«Die Fahrer müssen ins Gondeli steigen»
Die Organisation der Tour de Suisse ist in diesem Jahr ausverschiedenen Gründen besonders kompliziert. Der Technische Leiter Jonas Leib erklärt, wo die grössten Knacknüsse liegenund wie er sie geknackt hat.
Interview: Corsin Zander
Wir erreichen Jonas Leib zwei Monate vor der Tour de Suisse im Auto. Da sitzt er in letzter Zeit häufig. Als Technischer Leiter ist er für den Rennbetrieb im Start- und Zielbereich verantwortlich. Er koordiniert sich mit den lokalen Organisationskomitees und schaut sich die jeweiligen Gegebenheiten zusammen mit seine zwei Bereichsleitern und Mitarbeitenden von SRF genauestens vor Ort an. Denn sowohl am Start als auch am Ziel muss bei einer Etappe einiges aufgebaut werden. Allein für die Infrastruktur an einem Ziel sind es vier Sattelschlepper und zehn Lieferwagen, die das Material hinschaffen: den Zielbogen, ein Podium, einen Jury-Wagen, die TV-Kameras, ein Village für alle Fans und Absperrgitter mit einer Länge von über einem Kilometer. Ausserdem braucht es Platz für einen Lastwagen, auf dessen Ladefläche sich der mobile VIP-Bereich befindet, die Teambusse und Autos, in denen die Funktionär:innen dann das Rennen begleiten. Dafür, dass am Renntag alles am richtigen Ort steht, ist Jonas Leib verantwortlich.
Jonas Leib, wie gross ist Ihr Mitspracherecht bei der Streckenplanung?
Ich kann sicher meine Meinung dazu sagen, aber die Planung liegt beim Rennleiter David Loosli. Vorgaben kann ich nur bei der Zieleinfahrt machen.
Dieses Jahr bringt die Strecke einige Knacknüsse mit sich. Die vierte Etappe endet in Italien. Was bedeutet das für Sie?
Die Abläufe während der Rundfahrt sind ähnlich. Aber ich war im Vorfeld mit dem Zoll in Kontakt. Wir verschieben viel Material, das man eigentlich bei der Aus- und Einreise verzollen müsste.
Eigentlich?
Ja, wir haben mit dem Zoll ein vereinfachtes Verfahren besprochen. Ich gebe ihnen genau an, wie viele akkreditierte Personen mit wie vielen Fahrzeugen zur Tour de Suisse gehören und was sie geladen haben. Dann können diese zu einer vorgegebenen Zeit, ohne angehalten zu werden, den Zoll passieren. Solche Vereinbarungen brauchen eine Vorlaufzeit. Als vergangenes Jahr der Nufenenpass während der Tour de Suisse noch geschlossen war, diskutierten wir, ob wir über Italien ins Wallis fahren sollen. Wir entschieden uns dagegen. Deshalb haben wir dann alles auf den Zug verladen und sind durch den Furkatunnel hindurch.
Das mussten Sie spontan organisieren?
Wir haben einen Plan B für alle möglichen Szenarien wie Strassen- oder Pässesperrungen bereit, weil so etwas immer passieren kann.
Die Strecken werden in der Schweiz unter anderem von bewaffneten Polizist:innen gesichert. Können diese auch einfach nach Italien fahren?
Für die Streckensicherung sind David Loosli und sein Team zuständig. Aber er hat mir gesagt, dass es für die 20 Polizist:innen, die mit Motorrädern vorausfahren, ein spezielles Abkommen geben wird. Lediglich die rund 100 Soldat:innen, die uns in der Schweiz unterstützen, werden das Land nicht verlassen dürfen.
Italien hat ja eine grosse Radsportkultur und ist grosse Rundfahrten gewohnt. Der Giro d’Italia macht auch immer wieder mal in der Schweiz Halt.
Das habe ich auch im Umgang mit dem Organisationskomitee in Valchiavenna bemerkt. Da wurde über Strassensperrungen viel weniger diskutiert als in der Schweiz. Die Strasse von Chiavenna nach Maloja hoch wird einfach für fünf bis sechs Stunden gesperrt.
Kommen wir zur zweiten grossen Knacknuss der Streckenplanung: Am Sonntag geht in Küssnacht das Frauenrennen zu Ende, und die Männer starten.
Da ist der Zeitplan tatsächlich sehr eng. Bei einer normalen Etappe beginnen wir beim Ziel um 7.30 Uhr mit dem Aufbau. Ab dem Mittag haben wir Zeit für kleine Änderungen, und um 15 Uhr beginnt das offizielle Programm. In Küssnacht starten die Frauen am Morgen und sind am Mittag im Ziel. Dann brauchen alle, die den Rennbetrieb begleiten, eine Pause, damit sie für den Start der Männer bereit sind. Wir haben bei den Frauen nicht nur die gleiche Infrastruktur wie bei den Männern, sondern auch den gleichen Staff. Gleichzeitig finden aber die Siegerinnenehrungen bei den Frauen statt und bei den Männern die Teamvorstellung vor dem Start.
Da sollten sich die Siegerinnen dann nicht zu lange Zeit lassen, bis sie zur Ehrung kommen.
Da mache ich mir keine grossen Sorgen. Bei den Frauen klappt das meistens sehr gut.
Bei den Männern nicht?
Da habe ich bei einzelnen schon etwas mehr Mühe. Berüchtigt war etwa Peter Sagan, der Rekordsieger an der Tour de Suisse, der sich immer sehr lange Zeit liess, bis er für die Siegerehrung bereit war. Oder 2023 in Villars musste ich bei Mattias Skjelmose deutlich werden. Er hatte sich sehr lange Zeit genommen nach seinem Sieg und wollte sich von mir nichts sagen lassen.
Wie hört sich das an, wenn Sie deutlich werden?
Ich habe ihm versucht zu erklären, dass ich dafür verantwortlich bin, dass die Siegerehrung zeitnah zur Zieleinfahrt stattfinden kann, weil die TV-Sender sonst nicht länger warten. Für die Sponsoren ist es wichtig, dass die Siegerehrungen ausgestrahlt werden. Er hat das nicht recht einsehen wollen. Ich habe dann mit Gregory Rast gesprochen, dem Sportlichen Direktor in Skjelmoses Team Lidl-Trek. Rast verstand mich und sagte, junge Fahrer würden etwas überheblich, wenn sie eine Etappe gewonnen haben. Zwei Tage später entschuldigte sich Mattias Skjelmose dann bei mir.
Kommen wir zur dritten grossen Herausforderung bei der diesjährigen Tour de Suisse: Die letzte Etappe der Männer ist ein Bergzeitfahren von Beckenried hoch zur Stockhütte. Dort dürfte es sehr eng werden.
Das ist richtig, das Rennen führt eine relativ schmale Strasse hoch, und oben haben wir nicht viel Platz. Normalerweise stellen wir bis 500 Meter vor der Ziellinie Gitter mit Werbung hin. Doch das wird auf dieser engen Strasse nur auf 175 Metern möglich sein.
Gibt es da keine Vorgaben vom Weltradsportverband UCI?
Bei den Bergetappen ist die UCI weniger streng und macht Ausnahmen. Wenn es flach ist, machen sie sehr viele Vorgaben. Etwa, dass es auf den letzten Kilometern keine Hindernisse wie etwa Verkehrsinseln auf der Strasse haben darf. Das ist für uns eine riesige Herausforderung, weil die Strassen in den Städten und Dörfern nicht für die Tour de Suisse gebaut sind.
Und was sagen die Sponsoren, wenn bei der Stockhütte nicht alle ihre Werbungen zu sehen sind?
Sie zeigen zum Glück grosses Verständnis. Etwas komplizierter ist der Aufbau des Zielbereichs, weil wir auf der engen Strasse nicht alles Material hochfahren können. Wir müssen da einen kleineren Wagen für die Jury und auch einen anderen Zielbogen als sonst verwenden. Wir werden deshalb die Sieger in Emmetten ehren. Dort hat es einen grossen Dorfplatz.
Wie kommen denn die Fahrer wieder runter? Es ist ja ein Zeitfahren, und da startet ein Fahrer nach dem anderen.
Sie müssen mit ihrem Velo in ein Gondeli steigen. Weil sie sonst den anderen Fahrern in die Quere kommen, die nach ihnen starten. Das können wir insbesondere bei einem Zeitfahren nicht zulassen.
Jonas Leib ist 42 Jahre alt. Seit 2022 ist er als Technischer Leiter für die Logistik sowie den Auf- und Abbau an den Start- und Ziel-orten zuständig. Dafür hat er rund 50 Personen unter sich. Zuvor war er zehn Jahre lang beim Schweizer Radsportverband Swiss Cycling als Disziplinverantwortlicher für die Strasse und Bahn zuständig. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Luzern.