Sind wir alle gedopt?

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Foto: Mirjam Kluka

Es klingelt um sechs Uhr morgens, ich werde jäh aus dem Schlaf gerissen. Vor meiner Tür steht Gina. Verschlafen bitte ich sie herein. Gina heisst eigentlich anders, aber ihr richtiger Name tut hier nichts zur Sache. Sie besucht mich regelmässig. Doch sie ist weder meine Freundin noch meine Affäre und sie bringt mir leider auch kein Frühstück ans Bett.

Gina ist gekommen, um mir eine Urin- und Blutprobe abzunehmen, denn sie ist von der Schweizer Anti-Doping-Behörde. Mittlerweile kenne ich Gina ein wenig. Sie erzählt mir von ihren Hobbys und ihrem Hund. Auch wenn ich nie weiss, wann Gina mich das nächste Mal besuchen kommt, weiss ich doch, dass ich sie wieder sehen werde.

Wegen der Dopingskandale der vergangenen Jahrzehnte ist das Misstrauen gegenüber uns Radsportler:innen in der Gesellschaft immer noch gross. Doch das Kontrollsystem ist eng. Für jeden Tag meines Lebens muss ich in einer App mindestens einen Ort eintragen, wo Gina oder jemand Anderes von der Anti-Doping-Behörde mich finden kann. Eine heisse Nacht bei einer Affäre? Das geht schon, doch ich muss den Wohnort der Person im System eintragen und mich darauf gefasst machen, dass es jederzeit klingeln und Gina vor der Tür stehen könnte.

Privatsphäre sieht anders aus. Das ist der Preis für einen sauberen Sport. Gina schaut mir genau beim Pinkeln zu, damit keine andere Substanz als mein Urin in den Becher geht. Während ich auf dem Klo sitze und mich auf das Pinkeln konzentriere, erzählt sie mir von ihrem Hund oder fragt mich nach meinem nächsten Rennen. Und wenn es mal sehr lange dauert, bis meine Hemmungen vor ihr abgebaut sind, dreht sie den Wasserhahn auf.

Ich bin froh, dass in der Schweiz so strikt kontrolliert wird. Ich weiss, dass das nicht überall so ist. Es gibt Länder, in denen die Anti-Doping-Behörden über weniger Geld verfügen und deshalb weniger grossflächig und häufig testen können. Ob Athlet:innen in diesen Ländern mehr dopen, weiss ich nicht. Doch ich traue in dieser Hinsicht niemandem. Betrogen wird in der Gesellschaft überall, und der Radsport ist ein Abbild dieser Gesellschaft.

Darum vermute ich, dass es auch im Frauenpeloton welche gibt, die verbotene Substanzen nehmen. Was ich weiss, ist, dass alle das Maximum im legalen Bereich ausreizen, um möglichst gute Leistungen abzurufen. Auch ich nehme vor dem Start häufig einen Shot Koffein, da es mich wacher und aufmerksamer macht. Doch ich trank auch vor den Prüfungen an der Uni oder am Montagmorgen im Büro jahrelang einen doppelten Espresso, um diesen Effekt zu spüren.

Wer im Radsport dopt, geht beträchtliche Risiken ein: das Risiko, erwischt zu werden und das Gesicht vor Freund:innen, Fans und Familie zu verlieren. Das Risiko, langfristige gesundheitliche Schäden und Nebenwirkungen davonzutragen. Doch auch das Risiko, sich selbst im Spiegel nicht mehr ins Gesicht blicken zu können. Und genau deshalb bin ich jedes Mal froh, wenn Gina mich aus dem Schlaf reisst, um mir beim Pinkeln zuzuschauen.

Cybèle Schneider (28) ist Quereinsteigerin. Sie war 15 Jahre lang Triathletin und fährt nun für das Schweizer Nationalteam auf der Bahn.

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