Senn macht, Senns Macht
Olivier Senn ist im Schweizer Radsport der Mann mit den Fäden in den Händen. Er ist der Chef der Tour de Suisse, organisierte die Rad-WM in Zürich mit, betreut als Manager rund 30 Fahrer:innen und war bis Ende März im Vorstand vom Verband Swiss Cycling. Wie wird man das? Wie macht man das? Und: Wie lange kann man das?
Text: Christian Zürcher
Fotografie: Maurice Haas
Manchmal zeigt sich die ganze Autorität eines Menschen in einem Nebensatz.
Olivier Senn, ein umgänglicher Mann, 55 Jahre alt, Bart- und Brillenträger, steht in der Küche seines Büros und hantiert am Kolben der Kaffeemaschine herum. Er erzählt von der Tour de Suisse, blickt dann zu David Loosli, dem Sportlichen Direktor der Rundfahrt, und sagt: «Du machst da noch sauber, gell.» Loosli schaut zu Boden, lächelt, keine Widerrede.
«So bin ich aufgewachsen. Man übernimmt auch bei schlechtem Wetter Verantwortung.»
Olivier Senn
Senn ist längst nicht nur Chef über die Küche eines Bürohauses in Zürich. Er leitet die Tour de Suisse, arbeitet als Manager von Fahrer:innen, organisierte die Rad-WM in Zürich mit, war bis Ende März im Vorstand des Verbands Swiss Cycling. Praktisch alle Fäden im Schweizer Radsport laufen bei diesem Mann zusammen. Darum sprechen nicht wenige von Olivier Senn als mächtigster Figur im Schweizer Velosport.
Er schüttelt darob den Kopf. Das Schütteln bekommt bei ihm mehr Gewicht, seitdem er Bart trägt. Eine mächtige Behaarung zieht sich vom Kinn her über seine Wangenknochen. «Es hat während der Pandemie angefangen. Ich war zu faul, den Bart zu rasieren. Heute mag ich ihn», sagt er. Bei Senn beginnt vieles im Kleinen, fast schon zufällig – häufig endet es gross.
Senn wuchs auf dem Land auf, im Fricktal im Aargau, hügelige Gegend, über weite Strecken streng katholisch. Er kommt aus einer religiösen Lehrerfamilie mit zwei Geschwistern, war Ministrant und fuhr täglich mit dem Velo zur Schule. Für den Turnverein war er zu unbeweglich, so sagt er es, also ging er in den Veloclub. Es ist der Anfang eines Lebens, das total dem Radsport verschrieben ist. Ein Indiz dafür: Senn hat kaum noch Freunde ausserhalb des Velozirkels.
Er machte eine als Landwirt und wurde Elite-Amateur, er gewann das Amateurrennen der Züri-Metzgete, eine grosse Sache. Es war ein Flohnerleben, er kam herum, verdiente bis zu 2000 Stutz im Monat, fuhr Rennen in Namibia, Hawaii und Australien, doch für den Profi, da war er zu langsam. Einmal erhielt er ein Angebot, er verzichtete, es wurmte ihn eine Zeit lang, heute ist er froh. Das Team hiess Festina. Hätte auch bös enden können. Die Festina-Affäre 1998 gilt als einer der grössten Doping-Skandale.
Senn war nicht der schnellste Radfahrer, er konnte es aber schon immer mit den Menschen. Seit er klein ist, mag er das Gespräch mit Anderen, heute spricht er fünf Sprachen, Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch und Italienisch. Er ist ein Mann des flotten Spruchs, er trifft aber auch die Zwischentöne. Das ist nicht einfach so dahergeschrieben, das ist belegt.
Es war im Juni 2023. Auf der fünften Etappe der Tour de Suisse verunglückte Gino Mäder bei der Abfahrt vom Albulapass, einen Tag später starb er. Trauer legte sich über die Radsportwelt, die ganze Schweiz schaute auf Senn und die Organisatoren. Krisenkommunikation ist etwas vom Unberechenbarsten. Es gibt Druck von den Medien und Erwartungen von Sponsoren, es ergeben sich Dynamiken, die nicht vorherzusehen sind. Und da sind die Hinterbliebenen, denen ein Organisator gerecht werden muss, vor allem ihnen. In einer solchen Situation werden manche Menschen grösser – und andere kleiner.
Senn wuchs. Vielleicht auch, weil viele um ihn herum kleiner wurden. Er trat nach vorne und beantwortete Fragen, selbst wenn er die Antworten nicht wusste. Er stand hin, wo Andere sich verzogen. Manchmal schauten Journalist:innen und Senn sich an, beide Seiten mit Tränen in den Augen. Senn schaffte es, das Unbegreifliche ein bisschen begreifbar zu machen.
Senn ist zwar schon seit Jahrzehnten mit dem Radsport verbunden, in diesen Tagen aber wurde er zur nationalen Figur. Aus dem Umfeld der Tour de Suisse hört man, wie alle gottenfroh waren, dass Senn nach vorne trat, dass er öffentlich kondolierte, dass er auch intern motivierte und fragte: Könnt ihr noch?
Senn sagt, das Hinstehen sei für ihn nur logisch gewesen. «So bin ich aufgewachsen. Man übernimmt auch bei schlechtem Wetter Verantwortung.»
Die Organisation der Tour de Suisse hat seit Jahren ein kleines Handbuch für Krisenkommunikation. Senn blättert vor jeder Tour darin, sagt aber auch, er habe noch nie ein Medientraining absolviert. Er beantwortete nach dem Unfall Fragen so ausführlich wie möglich und so genau, wie es die Umstände zuliessen. Er machte seine Aufgabe ziemlich gut. Danach rieten ihm mehrere Personen, er solle Seminare in Krisenkommunikation geben.
Senn profitierte damals, wenn man das so sagen darf, davon, dass an der Tortour 2020 ein Teilnehmer von einem Motorradfahrer zu Tode gefahren worden war. Das Ultracycling-Rennen richtet Senn mit seinen Geschäftspartnern von Cycling Limited aus. Er bekam mit, was ein solcher Vorfall für eine Organisation bedeutet, wie man mit Angehörigen umgeht, was man mit Polizei und Medien bespricht, wie Sponsoren reagieren. Alles sehr unangenehm.
Als an der WM 2024 in Zürich Muriel Furrer tödlich verunglückte, war Senn wieder mittendrin, diesmal als Teil einer grossen Organisation, darin vertreten waren Politiker:innen aus Zürich und Funktionär:innen des Weltverbandes UCI. Viele Akteure, viele Meinungen. Senn war nach dem Unfall wieder an vorderster Front, bei den Journalist:innen. Weshalb machte das nicht der OK-Präsident? Warum drängte es ihn an die Mikrofone? Es ist eine provokative Frage. Sie löst etwas in Senn aus. Er schnauft tief ein, will ausholen, sagt dann nur: «Ich bin kein Fan der Politik.»
Eine solche Antwort lädt natürlich ein, sie zu drehen und zu wenden. Offensichtlich war man sich nicht überall einig, offenbar hatten nicht alle Beteiligten das gleiche Handbuch zur Krisenkommunikation im Sack. Man kann das so zusammenfassen: Politiker:innen und Funktionär:innen duckten sich weg und waren auf einmal unansprechbar. Senn hingegen wollte kommunizieren und Druck ablassen. Auch als Folge dieser Uneinigkeit kamen Neuigkeiten stückchenweise an die Öffentlichkeit, oft aufgrund von Recherchen von Newsportalen.
Senn wurde unfreiwillig wieder zur nationalen Figur, sah aber diesmal weniger gut aus. Er gab das Gesicht einer Organisation, die eine Athletin 90 Minuten schwer verletzt im Unterholz liegen lässt. Das ist natürlich stark verkürzt, doch in genau diese Richtung verliefen die damaligen Schlagzeilen.
Senn seufzt. Er geht zum Fenster und nimmt seine E-Zigarette hervor. Früher hat er die herkömmlichen Zigis gepafft, als er aufhörte, sei er nach Aussagen seiner Frau unausstehlich geworden, erzählt er. Nun sind E-Zigaretten seine kleinen Stimmungsaufheller. Sie helfen übrigens auch auf dem Velo am Berg, mit ihnen sei er weniger langsam als mit Parisienne.
Eben, der Fall Furrer. «Das kann man nicht schönreden. Es geht einfach nicht, dass Muriel so lange allein gelassen wurde. Das darf nie mehr passieren.» Auf der diesjährigen Tour de Suisse fahren alle Fahrer:innen mit einem Tracker, es ist eine Sofortmassnahme von Senn, in Eigenregie eingeführt, rund 50 000 Franken teuer. Der Weltverband UCI wartet noch ab, will zuerst die Ergebnisse analysieren.
«Ich habe schon früh die Möglichkeit erhalten, Verantwortung zu übernehmen.»
Olivier Senn
«Ich schickte die Jungs ins Bett – und durfte alsEinziger noch ein Bier trinken.»
Olivier Senn
Senn übernimmt Verantwortung. Woher kommt das? Könne er nicht sagen, sagt Senn, was er aber sagen könne: «Ich habe schon früh die Möglichkeit erhalten, Verantwortung zu übernehmen.»
Senn war 27, als er einer Gruppe von hoffnungslosen Velofahrern Hoffnung gab, auf dem Weg zum Profi. Senn war Sportlicher Leiter des Teams Ericsson-Villiger. Hauptsponsor war ein Hersteller von Handys. Low budget war das damals. Für Senn reichte es nicht einmal für ein Gratisnatel vom Sponsor. Tausend Franken wiederum zahlte er seinen Fahrern pro Monat dafür, dass sie sich quälten und schindeten. Sie konnten sich Träume wie Etappensiege nicht leisten, es ging um das Auffallen und das Nicht-Abfallen. Senn war im Team Psychologe und Kameltreiber. Er stieg mit seinem Team in lumpigen Hotels ab. Er motivierte traurige und müde Gestalten, brachte ihnen Anstandsregeln bei. Es war ein kleines Himmelfahrtsunternehmen – doch für Senn eine prächtige Zeit. «Ich schickte die Jungs ins Bett – und durfte als Einziger Bier trinken.» Man kann Verantwortung auch so sehen.
Senn mag im Übrigen Bier. Es hat ihn meist an gute Orte geführt. In Australien ging er ins Pub und lernte seine heutige Frau kennen. Die meisten Weggefährten, ob eng oder flüchtig, haben schon mit ihm eine Stange getrunken. Selbst Probleme diskutiert der 55-Jährige am liebsten beim Bier. Und Probleme, die gab es immer wieder. Radsport ist neben allen Freuden problembehaftet. In so vielen Dingen. Eines der ersten grossen Probleme erlebte er bei Ericsson-Villiger. Die Hoffnungslosigkeit war damals offenbar so zermürbend, dass einer seiner besten Fahrer, Urs Graf, zu Anabolika griff. Es kam raus, es stand im «Blick», der Titel lautete: «Graf war gedopt wie ein Ochse!» Senn musste ein erstes Mal hinstehen und erklären. «Das war unangenehm, vor allem, weil ich von der Sache erst aus dem ‹Blick› erfuhr.»
Die nächsten Aufgaben im Radsport kamen. Und wenn es grad nicht zum Leben reichte, arbeitete Senn dank einer Zweitlehre als Buchhalter beim Atomkraftwerk Leibstadt. Heute sind solche Brotjobs nicht mehr nötig. Der Schweizer Radsport ist ohne Senn fast nicht mehr denkbar. Wie wird man der mächtigste Mann im Schweizer Velosport? Oder anders formuliert: Wie kommt man an all diese Ämter? Senn arbeitet auch als Berater für andere Rennen und organisiert zudem die Tour of Guangxi, einer Rundfahrt in China mit bescheidenem sportlichem Stellenwert.
Senns Mitarbeiterin Célina Rovescala sagt, er könne schlecht Nein sagen. Sein Geschäftspartner Joko Vogel sagt, er habe einen grossen Gestaltungswillen und wäre mit seinen herausragenden Führungsqualitäten ein guter CEO einer grossen Firma geworden. Sein einstiger Chef Armin Meier sagt, die vielen Ämter hätten mit Senns Ego zu tun. Es sei über die Jahre stetig gewachsen, wohl in Wechselwirkung mit der eigenen Bedeutung. Zu diesem Ego gehöre auch, dass Senn überall dabei sein wolle. «Vielleicht aus fast schon naiver Liebe zum Radsport», sagt Meier, «sicher aber auch wegen der damit verbundenen Anerkennung.»
Bei so vielen Mandaten liegt der Vorwurf der Vetterliwirtschaft in der Luft, besonders weil sich manche Ämter auch inhaltlich überschneiden. Von Mauscheleien war hinter vorgehaltener Hand schon die Rede. Thomas Peter, der Geschäftsführer des Radsportsverbandes, gab diesen Vorwürfen der «NZZ am Sonntag» weiter Stoff, als er sagte, dass man «überhaupt kein Interesse» habe an weiteren Mandaten von Senn. Das war harter Tobak. Dem «Gruppetto» wollte Peter keine Auskunft geben.
Senn hat die Aussagen von Peter mitbekommen, natürlich, sonderlich Glücksschübe erfuhr er keine, das zeigt seine Mimik. Er werde das mit Peter intern besprechen. Wahrscheinlich bei einem Bier.
Dann wird er grundsätzlich. «Bei Interessenkonflikten trete ich immer in den Ausstand. Das ist belegt.» Zudem habe er den Einfluss oder die Ämter nicht direkt gesucht, er sei meist angefragt worden. Aber ja, manchmal sei er zu begeisterungsfähig, und ja, gereizt hätten ihn die Aufgaben schon.
Senn mag es, wenn das Adrenalin durch den Körper schiesst, wenn das Projekt am Tag X funktionieren muss. Senn ist allerdings längst nicht nur ein schlechter Nein-Sager, er kann sein Dasein schon in die eigene Hand nehmen, mit der nötigen Portion Unverschämtheit. Als die Tour de Suisse 2014 eine neue Leitung bekam, bewarb sich Senn mit einer SMS beim damaligen Chef Armin Meier, mit dem er bereits zu Amateur-Zeiten Rennen gefahren war. Er schrieb ihm: «Und einen, der die Arbeit macht, hast du auch schon?» Der Schmäh funktionierte, Meier stellte ihn an, zwei Jahre später war Senn der Chef der ganzen Organisation.
«Ich mache das gerne, ich sehe einen Sinn. Aber in drei, vier Jahren müssen wir profitabel sein.»
Olivier Senn
Senn macht, Senn reisst an, Senn setzt um. Er verschiebt auch mal am Startort Absperrgitter und sagt einem Polizisten, was für ein Tschumpel er sei. Manchmal gehen mit Senn die Rösser durch – bis irgendwann wieder die Erziehung einsetzt und er sich am Ende des Tages für seine Worte entschuldigt.
Eine Woche lang sitzt er jeweils im Auto des Renndirektors, Puls auf 180, alle Antennen ausgefahren, wehe, ein Polizist kommt ihm blöd. Er fährt in Schweizer Städte und Dörfer, baut auf und ab, immerzu, wie ein Wanderzirkus. Und am Abend sieht man ihn in zuverlässiger Regelmässigkeit an der Bar bei einer Stange Bier. Er diskutiert mit Einheimischen und Radlegenden über das, was ihm über all die Jahre so stark an Herz gewachsen ist. Der Gesprächsstoff ist unerschöpflich – und seit ein paar Jahren um ein leidiges Thema reicher. Wie geht man mit Radfahrer:innen um, die immer schneller fahren können und immer verwegenere Geräte unter dem Hintern haben?
Senn hat nun bei Mäder und Furrer zweimal den Worst Case erlebt. Es waren keine engen Kurven, sondern Hochgeschwindigkeitspassagen. Unvorhergesehenes ist da immer potenziell tödlich. Doch was macht man dagegen? Kann man überhaupt etwas dagegen machen? Senn hat versucht, Änderungen in Gang zu bringen. Zusammen mit der UCI, gemeinsam mit den Teams. Er klingt desillusioniert. Es geht alles so langsam. «Es muss wahrscheinlich noch einmal zwei Tote geben, bevor etwas geschieht.» Er findet es daneben, dass nur die Organisatoren schuldig sein sollen, wenn es ein Unglück gibt. «Doch niemand spricht von der Verantwortung der Teams», sagt er. Er meint: Sie sind es, die die Ziele formulieren, sie geben den Druck der Sponsoren weiter, sie funken und peitschen ihre Angestellten über die Berge. «Darf denn heute ein Fahrer sagen: Ich habe Schiss gehabt? Oder: Es war mir das Risiko nicht wert?» Senn bezweifelt es.
Die Fahrer:innen kennt er mittlerweile gut, einerseits als Tour-de-Suisse-Chef, andererseits als Manager. Senn und seine zwei Agentenkollegen betreuen Fahrer:innen wie Stefan Küng, Stefan Bissegger oder Noemi Rüegg, total sind es 30. Jeden Winter verbringt er drei Monate in Spanien. Seine Frau und er würden die Kälte nicht mögen, sagt er. Der Zufall will es, dass an ihrer Winterdestination viele Teams ihre Aufbautrainings abhalten. Wenn man schon einmal da ist, kann man ja miteinander reden, über Marktwerte und Aufgaben. Senn erhält Provisionen im höheren einstelligen Prozentbereich vom Jahreslohn seiner Klient:innen. «Reich wird man nicht», sagt er. Doch durch die Einnahmen ist er auf der windgeschützten Seite.
Senn ist ein guter Erzähler, man hört ihm gerne zu, doch wenn er von den vergangenen Tagen erzählt, von den schwierigen Momenten und den traurigen Ereignissen, dann wirkt er auf einmal müde. Man fragt sich, wieviel Male könnte er das noch, dieses Über-sich-hinaus-Wachsen, dieses Alles-auf-sich-Nehmen? Sein Geschäftspartner Joko Vogel erzählt, wie er manchmal das Gefühl habe, dass Senn ausgelaugt sei. Vor allem die Todesfälle hätten ihm viel Energie abverlangt. Auf der Geschäftsstelle heisst es, Senn sei vor und während der WM an den Anschlag gekommen, man habe es ihm angesehen. Senn selbst sagte zum WM-Start, er hätte noch zwei Monate gebrauchen können. Heute habe er sich von den Strapazen wieder erholt.
Kennt er das? Ein Gefühl von Müdigkeit? Vielleicht auch ein Gefühl der Vergeblichkeit? Senn liegt auf dem Barbier-Stuhl in Aarau, als er die Frage hört. Er ist hier zur Pflege. Der Bart ist über die Jahre nicht nur gewachsen, das Wachstum hat ebenso dazu geführt, dass Senn den Bart ab und zu kultiviert. Doch, doch, er schlafe gut, er erhole sich gut, Müdigkeit sei kein Thema, sagt er. Tatsache ist aber auch, dass er diesen Frühling sein Vorstandsamt bei Swiss Cycling abgab. Es sei zu viel geworden, er wolle mehr Zeit für die Familie und die Tour de Suisse aufwenden.
Senn hat vier Kinder, die Tour de Suisse ist nach zehn Jahren unter ihm noch nicht profitabel. Die Sache mit den Sponsoren ist ein Krampf. Kritiker sagen, er habe sich wegen seiner vielen Ämter verzettelt, es fehle ihm der Fokus und dem Anlass auch an Innovation. Senn ist da anderer Meinung. Er kann aus dem Stand zehn Minuten darüber sprechen, weshalb der Radsport ein Einnahmenproblem hat, weshalb man den Sport nie und nimmer mit Fussball oder Tennis vergleichen dürfe. Stellt man sich bei diesem konstanten Gegenwind nicht manchmal die Sinnfrage? «Nein», sagt er kurz und findet den Vergleich mit Sisyphos gar nicht so abwegig – ein bemitleidenswerter Mann, der den Stein der Arbeit ein ums andere Mal den Hügel hinauf rollt. «Ich mache das gerne, ich sehe einen Sinn. Aber in drei, vier Jahren müssen wir profitabel sein.» Ähnliches hat er im Gespräch schon vor acht Jahren gesagt. Er sei zuversichtlich, dass das gelingt. Hat er damals auch schon gesagt.
Der Barbier legt Tücher auf, cremt, schäumt und föhnt den Bart. Neun von zehn Kunden würden bei der einstündigen Behandlung einschlafen, erzählt er.
Kurze Zeit später geschieht das Unerhörte. Olivier Senn, der Beschäftigte und Geschäftige, der Nimmermüde, nickt ein.