM. Vuelta und Giro d’Italia lass ich aus. Ich bin doch nicht Tadej Pogačar. Auch wenn meine Disziplin Siegen im Liegen heisst, das Pensum des Slowenen ist selbst auf dem Sofa unmenschlich.Ich war mehrmals vor Ort an Tour-de-France-Etappen. Aber es war nicht dasselbe. Während ich mich heute, angesichts von Velo-Onboard-Kameras und Drohnenverfolgung, so sehr im Rennen fühle, dass ich ab und zu für mich anhalten muss, damit ich im Aufstiegseifer meinen leeren Bidon nicht in die Wohnzimmerecke pfeffere, nervt mich die stundenlange Warterei – oft bei schlechtem Mobil-Empfang. Aber ich habe die Lösung für mein Dilemma – wirklich engagiertes TdF-Schauen am Bildschirm kombiniert mit Atmosphäre vor Ort – gefunden. Wir haben einen VW-Bus gekauft mit Bett im ausfahrbaren Dach und Panoramafenster. Am 22. Juli werde ich am Mont Ventoux sein. In einem perfekt aufs Geschehen ausgerichteten Fahrzeug – erhöht im Dachbett und mit gutem Empfang.

Hansi Voigt (62) hat früher mal Velos in Einzelteilen aus China bestellt. Noch heute türmen sich Lenker in der Scheune.Besser lief es im Journalismus. Voigt gewann den ZürcherJournalistenpreis und wurde zweimal Chefredaktor des Jahres. 

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Besonders beliebt bei den Fans der Tour de France sind steile Strassen, die sich die Pässe hochwinden. (Bild: Herman Seidl)

Élevé par la télé

Ich betrieb als Jugendliche selbst Radsport, trainierte aktiv in einem Veloclub und fuhr Rennen. Die dauerten aber in den seltensten Fällen mehr als einen Tag und waren in den Juniorinnen-Kategorien natürlich wesentlich kürzer als eine Tour-de-France-Etappe. Entsprechend bewundernswert schienen mir die unglaublichen Distanzen, die die Profis an der Tour de France zurücklegten. Gerne stellte ich mir die Unmengen an Kalorien vor, die sie während so einer Rundfahrt verbrennen und wieder zu sich nehmen mussten. Mein Vater – Sportlehrer, ehemaliger Leichtathlet und absoluter Sportfanatiker – verfolgte die Tour de France genau wie alle grossen Sport­ereignisse natürlich im Fernsehen. Ich erinnere mich gerne an seine ansteckende Faszination dabei. Mit ihm Sport im TV zu schauen, ist nicht möglich, ohne selbst in Begeisterung zu verfallen. Bis heute be­eindruckt er mich mit einem derart breiten und fundierten Wissen zu fast jeder Sportart, ihren Meilensteinen, ihrer Geschichte und ihren Top-Athleten, dass der Fernseh-Kommentator oft überflüssig scheint. Und ich meine das nicht negativ – meinem Vater zuzuhören, wie er über seine Passion spricht, und dabei all den gestählten Körpern auf dem Bildschirm zuzuschauen, war für mich sogar als Teenager schön und ist es heute noch. Wohl auch deshalb kam selbst beim Velorennen-Schauen nie Langeweile auf, obwohl sich die Etappen den halben Tag lang hinziehen. Für zusätzliche Spannung sorgte, dass mit Michael Schär ein älterer Cousin von mir (mütterlicherseits) Veloprofi war und bei den grossen Klassikern mitfuhr und bei der Tour de France. Für meinen Bruder und mich war es ein aufregendes Spiel, ihn im Bild zu erhaschen, wenn die Kamera über das Fahrerfeld aus bunten Trikots schweifte. Als 2011 mit Cadel Evans sein Team­kollege vom BMC Racing Team sogar den Tour-de-France-Sieg holte, klebte die ganze Verwandtschaft selbstverständlich am TV.

Jana Schmid (31) interessiert sich für Menschenrechte, Migration, Bewegung und Berge. 2022 stieg sie quer in den Journalismus ein, wo sie ihre Liebe fürdie Sprache perfekt mit dem Gelernten aus dem Jus-Studium kombinieren kann.

Ein Strässchen, das das Fürchten lehrt

Die Super Planche des Belles Filles ist ein Strässchen in den Vogesen, das 2022 Schauplatz von gleich zwei Premieren wird: einer für den Radsport historischen, weil dort das Ziel der letzten Etappe der ersten Tour de France Femmes steht. Und einer für mich als Journalistin, weil mich die Redaktion zum ersten Mal an die Tour de France schickt. Und so marschiere ich am letzten Julitag auf einem Wanderweg auf den grasbewachsenen Gipfel. Die Bezeichnung Berg hat er aus meiner Sicht mit seinen 1148 Metern über Meer nicht verdient. Und so er­reiche ich etwas enttäuscht die Ziellinie. Hatten mich doch die fast ehrfürchtigen Bemerkungen der Radroutiniers aus der Redaktion über den Zielort der ersten Tour de France Femmes einen anderen Ort erwarten lassen. Keine Spur von «krass» oder «höllisch», hier steigt ein Volkspicknick. Bei schönstem Sommerwetter fläzen die Schaulustigen im Gras: Auf der «belle Planche» warten Krethi und Plethi auf die «super filles». Derweil nehme ich die Zielgerade in Augenschein – und erstarre. Es ist eine Höllenrampe mit teilweise 24 Prozent. Annemiek van Vleuten kommt aus dem Waldstück am Fusse der Super Planche. Unter ihren schnellen Rädern schmilzt die Höllenrampe zur harmlosen Himmelspforte zum Gesamtsieg. Und als ich auf dem Rückweg vor dem Waldstück noch einmal zum Ziel umdrehe, erhebt sich die Super Planche provozierend vor mir. «Nimms mit mir auf!», scheint sie mir zuzurufen. So pedaliere ich zwei Jahre später durchs kleine Waldstück unterhalb dieses Vogesengipfels. Garstiges Wetter, der kleinste Gang ist längst eingelegt. Die Höllenrampe versteckt sich im Nebel – und erwischt mich kalt. Wo van Vleuten mit zweistelligen Stundenkilometerzahlen unterwegs war, vollziehe ich Gleichgewichtsübungen. Ich sehne mich nach Fans, die mich hochpeitschen, nur um Sekunden später dankbar zu sein, dass niemand diesem Trauerspiel beiwohnt. Und als die Steigungsprozente sinken, fühlt es sich an, als würde die Super Planche mich begnadigen – viel länger hätte ich diesen Kraftakt nicht durchgehalten. Nach 3 Minuten und 3 Sekunden ist alles ins richtige Licht gerückt: Der höllische Charakter der Super Planche und die Parforce-Leistung von Annemiek van Vleuten. Sie hat nur gerade 1:38 Minuten gebraucht.

Pia Wertheimer (50) trat vor Kurzem nach fast zwei Jahrzehnten aus dem Journalismus zurück und ist nun Mediensprecherinbei Skyguide. Wenn sie nicht rennt, fliegt sie auf dem Renn- oder Gravel-Velo ihren Zielen entgegen.

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