Auf der Flucht – Johan Jacobs ist dem Feld voraus
Das Ausreissen gilt im Radsport als heroischer Akt. Die Realität ist oft weniger heldenhaft. Kaum einer weiss das besser als der Schweizer Veloprofi Johan Jacobs, der viele Rennen in der Fluchtgruppe gefahren ist, aber noch kein einziges gewonnen hat.
Text: Corsin Zander
Fotografie: Anouk Flesch
Die Beine schmerzen, er möchte fluchen. Über sich selbst, den Beruf, das Wetter, die Gegner. Aber er schweigt. Und trampelt weiter. Bloss nichts anmerken lassen. Auf dem Töff vorne hält der Mann schon wieder die Schiefertafel hoch. Die Zahl darauf ist noch einmal kleiner geworden. Der Vorsprung auf das Feld schmilzt. Noch 15 Kilometer, noch 10, noch 5, und dann wird die Fluchtgruppe eingeholt. Alles umsonst. «Tamisiech!», flucht Johan Jacobs in sich hinein.
«Das Flüchten ist eine poetische Episode.»
Roland Barthes, Soziologe
Der Schweizer Veloprofi hat das schon oft erlebt. In der vergangenen Saison hat er von den über 10 000 gefahrenen Rennkilometern fast 1200 Kilometer in einer Ausreissergruppe verbracht. Nur gerade 15 andere Fahrer weltweit haben noch mehr Fluchtkilometer gesammelt. Und in keinem Rennen ist Jacobs mit einer Ausreissergruppe ins Ziel gekommen.
Das Flüchten sei die ruhmreichste aller Bewegungsarten, «eine poetische Episode», schrieb 1957 der französische Soziologe Roland Barthes in seinem Aufsatz über die Tour de France als Epos. Die grösste Velorundfahrt kenne in Wirklichkeit nur vier Fortbewegungsarten: Führen, Verfolgen, Flüchten, Einbrechen. Die Flucht sei deshalb so ruhmreich, weil sie eine freiwillige Einsamkeit veranschauliche, schrieb Barthes.
Velofahrer wie Fausto Coppi oder Bernard Hinault wurden zu Helden, weil sie ausreissen konnten, ohne wieder eingeholt zu werden. Tadej Pogačar ist an den vergangenen Weltmeisterschaften in Zürich 100 Kilometer lang alleine zum Sieg gefahren. Eddy Merckx, selbst der grösste noch lebende Held des Radsports, sprach in der französischen Zeitung «L’Équipe» von einem «unglaublichen Ereignis in der Geschichte des Radsports». Doch solche Erfolge sind die Ausnahme. Soziologe Barthes bezeichnete die Flucht als «wenig effektiv, da man fast immer wieder eingeholt wird». Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die meisten Fluchtgruppen scheitern nach wie vor.
Sich vom Peloton abzusetzen, ist schwierig. Zu Beginn eines Rennens versuchen dies viele und es wird zum Teil Dutzende Kilometer in einem hohen Tempo gefahren, ohne dass jemand wirklich wegkommt. Hat sich eine Ausreissergruppe gebildet, lässt das Peloton sie oft erst einmal gewähren. «Heute erhält man in der Regel so gegen fünf Minuten Vorsprung», sagt Jacobs. Ab 60 Kilometern vor dem Ende beginnt das Feld, das Tempo zu erhöhen. «Eine Faustregel besagt: Das Peloton kann innerhalb von zehn Kilometern etwa eine Minute auf die Spitzengruppe aufholen.»
Zu früh möchte man die Ausreisser nicht einholen, weil sich dann nochmals eine Fluchtgruppe bilden könnte. Also werden sie oft auf den letzten Kilometern eingeholt. Wie etwa auf der Polenrundfahrt 2024, als Jacobs zusammen mit zwei Anderen bereits nach wenigen Kilometern ausgerissen war und 15 Kilometer vor dem Ende noch fast zwei Minuten Vorsprung hatte. Doch dann kam diese lange gerade Strasse, und das Feld machte mächtig Tempo. Knapp zehn Kilometer vor dem Ende wurden sie eingeholt, nachdem sie 177 Kilometer lange in der Spitzengruppe gefahren waren. «Das ist sehr bitter», sagt der 28-Jährige. Natürlich wolle er immer durchkommen. Aber der Tagessieg sei nie das einzige Ziel.
Es gibt noch drei weitere mögliche Gründe, in eine Fluchtgruppe zu gehen: Renntaktisch ist es vorteilhaft, einen Fahrer ganz vorne mit dabei zu haben, damit dieser sich auch zurückfallen lassen könnte, um seinen Leader zu unterstützen. Die anderen beiden Gründe haben mit Marketing zu tun: entweder für den Trikot-Sponsor, weil man in der Spitzengruppe oft vor den TV-Kameras zu sehen ist, oder für sich selbst.
Jacobs ist auf diese Saison hin vom spanischen Team Movistar zur französischen Equipe Groupama-FDJ gewechselt. Er sei 2024 nicht wegen des Wechsels so oft in der Fluchtgruppe gewesen, sagt Jacobs: «Meistens bestimmt der Sportliche Leiter, man solle die Flucht versuchen.»
Dabei fällt die Wahl häufig auf Jacobs, weil er regelmässig den richtigen Moment erwischt. Wann dieser Zeitpunkt ist, lässt sich nicht klar bestimmen. Je nach Streckenführung gibt es Stellen, die sich besser dafür eignen, weil sie technisch schwierig zu fahren sind oder sich die Strasse verengt, doch es kommt vor allem auf das Timing an. «Den richtigen Moment zu erwischen, ist eine Frage des Instinkts», erklärt Jacobs. Oder man suche sich das Hinterrad eines Fahrers aus, der es besonders häufig in Fluchtgruppen schafft. «Oft merke ich, wie sich andere Fahrer an meinem Hinterrad orientieren», sagt er.
Jacobs kommt es entgegen, dass er 1.93 Meter gross und 78 Kilogramm schwer ist. Solche körperliche Voraussetzungen helfen, davonzukommen. So bringt er mehr Kraft auf die Pedale als schmächtige Fahrer. Doch noch wichtiger als die Beine ist der Kopf. Jacobs hat schon früh gelernt, wie wichtig es ist, stets alles zu geben. Er erinnert sich an seine ersten Rennen, als ihn seine Mutter Eva Jacobs, eine Schweizerin, und sein belgischer Vater Patrick Jacobs als Kind zu den Brugger Abendrennen im Kanton Aargau begleiteten. Als er da einmal taktisch fuhr, um Kraft zu sparen, und die Rechnung nicht aufging, habe sein Vater mit ihm geschimpft: «Flandrien maakt oorlog!»
«Nun fahren wir 40 Sekunden Pulls, 400 Watt.»
Johan Jacobs
Wortwörtlich kann man das mit «ein Flandrien macht Krieg» übersetzen. Der Vater wollte seinem Sohn mitgeben, dass Menschen aus der belgischen Region Flandern immer kämpfen sollten. Und der kleine Johan wollte ein echter Flandrien sein. Also kritzelte er mit einem Bleistift «Flandrien maakt oorlog» auf ein Stück Papier und zeichnete daneben den flämischen Löwen. «Diesen Papierstreifen klebte ich mir auf den Lenker und gab von da an immer Vollgas.»
Seine ersten grossen Erfolge kamen rasch. Jacobs wurde im Radquer zweimal Schweizer Meister und gewann in Belgien mehrere Rennen. Als er 2019 zum U23-Strassenteam von Lotto-Soudal stiess, zeigte er auch da gute Resultate. Beim Nachwuchsrennen von Paris–Roubaix verpasste er den Sieg 2019 als Zweiter hinter Tom Pidcock knapp. Ein Jahr später wurde er vom Team Movistar unter Vertrag genommen.
Bei den Profis sei der Radsport viel stärker ein Teamsport als bei den Junioren, sagt Jacobs. «Jeder hat in einem Team seine Rolle – und jene des Helfers gefällt mir gut.» Natürlich höre er manchmal noch den 13-jährigen Johan in sich, der jedes Rennen gewinnen will, aber heute sei er im Ziel auch zufrieden, wenn er seinen Job erfüllt habe. Oft bestehe dieser darin, in die Fluchtgruppe zu fahren. «Und da bin ich manchmal gar nicht so weit von einem Sieg entfernt», sagt Jacobs.
Am nächsten kam er einem grossen Erfolg 2022 beim Frühjahrsklassiker Dwars door Vlaanderen. «Ich habe mich an diesem Tag gar nicht gut gefühlt, war erkältet, hatte Kopfschmerzen. Und dennoch bin ich beim ersten Versuch gleich in eine erfolgversprechende vierköpfige Fluchtgruppe gekommen», erinnert er sich. «Meine Beine waren stark und wir harmonierten gut.»
Harmonie heisst, man ist sich einig. Es wird nicht viel gesprochen in der Spitzengruppe. Manchmal ergreift Jacobs das Wort und sagt: «Nun fahren wir 40 Sekunden Pulls, 400 Watt.» Übersetzt heisst das, jeder Fahrer fährt 40 Sekunden mit hohem Druck auf den Pedalen im Wind und lässt sich dann ablösen, um sich im Windschatten der anderen Fahrer zu erholen, bis er dann wieder an der Reihe ist. So kann auf flachem Terrain eine durchschnittliche Geschwindigkeit von rund 50 Stundenkilometern gehalten werden.
Eine Gruppe von vier bis acht Fahrern ist laut Jacobs ideal. Sind es mehr, sei die Chance grösser, dass es Fahrer gibt, die lieber einmal eine Ablösung an der Spitze auslassen, um Kräfte zu sparen: «In einer Fluchtgruppe gibt es keine Freundschaften», erklärt Jacobs. Es herrsche eine skeptische Grundstimmung, weil jeder befürchtet, zu viel Kraft zu verbrauchen, die dann am Ende fehlen könnte. Häufig lassen sich egoistische Fahrer nicht abschütteln: «Ist ein Fahrer schwach, kann man das Tempo einfach erhöhen, und er fällt zurück. Bei jemandem, der sich schont, aber eigentlich stark ist, funktioniert das nicht», sagt Jacobs.
«In Belgien kann ich mir mein Leben als Radprofi eher leisten.»
Johan Jacobs
In einer kleineren Gruppe sei es einfacher, sich zu einigen und gut miteinander zu harmonieren. So war das an der Dwars door Vlaanderen, als Jacobs zusammen mit Nils Politt, Kelland O'Brien und Aaron Verwilst in der Spitzengruppe fuhr. Jacobs hielt sich trotz Erkältung gut. «Im Feld zu fahren, ist oft anstrengender als in der Fluchtgruppe», sagt er. Im Feld könne man das Tempo kaum mitbestimmen und müsse mitziehen. Da sei es psychisch schwieriger, dranzubleiben, als in der Euphorie einer Spitzengruppe. Hinter Jacobs und den drei Anderen zerfiel das Peloton beim Rennen 2022 in mehrere kleine Gruppen. «Damit rechnest du bei diesen Klassikern in Belgien. Als Fluchtgruppe wirst du zumeist noch eingeholt, aber nicht mehr vom ganzen Feld, und so erreicht man dann dennoch einen Platz unter den ersten Zehn, was auch schon ein grosser Erfolg ist», sagt Jacobs. Dies gelang Politt und O’Brien, die Fünfter beziehungsweise Siebter wurden. Jacobs hingegen hatten im letzten Anstieg die Kräfte verlassen. Er wurde am Ende 24.
«Das war ein völliger Witz! Er hatte nicht einmal Einblick in meine Trainingsdaten!»
Johan Jacobs
Es hätte ihm viel bedeutet, hier zu gewinnen. Denn Jacobs ist im Jahr 2016 nach Belgien ausgewandert. Zusammen mit seiner Frau Charlotte Messelis hat er in Westende bei Middelkerke an der Nordseeküste ein Haus gekauft. Vor einem Jahr ist ihr Sohn Ralph auf die Welt gekommen. «Das war für mich auch eine Art Flucht vor der Schweiz, denn in Belgien ist das Leben günstiger. So kann ich mir mein Leben als Radprofi eher leisten», sagt Jacobs.
Von seinem Wohnort fährt er mit dem Velo in unter zwei Stunden nach Waregem, wo sich das Ziel von Dwaar door Vlaanderen befindet. Damals ist Jacobs kurz vor dem Ziel eingebrochen. Ihm ist jene Bewegung widerfahren, die der französische Soziologe Barthes in seiner Abhandlung «den Vorboten der Aufgabe» nannte. Für Jacobs ist Aufgeben aber nie eine Option. Nicht nur, weil er schon als Kind ein Krieger sein wollte.
Jacobs erzählt eine zweite Episode, die ihn bis heute prägt. Als er in einem belgischen Radquer-Team fuhr, bewertete der Teambesitzer am Ende der Saison die Junioren mit Noten von 1 bis 10 in verschiedenen Kategorien. Johan Jacobs bekam bei Talent eine 9, bei der Arbeitsmoral aber bloss eine 2. «Das war ein völliger Witz! Er hatte nicht einmal Einblick in meine Trainingsdaten!», schimpft Jacobs. Er verzieht noch heute verärgert das Gesicht, wenn er die Geschichte erzählt. So unverständlich und unbegründet die Bewertung für ihn war, so sehr hinterliess sie bei ihm Spuren. Wenn er heute mit seinem Trainer eine vierstündige Trainingsfahrt vereinbart und die Uhr 3:59 Stunden anzeigt, wenn er zuhause ankommt, dann fahre er mindestens nochmals zehn weitere Minuten. «Ich mache nie zu wenig!», sagt Jacobs trotzig.
Schickt ihn sein neuer Sportlicher Leiter in eine Fluchtgruppe, wird er auch in dieser Saison wieder alles dafür tun. Besonders motiviert ist er bei den belgischen Frühjahrsklassikern. Wie hiess es auf dem Lenker seines ersten Rennvelos: «Flandrien maakt oorlog.»