Halb Wein, halb Wasser – zu Besuch bei der Eroica

An einem Oktobersamstag reihen sich frühmorgens Tausende Nostalgiker:innen ein, um prüfen zu lassen, ob ihr Velo alt genug ist für die historische Ausfahrt Eroica. Weit und breit keine Bremsscheibe und keine elektronische Schaltung. Stattdessen kreativ frisierte Bärte und sorgfältig am Velohüetli entlang geflochtene Zöpfe.

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Genau so wichtig wie das Rennen ist die Verpflegung.

Text: Valentin Grünig

Fotografie: Claude Gasser

«Hey, spinnst du, das ist nicht original», schimpft Giulio. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen über dem toskanischen Dorf Gaiole in Chianti. Mit geschulten Augen kontrolliert der Mittfünfziger Hunderte Velos. Giulio zeigt auf den Lenker eines jungen Mannes. «Die Bremszüge müssen aussen verlegt sein!» Der Angesprochene steht im von Motten durchlöcherten Molteni-Trikot da und zittert nun nicht mehr nur wegen der frühmorgendlichen Kälte. Er nimmt all seinen Mut zusammen: «Natürlich ist das original, das ist alles Campagnolo!» Giulio schüttelt den Kopf, schmunzelt aber gleichzeitig und winkt den Eingeschüchterten durch, ohne ihm seine hölzerne Startnummer vom Rahmen zu knipsen. Er darf mit seinem Velo an der Nostalgie-Ausfahrt Eroica teilnehmen.

Giulio war noch ein Kind, als die Räder, die er heute als Helfer des Anlasses kontrolliert, gerade neu auf den Markt kamen. Auf jede strenge Begutachtung, egal ob Liebhaberstück oder Rosthaufen, folgt ein auflockernder Spruch: «Buon viaggio!» oder «In bocca al lupo!», was so viel bedeutet wie «Gute Reise!» beziehungsweise «Hals- und Beinbruch!». «Es geht bei der Eroica vor allem darum, gemeinsam die Natur und den guten Wein zu geniessen», sagt Giulio, «Ich bin ja nicht hier, um Polizist zu spielen.» Nur bei Carbonvelos verstehe er keinen Spass. «Die nehme ich ohne Diskussion raus», sagt er bestimmt.

«Natürlich ist das original, das ist alles Campagnolo!»

Teilnehmer

Die Kirchturmuhr schlägt halb fünf. Die letzten mit Stirnlampen bestückten Lederriemenhelme werden zurechtgerückt. «Los gehts!», «Ci vediamo!», «Let’s go!», hört man aus dem Peloton, das sich nun in Bewegung setzt.

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Das Dorf Gaiole in Chianti unweit von Siena putzt sich für die Eroica heraus.

Aus 52 Ländern sind die knapp 8000 Veloenthusiasten und 1000 Veloenthusiastinnen angereist, um mit ihren alten Göppeln über die unbefestigten Landstrassen der Toscana zu holpern. Der Jahrgang der «Vintage-Bikes» darf dabei das Jahr 1987 nicht überschreiten. Was bedeutet: Die meisten Rahmen wurden aus schwerem Stahl gefertigt, haben aussen verlegte Bremszüge, und die Schalthebel sind nicht am Lenker befestigt, sondern am Unterrohr. Bis vor wenigen Jahren war es zudem Pflicht, mit Schlauchreifen zu fahren. Wer selbst schon einmal einen solchen Collé neu aufleimen musste, kann nachvollziehen, warum diese Regel aufgehoben wurde.

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Giulios Hände sind schmutzig geworden bei der Kontrolle der Velos.

Das Castello di Brolio, eine mittelalterliche Burg, krönt den ersten mit Reben und Olivenbäumen bewachsenen Hügel der Ausfahrt. Vor den letzten Kurven hoch zum Bergpreis befindet sich auch schon die erste der berühmten Verpflegungsstationen an der Strecke. Hier gibt es Wein, Bier und trockene Sandwiches mit Salami und Pecorino. Die Eroica sei schliesslich kein Rennen, sondern eine Genussfahrt, sagen die Helfer:innen, alles Frauen und Männer aus der Gegend, die sichtlich Spass daran haben, den Teilnehmer:innen in der Morgendämmerung den ersten Wein auszuschenken. Noch mehr Spass an der traditionellen Verpflegung haben nur die Eroici selbst. Wie einst Fausto Coppi und seine Widersacher lindern sie ihre Schmerzen mit Alkohol. Auch schon um 6 Uhr morgens. Eine Minderheit von Ambitionierten, die mit den rasierten Beinen, füllt ihre Aluminiumbidons halb mit Rotwein, halb mit Wasser und isst ihr Panino auf dem Velo.

Alle Anderen lassen sich Zeit und legen eine Pause ein. So auch eine Gruppe von vier hoch gewachsenen Belgiern in einheitlichen Leibchen der Biermarke Duvel, die um einen Tisch stehen und sich bereits den zweiten Becher eingiessen. Es ist nicht ganz klar, ob sie mit ihrem mehrfachen lauten Zuprosten in breitestem Flämisch Aufmerksamkeit erregen wollen oder ob es schlicht nicht mehr leiser geht.

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Drei Teilnehmer posieren nach dem Anstieg zum Castello Brolio mit ihrem Tridem. Das Aussehen ist an der Eroica mindestens ebenso wichtig wie das Velofahren.

Direkt nach dem Frühschoppen führt eine steile Strasse das Peloton durch einen Wald das letzte Stück bis zur Burg hinauf. Die Kurven sind mit tellergrossen Bienenwachskerzen beleuchtet. Einige verziehen aufgrund der hohen Steigungsprozente und der unvorteilhaften Übersetzungen das Gesicht, Andere sind schon abgestiegen und schieben. Das mag auch eine taktische Überlegung sein, denn sie alle haben zu diesem Zeitpunkt je nach Kategorie noch 125 oder 200 Kilometer vor sich. Auf dem Gipfel bestaunen vier Amerikaner mittleren Alters mit strahlenden Augen die Festung. «Hey man, how’s it going? I am John and we are the Rippers from Boston», stellt sich einer von ihnen ungefragt vor. «We came all the way here only for this event!», fährt er voller Stolz fort. John und seine Entourage bringen je ein erstklassiges italienisches Stahlvelo zurück in die Nähe seiner Produktionsstätte. Sie tragen alle dieselben, neu produzierten, The-Rippers-Jerseys im Retro-Look. Auf deren Rücken steht ihr Motto für die Ausfahrt geschrieben: «It may be cold but at least it’s dark.»

«It may be cold but at least it’s dark.»

Motto der Rippers aus Boston

1997 waren es nicht einmal hundert Teilnehmer:innen, welche die Eroica ins Leben riefen als Protest gegen die Asphaltierung der weissen Kiesstrassen in der Region. Von Jahr zu Jahr nahmen immer mehr Menschen an dem Event teil. 2007 wurde das heute als Neoklassiker berühmte Profirennen «Strade Bianche» lanciert. In den folgenden Jahren kamen Franchises der Eroica in anderen Regionen Italiens, in Grossbritannien, den USA und Japan hinzu. Für das Original der Eroica in Gaiole meldet man sich heute nicht mehr einfach so an. Die Teilnehmer:innenzahl ist auf 9000 beschränkt, und die Tickets sind jedes Jahr restlos ausverkauft. Kritische Stimmen meinen, die Veranstaltung habe ihren Charme verloren und sei zu kommerziell geworden. Purist:innen bedauern zudem, dass die Einlasskontrolle für Fahrräder von Jahr zu Jahr durchlässiger geworden sei.

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Dabei sein ist alles. Medaillen gibt's für alle.

Es sei früher schon schwieriger gewesen, sein Velo durch die Kontrolle zu bringen, meint auch Giulio. Er rechnet mit ungefähr hundert Startnummern, die er am heutigen Tag konfiszieren muss. Ohne Startnummer bekommen die Fahrer:innen keinen Stempel in ihr Büchlein, das beweist, dass sie eine der fünf Strecken absolviert haben.

Während die Wolltrikottragenden zwischen den Zypressen unterwegs sind, ist in Gaiole der Vintage-Teile-Markt im Gange. An den unzähligen Ständen werden mehr vom italienischen Radstar Gino Bartali (1914 – 2000) höchstpersönlich gefahrene Bianchis in allen Grössen verkauft, als dieser in seiner Karriere je zu Gesicht bekam. Dazwischen duftet es von den Essensständen nach Schweineschwarte, Panino-Porchetta, einer lokalen Spezialität. Am Nachmittag treffen die ersten Bezwinger:innen der Eroica ein. Die meisten Gesichter, von weissem Staub und Schweiss bedeckt, lächeln weinselig. Eine Gruppe angetrunkener, johlender Jungs mit Lederhelmen schleppt einen Harass selbst produzierten Prosecco durch die Menge. Sie schaffen dies nicht mehr ganz, ohne links und rechts die Besucher:innen des Veloflohmarkts anzurempeln. Als Entschuldigung verschenken sie ab und zu eine Flasche aus ihrem Harass und prosten den Angerempelten fröhlich zu.

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Manche erreichen erst nach Einbruch der Dunkelheit das Ziel.

Sie torkeln weiter in Richtung Dorfplatz. Auf dem Weg dorthin verkaufen inzwischen alle Geschäfte bis auf die Apotheke Bier, Aperol Spritz und Chianti über die Gasse. Die Prosecco-Leute steuern direkt auf DJ Franky Aperitivo zu. Der steht in einem Fiat 500 mitten im Geschehen und bespielt durchs Dachfenster sein Equipment. Er macht das sichtlich nicht zum ersten Mal. Von Adriano Celentano über Laura Pausini bis hin zu ABBA dröhnt zuverlässig Hit um Hit aus den Boxen. Die Zigarette ist Frankys linkem Mundwinkel dabei mindestens so treu wie die Sonnenbrille der Nase. Der rechte Mundwinkel bewegt sich playbackmässig zu den Liedern.

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Saugut!

Es dämmert, und immer mehr Eroici erreichen Gaiole. Man sieht ihrer Gangart an, dass sich in Sachen Sattelergonomie und Velohosen seit 1987 einiges getan hat. Einzelne legen sich im Zielraum auf den Boden und lagern ihre von Krämpfen geplagten Beine hoch. Alle bekommen eine Medaille umgehängt. Wer die lange Strecke geschafft hat, erhält zusätzlich eine Flasche Chianti in edler Kartonverpackung.

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Bei der Party am Abend auf dem Dorfplatz von Gaiole in Chianti sind die Teilnehmer:innen noch enthusiastischer dabei wie zuvor auf dem Velo.

Der Dorfplatz ist mittlerweile rappelvoll. Fünf Ladies and Gentlemen in britisch wirkenden Röcken und Knickerbockern tanzen Discofox – so gut es halt geht in den alten Lederveloschuhen und mit den dazugehörigen Blasen an den Füssen von der Rundfahrt. Daneben stehen die Italiener mit dem Prosecco. Auch die vier hoch gewachsenen Belgier in ihren Duvel-Trikots haben sich unterwegs offenbar reichlich verpflegt und Gaiole inzwischen wieder erreicht. Als wären Englisch, Italienisch und Flämisch ein und dieselbe Sprache, verständigen sich die drei Grüppchen miteinander. Sie klopfen sich immer wieder auf die Schultern, als würden sie sich seit Jahren bestens kennen. Liebevoll schenken die Prosecco-Jungs den Neuankömmlingen ein. Am liebsten direkt aus der Flasche in den Mund.

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