Wie viel Zeit habe ich, um gesund zu werden?

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Text: Cybèle Schneider

Foto: Mirjam Kluka

Es ist Renntag. Ich erwache am Morgen mit Halsschmerzen und fühle mich matt. Es stellt sich die Frage: Kann ich heute trotzdem an den Start gehen? Ein Teil von mir sagt sofort Ja – ich bin Rennfahrerin, ich liebe Wettkämpfe, und ich richte mein ganzes Leben auf die Rennen aus.

Der andere Teil sagt Nein – erste Krankheitssymptome, morgen könnte es noch schlimmer sein, ein Start gefährdet meine Gesundheit.

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Krank im Bett? Lektüre zum gesund werden.!
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Was die Entscheidung zusätzlich erschwert, ist der Druck. Der Druck, für das Team zu fahren, die Sponsoren, die Unterstützenden. Für Freund:innen, die extra angereist sind. Für all jene, die an meiner Vorbereitung mitgearbeitet haben.

Ich weiss, ich bin nicht allein mit dieser Frage. Diesen Sommer verlor die aktuell stärkste Schweizer Fahrerin Marlen Reusser das pinke Leadertrikot am Giro d’Italia, weil sie in den letzten Renntagen an einem Infekt litt und nicht mithalten konnte. Zwei Wochen später musste sie die Tour de France Femmes nach der ersten Etappe aufgrund eines weiteren Infekts aufgeben. Auch der niederländische Star Mathieu van der Poel beendete wegen einer Lungenentzündung die Tour de France vorzeitig. Solche Beispiele gibt es viele – doch wie es Athlet:innen in diesen Momenten geht, bleibt oft unausgesprochen.

Im Leistungssport ist der Körper das Arbeitsgerät. Steigt er aus, kann dies Auswirkungen auf Sponsoren, Verträge, Selektionen, Unterstützungsgelder und im Extremfall auf die gesamte Karriere haben. Das erhöht zusätzlich den Druck, möglichst rasch genesen und wieder leisten zu müssen.

Gleichzeitig weiss ich: Lege ich zu früh wieder los, riskiere ich nicht nur das nächste Rennen, sondern die ganze Saison. Das Richtige zu tun, ist eine mentale Gratwanderung.

Und es ist ein Rennen gegen die Zeit. Wer eine Saison lang nicht abliefert, wird schnell abgeschrieben. Der Leistungssport ist ein befristetes Geschäft: Ab einem gewissen Alter ist Schluss, und der Nachwuchs steht bereit, wird gefördert und bevorzugt. Gleichzeitig braucht der Körper manchmal mehr Erholung, als der Kalender es erlaubt. Geduld mit sich selbst steht dann im Widerspruch zum System. Und doch ist sie entscheidend.

Verletzungen und Infekte fördern Geduld und Resilienz. Sie lehren, den Prozess über den Erfolg zu stellen – und genau diese Zutaten sind für langfristigen Erfolg essenziell. Für mich ist das Wichtigste in diesen Momenten, bei mir zu bleiben. Der Körper weiss, was richtig ist. Ratschläge und Meinungen gibt es viele – von «totale Ruhe» bis hin zu «Schmerzmittel nehmen und starten» habe ich schon alles gehört. Eine Person erzählte mir sogar stolz, wie sie mit 40 Grad Fieber ein Rennen gewonnen habe.

Persönlich hat mich der Leistungssport über die Jahre gelehrt: Krank zu starten, bringt nichts. Heute entscheide ich mich konsequent für meine Gesundheit. Die Frage am Morgen des Renntags bleibt hart – doch die Antwort ist klar. Denn oftmals ist Geduld zu haben die mutigste Entscheidung.

Cybèle Schneider (28) musste diese Saison gesundheitsbedingt auf viele Rennen verzichten. Sie fährt für das Strassenteam Spar CTO sowie für das Schweizer Nationalteam auf der Bahn.

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