Bin ich zu schwer für die Tour de Suisse?

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Text: Cybèle Schneider

Foto: Mirjam Kluka

Ich freute mich wie ein Kind an Weihnachten, als ich vergangenes Jahr erfuhr, dass mein damaliges Team Bepink-Bongioanni zur Tour de Suisse eingeladen wurde. Eine Rundfahrt im eigenen Land ist für uns Athlet:innen eine besondere Ehre. Es gilt als ungeschriebenes Gesetz im Radsport, dass Fahrer:innen bei Heimrennen eingesetzt werden. Das steigert die Medienpräsenz für das Team. Und Familie sowie Freund:innen können an der Strecke mitfiebern. Besonders bewegend war für mich, dass die Route durch den Geburtsort meines kurz davor verstorbenen Grossvaters führte. Ich wollte an diesem Tag für ihn fahren und ihn, der so gerne selbst auf seinem Rennvelo unterwegs gewesen war, stolz machen.

Doch es kam anders. Drei Wochen vor dem Start teilte mir mein damaliger Teamchef mit, er werde mich nicht aufstellen. Ich sei zu schwer für die bergige Rundfahrt. Eine objektive Grundlage hatte er für seine Einschätzung nicht. Er kannte weder mein Gewicht noch meinen Körperfettanteil und schätzte mich lediglich vom Aussehen her als «zu schwer» ein.

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Lange galt im Radsport die Faustregel: Je leichter, desto schneller am Berg. Viele Athlet:innen hungerten sich deshalb auf ein Minimalgwicht herunter. Dabei wurde oft vergessen, dass ein chronisches Energiedefizit nicht nur die Leistungsfähigkeit mindert, sondern auch gesundheitliche Folgen haben kann – bis hin zu Essstörungen. Mein damaliger Teamchef propagierte diese Mentalität aktiv. Für ihn waren wir fast alle «zu schwer». An Ruhetagen gab es kaum etwas zu essen, nach dem Rennen lediglich einen Recovery-Shake, abends Salat mit magerem Poulet. Ich beobachtete, wie einige meiner Teamkolleginnen ein gestörtes Essverhalten entwickelten.

Dabei ist die Sportwissenschaft längst in einem neuen Zeitalter angekommen. Die letzte Revolution im Radsport heisst «Carbolution»: Kohlenhydrate machen schnell. Natürlich bleibt das Verhältnis von Leistung zu Körpergewicht (Watt pro Kilo) relevant – insbesondere am Berg. Doch der Fokus hat sich verschoben: Entscheidend ist, wie viel Leistung auf die Pedale gebracht wird. Und sie steigt mit der richtigen Energiezufuhr. Im Rennen nehmen Fahrer:innen inzwischen locker 90 bis 200 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde zu sich, und nach dem Rennen gilt es, die Speicher möglichst schnell wieder ausreichend zu füllen, damit sich der Körper gut erholen kann.

War ich also wirklich zu schwer für die Tour de Suisse? Wohl kaum. Doch die Worte meines damaligen Teamchefs nagten an meinem Selbstverständnis. Ich suchte eine Ernährungsberaterin auf, die meinen Körper auf seine Zusammensetzung untersuchte. Das Ergebnis: Alles im grünen Bereich. Ich bin Sprinterin auf der Strasse und Bahnspezialistin, mein athletischer Körper ist mein Kapital.

Das Team fuhr ohne mich die Tour de Suisse. Drei von sechs Fahrerinnen erreichten das Ziel. Mit dem Ausgang des Rennens hatte mein damaliges Team nichts zu tun. Grosse mediale Präsenz? Fehlanzeige.

Und mein Grossvater? Der ist bestimmt trotzdem stolz auf mich.

Cybèle Schneider (28) war 15 Jahre lang Triathletin und fährt nun für das Schweizer Nationalteam auf der Bahn. Sie ist 1.65 Meter gross und 59 Kilogramm schwer.

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