«Ich fühle mich wiederbelebt»

Tom Pidcock gewann zweimal Olympiagold im Mountainbike, setzt aber auf Strassenrennen.Er war in einem Top-Team, wechselte aber ins zweitklassige Schweizer Team Q36.5.

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Der Abfahrtskünstler Tom Pidcock fühlt sich wohl in seiner neuen Rolle beim Team Q36.5.

Text: Pascal Ritter

Fotografie: Jonas Weibel

Für Tom Pidcock ist es ein spezieller Moment, als wir ihn am letzten Februartag im belgischen Waregem treffen. Sein Team Q36.5 hat in der kleinen Stadt unweit von Gent im gediegenen Parkhotel die Zimmer bezogen. Das sogenannte Opening Weekend steht an. Am nächsten Tag startet mit dem Rennen Omloop Nieuwsblad der erste Klassiker des Jahres. Nun gilt es ernst, auch wenn natürlich vorher schon in Australien, Spanien und an anderen wärmeren Orten Rundfahrten und Eintagesrennen stattgefunden haben.

Pidcocks Form ist gut, das hat er zu diesem Zeitpunkt schon bewiesen. Der Brite gewann vier Rennen und zum ersten Mal überhaupt in seiner Profikarriere eine ganze Rundfahrt. Gegenüber einer kleinen Runde von Medienschaffenden, die sich um ihn versammelt hat, spielt er die Siege zwar herunter; die Konkurrenz auf der AlUla-Tour, die er gewann, oder der Valencia-Rundfahrt, wo er Dritter wurde, sei überschaubar gewesen. Dennoch waren diese Erfolge für ihn offenbar eine Genugtuung.

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Der 25-Jährige braucht den Erfolg, um zu zeigen: Er gehört immer noch zur Elite. Denn seine Saison begann mit einem brutalen, wenn auch selbstgewählten, Abstieg: Tom Pidcock verliess mit Ineos Grenadiers ein absolutes Top-Team, das seit 2010 sechsmal die Tour de France gewonnen hat, und heuerte bei Q36.5 an, einem Schweizer ProTeam, das auf Einladungen zu den grossen Rennen angewiesen ist. Zwar sind die Chancen des Teams, an eine Tour de France oder einen Giro d’Italia eingeladen zu werden, dank Pidcock sprunghaft gestiegen, dennoch ist die Saisonplanung für ihn Anfang März noch völlig offen. Als wir ihn fragen, ob er an der Tour de Suisse fahren wird, antwortet er: «Es kommt darauf an, ob und zu welcher Grand Tour wir eingeladen werden.» Schon vor dem Treffen in Waregem sprachen wir mit ihm ausführlich über seinen Wechsel und über die beliebten Youtube-Filme, die ihn als halsbrecherischen Abfahrer zeigen.

Tom Pidcock, Sie haben offen davon gesprochen, dass das letzte Jahr für Sie hart war. Nun haben Sie das Team gewechselt. Wie geht es Ihnen heute persönlich nach dem Wechsel und den ersten Rennen mit der neuen Mannschaft?

Ich fühle mich wiederbelebt. Mit dem Neustart kam neue Motivation. Ich habe nun zusätzliche Energie, um auf all die Details zu achten. Die professionelle Arbeit des Teams hat mich beeindruckt. Das hat einen grossen Unterschied für mich gemacht.

«Darauf habe ich keine einfache Antwort. Ich konzentriere mich auf die Strasse und bin voll motiviert, aber meine grösste Liebe ist das Mountainbike.»

Tom Pidcock

Hat das auch mit der Verantwortung zu tun, die Sie nun haben? Sie sind alleiniger Leader des Teams. Bei Ineos Grenadiers wurde Ihre Führungsposition zum Beispiel während der Tour de France letztes  Jahr in Frage gestellt.

Ja. Ich geniesse diese Art von Verantwortung und das Einbezogensein. Ich fühle mich ernst genommen und bin, wie soll ich sagen, wichtig für das Team. Ich stehe in der Schuld des Teams und es in meiner. So gedeiht eine Beziehung.

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«Ist das ein Schlafsack?», kommentiert Tom Pidcock das improvisierte Fotostudio im Hotel im belgischen Waregem.

Q36.5 ist ein Schweizer Team. Wie gut kennen Sie die Schweiz?

Ich war schon oft in der Schweiz, als Kind kam ich zum Skifahren. Ich erinnere mich aber nicht mehr genau, wo das war. Und dann bin ich Mountainbike-Rennen gefahren und ein paar Mal die Tour de Suisse. Ich mag die Schweiz, es ist sehr sauber, das gefällt mir.

Apropos Mountainbiken: Im Sommer findet die WM in der Schweiz statt. Werden Sie teilnehmen?

Das hängt davon ab, an welche Strassenrennen unser Team eingeladen wird. Ich würde natürlich gerne kommen, aber unser wichtigstes Ziel ist es, die Mannschaft voranzubringen. Wenn wir also an ein WorldTour-Rennen dürfen, hat das Vorrang.

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Tom Pidcock inspiziert beim Fotoshooting die Umgebung des Hotels. Daneben stehen teure Räder an den Müllcontainer angelehnt.

Sie wurden das schon oft gefragt, aber uns interessiert der aktuelle Stand. Was ist Ihre liebste Disziplin im Radsport: Strasse, Quer oder Mountainbike?

Darauf habe ich keine einfache Antwort. Ich konzentriere mich auf die Strasse und bin voll motiviert, aber meine grösste Liebe ist das Mountainbike.

Sie haben vor einem Monat die AlUla-Tour in Saudi-Arabien gewonnen. Es ist Ihr erster Gesamtsieg bei einer Rundfahrt in Ihrem Profileben. Was bedeutet dieser Erfolg für Sie?

Es war kein Rennen auf höchstem Niveau, aber es ist ein Schritt weiter auf meinem Karriereweg. Ich habe viel gelernt. An manchen Tagen stand im Seitenwind alles auf dem Spiel. Das war für mich eine neue Erfahrung.

«Man darf nicht fahren, als wäre es das letzte Rennen. Ich gehe Risiken ein, aber sie sind kalkuliert. Geht man weiter als das, wird es ungemütlich.»

Sie sagten einmal, Sie würden sich auf Eintagesrennen konzentrieren und nicht mehrtägige Rundfahrten ins Auge fassen. Nun haben Sie bewiesen, dass Sie auch eine Rundfahrt gewinnen können. Verändert das nun Ihre Sicht auf den Rennkalender?

Nein, das verändert meine Sicht auf die Dinge nicht. Mit diesem Team habe ich die grösste Motivation, an jedem Rennen mein Bestes zu geben und das Team anzuführen. Es fühlt sich nun definitiv anders an als früher.

Wir würden gerne mehr über Sie erfahren. Können Sie uns bitte drei Adjektive nennen, die Sie als Person beschreiben.

(überlegt lange) Das Wort «fokussiert» schwirrt mir im Kopf herum, aber es ist nicht, das was ich meine. Vielleicht engagiert, entschieden, zielstrebig.

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Uns kommt auch noch das Wort angstfrei in den Sinn, wenn ich an Ihre Abfahrten denke.

Das würde ich nicht sagen. Für mich bedeutet angstfrei auch dumm. Man tut etwas, ohne über das Risiko nachzudenken. Um etwas zu erreichen, muss man die Risiken kennen. Man muss genau wissen, worauf man sich einlässt.

Heisst das, dass Sie, wenn Sie Ihre legendären schnellen Abfahrten machen, manchmal auch Angst verspüren?

Nein, nicht wirklich. Würde ich Angst verspüren, hätte ich meine eigenen Grenzen überschritten, dann wäre ich ein unkalkuliertes Risiko eingegangen. Und an diesem Punkt müsste ich aufhören. Man darf nicht fahren, als wäre es das letzte Rennen. Ich gehe Risiken ein, aber sie sind kalkuliert. Geht man weiter als das, wird es ungemütlich.

«Ich spüre hier keinen Druck. Es ist alles positiv. Alles, was wir erreichen, ist ein Erfolg. Es ist wirklich schön, in einer Position zu sein, in der es nur nach oben geht.»

Tom Pidcock

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie einen Alpenpass hinunterrasen?

Ich bin dann mit meinen Gedanken ganz bei dem, was ich tue. Ich denke über den besten Zeitpunkt nach, um zu bremsen, über die Linie, die ich nehme. Im Kopf berechne ich den Halt, den mir meine Reifen in der Kurve geben. Ich vergleiche es mit dem Rennfahren in einem Auto. Kleinste Anpassungen können einem mehr Halt geben, und man kommt schneller aus der Kurve. Es kommt auf die Linie an, die man wählt, auf den Teil der Strasse, auf dem man rollt, auf die Wölbung der Strasse. Je mehr Halt, desto besser.

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Die Mütze seines Sponsors bleibt auf. Vertrag ist Vertrag.

Die Videos Ihrer Abfahrten werden Hunderttausende Male auf Youtube angeschaut. Wie finden Sie das eigentlich?

Ich finde das gut, die Videos zeigen, wer ich bin. Rennfahren ist auch Unterhaltung. Nicht nur Kraft, auch Technik ist ein wichtiger Teil des Radfahrens. Ich mag diesen Aspekt.

Was halten Sie vom Argument, dass Ihre Abfahrtsvideos andere Fahrer dazu verleiten könnten, ebenfalls so schnell zu fahren und sich dabei zu übernehmen, was zu Unfällen führen könnte?

Ich finde, wenn Leute inspiriert sind von meinen Videos, es dann selber ausprobieren und sich verletzen, sind sie selber dafür verantwortlich. Eine andere Sache ist es, wenn Fahrer durch ihr Verhalten während der Rennen andere Fahrer gefährden.

Ein Vermerk bei Ihren Videos à la «Nicht nachahmen» ist also nicht nötig.

Nein. Ich bin dagegen, dass man Menschen in Luftpolsterfolie einwickelt und ihnen gefährliche Dinge verbietet. Das ist lächerlich. Dann könnten wir gerade so gut unsere Häuser mit Watte auskleiden und gar nichts mehr erlauben. Da bin ich komplett dagegen. Ich bin stolz darauf, dass ich Menschen inspiriere, Spass zu haben und sich selbst herauszufordern. Klar, einige werden stürzen, aber zu stürzen heisst auch, zu lernen. Es gibt zudem auf Youtube auch Videos von viel gefährlicheren Dingen. Zum Beispiel von Leuten, die in der Ukraine aufeinander schiessen. Meine Abfahrtsvideos sind dagegen harmlos.

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In letzter Zeit sind einige Rennfahrer:innen auf Abfahrten schwer gestürzt. Es gab auch Tote. Von Rennorganisatoren wird erwartet, dass sie gefährliche Strassen meiden und keine Zielankünfte nach Abfahrten einbauen. Wie sehen Sie das als einer der besten Abfahrer im Radsport?

In der Schweiz sind die Abfahrten ziemlich gefährlich. Die Strassen sind sehr sauber, man hat freie Bahn, dann taucht plötzlich eine Kurve oder eine Mauer auf. Es sieht schön aus, ist aber nicht ideal, um darauf Radrennen zu fahren. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu vorsichtig werden. Velorennen wurden immer schon auf diesen Strassen gefahren. Klar sind wir schneller unterwegs als früher, und es ist mehr Geld von den Sponsoren im Spiel. Mehr Geld heisst auch mehr Druck, weil es mehr zu verlieren gibt. Das Risiko ist also grösser geworden, aber wir müssen aufpassen, was wir fordern, sonst finden Radrennen irgendwann nur noch in abgesperrten Motorrad-Rundkursen statt. Und das will niemand.

Was können die Organisator:innen von Radrennen für die Sicherheit tun?

Sie sollten alle Möglichkeiten nutzen, um die Rennen sicherer zu machen. Wenn das Ziel am Ende einer Abfahrt liegt, muss man genügend Streckenposten aufbieten, die den Fahrern die gefährlichen Stellen signalisieren. Sie sollten zudem die Fahrer schon vor dem Rennen auf die Gefahren hinweisen. Solche Hinweise können Unfälle verhindern. Sicherheit ist wichtig, aber wir müssen vorsichtig sein, nicht zu sehr über gefährliche Abfahrten zu jammern.

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Während Pidcock im improvisierten Fotostudio posiert, waschen Betreuer draussen die Rennvelos des Teams.

Sie haben einmal gesagt, Sie hätten die letzte Ausgabe der Tour de France nicht geniessen können.

Es lag am Umfeld. Meine Tour de France war geprägt von Druck und Erwartungen. Und alles für den Nutzen und die Ziele von Anderen.

Nun stehen Sie unter einem anderen Druck. Sie sind der Star und der klare Leader des Teams Q36.5. Wie erleben Sie das?

Ich spüre hier keinen Druck. Es ist alles positiv. Alles, was wir erreichen, ist ein Erfolg. Und alles, was wir aufbauen, ist ein Pluspunkt. Es ist wirklich schön, in einer Position zu sein, in der es nur nach oben geht. Das Team hat noch einen langen Weg vor sich. Da liegt noch Potenzial brach. Früher ging ich oft zu Rennen, war der Favorit, und alles, was ich tun konnte, war, die Erwartungen zu erfüllen oder eben nicht zu erfüllen. Es ist schön, dass wir jetzt die Möglichkeit haben, neu anzufangen und etwas aufzubauen.

Der Nachteil ist nun aber, dass Sie in einem ProTeam sind, das nicht automatisch startberechtigt ist an den Rennen der WorldTour, also den wichtigsten Rennen im Radsport.

Ja, es ist ein ganz anderes Szenario als früher. Wir sind nun auf Einladungen zu Rennen angewiesen. Aber wir sind bisher überall eingeladen, wo ich hinwill. Und jetzt wäre es einfach schön, eine GrandTour bestätigt zu bekommen. Aber das ist nicht wirklich ein Problem, um ehrlich zu sein.

Glauben Sie, Ihr Team bekommt eine Einladung zur Tour de France 2026?

Das ist unser Ziel. Ich habe die Tour de France in den letzten Jahren nicht genossen. Deshalb bin ich froh, dass wir ein Jahr aussetzen. Ich will aber zurück an die Tour de France, denn sie ist das grösste und speziellste Rennen der Welt. Auch wenn es mir zuletzt keinen Spass gemacht hat, möchte ich mein neues Team an dieses Rennen bringen.

Kann dieser Plan aufgehen? Die Wild-Card-Einladungen sind beschränkt.

Ja, es wird eine schwierige Aufgabe. Aber die Saison hat erst gerade begonnen. Wir werden sehen, wie weit wir kommen.

Ihr Transfer von Ineos Grenadiers zu Q36.5 war spektakulär. Wie kam es dazu?

Ich kannte Teambesitzer Ivan Glasenberg und Teamchef Doug Ryder schon lange und habe mit ihnen gesprochen. Und natürlich habe ich eine gute Beziehung zu Pinarello (Ivan Glasenberg ist Besitzer der italienischen Velomarke, Anm. d. Red.). Sie haben mir ein Angebot gemacht. Ich werde nicht ins Detail gehen, aber am Ende fragten sie: «Warum kommst du nicht in unser Team?» Sie kamen beide zu mir nach Hause, setzten sich an meinen Küchentisch und legten mir dar, warum ich zu ihnen kommen sollte. In diesem Moment sagte mein Herz: «Das ist das Team, zu dem ich gehen werde.» Sie wollen das Beste für mich, sie werden alles tun, was nötig ist, um mich zu unterstützen, und mir die Freiheit geben, das zu tun, was ich liebe, und zu sein, wer ich bin. Zu diesem Zeitpunkt war mein Herz auf Q36.5 fixiert, und mein Kopf hat lange zwischen anderen Optionen abgewogen, und am Ende war es die beste Option und ich bin überglücklich, dass ich mich so entschieden habe.

Ivan Glasenberg und Doug Ryder kamen zu Ihnen nach Hause? Wie war das?

Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Sie haben sich die Mühe gemacht, den Weg nach Andorra auf sich zu nehmen, um mich zu sehen. Und das sagt schon genug darüber aus, wer sie sind und was ihnen mein Wechsel bedeutet.

Welches Rennen wollen Sie dieses Jahr unbedingt gewinnen?

Ich schaue mal, was sich ergibt.

Während des Fotoshootings spricht Pidcock wenig, wirkt ernst. Es ist so, als wäre er mit dem Kopf schon beim Rennen des nächsten Tages. Als auch die Bilder, die im Freien geschossen werden, im Kasten sind, nähert sich ein belgischer Fan, der vor Aufregung zittert. Geduldig signiert Pidcock eine Autogrammkarte und bedankt sich knapp für die Glückwünsche. Dann verschwindet er wieder im Hotel.

Aus seinem Umfeld heisst es, er sei in einer seltsamen Stimmung. Das sei immer so, wenn er sich vor einem Rennen gut fühle. Der Rennverlauf von Omloop Nieuwsblad verhindert am nächsten Tag aber, dass er sich wirklich beweisen kann. Gegenwind sorgt dafür, das der Sieger im Sprint ausgemacht wird, und das ist nicht seine Stärke. Eine Woche später fährt er bei Strade Bianche auf den zweiten Platz.

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