Feld, Wout, Wiese – bei Kevin Kuhn in Belgien

Der frischgebackene Schweizermeister Kevin Kuhn nimmt uns mit in die Heimat von Wout van Aert, wo er während der Radquer-Saison lebt. Eine Fahrt auf schlammigen Wegen und über sandiges Terrain.

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Selten sieht man während der Radquer-Saison so klare Schatten in Belgien. Wir haben Glück. Als wir Kevin Kuhn in Herentals besuchen, scheint die Sonne. (Bild: © Anouk FLESCH, all rights reserved)

Text: Laurent Aeberli

Fotografie: Anouk Flesch

Die Winter muss Kevin Kuhn in Belgien verbringen. So kann er sein Leben als Radquerprofi finanzieren. Im veloverrückten Land finden in den drei grössten Serien 31 Rennen statt, sieben davon allein während der Zeit um Weihnachten und Neujahr, in Belgien Kerstperiode genannt. In der Schweiz sind es – in der ganzen Saison – sechs. Und die Preisgelder sind ebenfalls um ein Mehrfaches höher. Im Radquer darf man neben dem Lohn zusätzlich auch die Prämien (2500 Euro gibts für einen Sieg bei der beliebten Superprestige-Serie, in der Schweiz 400 Franken) und Antrittsgelder (bis zu 20 000 Euro für die Superstars; Kuhn erhält einen Bruchteil davon) behalten. «So lässt es sich gut leben», sagt der 26-Jährige.

Wir wollen es genauer wissen, reisen ins Pommesland und bestellen schon beim Warten auf das Einchecken im Hostel ein süsses belgisches Kirschbier. So lässt es sich auch gut leben.

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«Mein Strava-Profil habe ich nur, um Wout van Aerts Routen zu sehen.»

Kevin Kuhn

Tags darauf, es ist ein sonniger Donnerstag Ende Oktober, treffen wir Kuhn zu einer 40 Kilometer langen Gravel-Runde. Wir starten mit einem Kaffee in Herentals, einem Radquer-Mekka 60 Kilometer nördlich von Brüssel, unweit des Service-Course von Soudal-Quick-Step. Auch Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel ist ihm hier schon begegnet, erzählt Kuhn bei einem doppelten Espresso. Wout van Aert wohnt noch immer in der 28 000-Einwohner:innen-Stadt, in der er gross geworden ist. Kevin Kuhn trainiert auf den gleichen Strecken wie der dreimalige Quer-Weltmeister: «Mein Strava-Profil habe ich nur, um Wouts Routen zu sehen», scherzt Kuhn.

Erstmals in der Zeitung erschien der 1998 geborene Gibswiler im Jahr 2008, als er in Eschenbach SG in der Kategorie Cross den Sieg holte. Ebenfalls erfolgreich war der kleine Kevin des Öfteren in der Kategorie Rock, der Junioren-Kategorie der Mountainbiker. Sein Vater, gemäss Kuhn einer der ersten Mountainbiker in der Schweiz, nahm ihn jeweils auf seine Ausfahrten mit. «Und im Winter bin ich halt Quer gefahren», sagt er.

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(Bild: © Anouk FLESCH, all rights reserved)

Als wir losfahren, erzählt Kuhn von seinen Anfängen im Radquer: In jungen Jahren mass er sich mit den heutigen WorldTour-Fahrern Johan Jacobs, Marc Hirschi und Mauro Schmid. Er hätte nie gedacht, dass er einmal als Profi unterwegs sein würde, obwohl er schon 2016 über zwei Minuten vor Schmid Junioren-Schweizermeister wurde. Der Jungspund sagte damals mit 18: «Dass es in der Schweiz schwierig ist, vom Quer-Sport zu leben, könnte dereinst meine Entscheidung, worauf ich mich spezialisieren werde, beeinflussen.» Heute, acht Jahre später, lacht er und gibt ohne Weiteres zu, dass es so gekommen sei. Denn auf dem Mountainbike gibt es für ihn nichts zu holen.

Letztlich ausschlaggebend war der Winter 2019 / 2020. Kuhn gelang eine Bombensaison. Er gewann den Schweizermeistertitel bei den U23-Fahrern, drei U23-Weltcup-Rennen und als erster Schweizer den Gesamtweltcup. An der Heim-WM in Dübendorf gehörte er plötzlich zum Kreis der Favoriten. «Aus dem Nichts interessierten sich die Medien für mich und ich stand unter Druck», erzählt Kuhn. Diesem hielt er stand und wurde hinter dem Niederländer Ryan Kamp Vizeweltmeister. «Hätten die Holländer nicht ihre Spielchen gespielt und mir den Weg blockiert, wäre mehr dringelegen», ist er noch heute überzeugt.

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Mitten im Wald fahren wir auf eine Lichtung. Der Boden ist sandig und äusserst trocken. Darin Velo zu fahren ist darum gar nicht einfach. Aber der Teilzeitbelgier zeigt uns, wies geht. (Bild: © Anouk FLESCH, all rights reserved)

Die Silbermedaille und das plötzliche Interesse an seiner Person eröffneten nie dagewesene Perspektiven: Ein Profi-Leben als Crosser schien möglich. Kuhn ergatterte einen Vertrag beim belgischen Team Charles Liégeois Roastery CX, das zum WorldTour-Team Intermarché-Wanty gehört. Der Weg ins Veloland Nummer 1 war geebnet. Der Schlamm-Kämpfer lebt seither in den Wintermonaten in einer vom Team bezahlten kleinen Unterkunft in Geel, eine halbe Stunde mit dem Velo von Herentals entfernt.

Es wirkt so, als würde der Teilzeitbelgier dies geniessen. Flämisch versteht er mittlerweile gut. Und auch Heimweh ist kein Problem. Zwischen den Rennen bleibt immer wieder genug Zeit, um zurück in die Schweiz zu seiner Freundin, der Mountainbikerin Nicole Koller, und zu seinen Eltern zu reisen.

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«Die Belgier:innen können nichts Anderes. Es ist wie Skifahren in der Schweiz.»

Kevin Kuhn

Auf unserer Ausfahrt schwärmt Kuhn vom Wetter. So schön sei es eigentlich nie im Norden Belgiens. Nach wenigen Kilometern biegen wir auf den ersten Trail ein. Und da merkt man, mit wem wir unterwegs sind. Kuhn fährt uns auf seinen 33 Millimeter breiten Reifen sofort davon und kurvt furchtlos über den schmalen Weg durch den Wald. Auf diesen künstlich angelegten Routen trainiert die Radquer-Elite. Jeweils mittwochs versammeln sich gleich mehrere Teams – und mit ihnen auch einige Zuschauer:innen. Der Radsport und insbesondere auch Radquer ist in Belgien so populär, dass die Fans den Profis sogar bei ihren Trainings zujubeln.

«Hier kennen mich mehr Leute als in der Schweiz», sagt Kuhn. In seiner Stimme schwingt etwas Stolz mit. Am Streckenrand steht jeweils auch Bart Wellens, der Trainer des Teams und selbst ehemaliger Weltmeister. Wellens kennt man dort auch aus dem Fernsehen. Einerseits, weil alle Rennen live im TV übertragen werden, andererseits, weil er der Star der flämischen Doku-Serie «Wellen en Wee» war, in der er und seine Familie im Alltag und bei der wochenendlichen Rennvorbereitung gezeigt wurden.

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Auf dem Speeltuintje Sven Nys, dem Spielplatz des ehemaligen Radquer-Weltmeisters, muss Kuhn zuerst noch ein wenig Luft aus dem Pneu lassen, bevor er den weit über 20 Prozent steilen Stutz hinaufballert. (Bild: © Anouk FLESCH, all rights reserved)

Im Vergleich zu den belgischen Strassenklassikern ist Radquer eine eher junge Disziplin. Seit dem Ende der 1950er Jahre düst man in Flandern an Wettkämpfen durch die Dünen. Im aargauischen Schneisingen maximal Randsport, ist Veldrijden, wie Radquer auf Flämisch heisst, in Middelkerke Weltklasse-Radsport und Volksfest in einem. Hier wird mit dem Noordzeecross seit 1959 das älteste noch bestehende Radquerrennen Belgiens ausgetragen.

Warum ist Radquer so populär in Belgien? «Die Belgier:innen können nichts Anderes. Es ist wie mit dem Skifahren in der Schweiz. Am Sonntag schaut man das Rennen.» Die einstündigen, explosiven Rennen, bei denen im Kreis gefahren wird, sind attraktiv für das Publikum. Sie führen über Stock und Stein oder eben durch Sand und Schlamm. Anders als bei den Mountainbike- und Gravel-Rennen ist die maximale Reifenbreite auf 33 Millimeter limitiert. Weil das im Gelände oft zu wenig ist, muss das Velo häufig gestossen oder sogar getragen werden.

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(Bild: © Anouk FLESCH, all rights reserved)

Dass hier viel im Dreck trainiert wird, sieht man auch auf unserer Route. Wir fahren zu einer sandigen Lichtung hoch. Überall Spurrinnen. Kuhn sprintet los, fährt die Kurve im tiefen trockenen Sand für die Fotografin gleich mehrmals und strahlt, als er es schafft, ohne aus den Pedalen auszuklicken. So gut wie die Belgier:innen wird er diesen Untergrund aber nie meistern: «Die Einheimischen trainieren seit dem Junior:innen-Alter im Sand, das kann ich nicht aufholen.»

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(Bild: © Anouk FLESCH, all rights reserved)

Zur Popularität des Sports tragen auch die Strassenprofis Wout van Aert und Mathieu van der Poel bei. Letzterer ist zwar Niederländer, fährt aber zusammen mit van Aert in Belgien viele Querrennen und wird nicht nur von Kuhn als «halber Belgier» bezeichnet. Das Schweizer Quer-Aushängeschild erinnert sich noch gut daran, wie er beim Cross in Diegem vor zwei Jahren eine Runde mit den beiden an der Spitze gefahren ist: «Das war unglaublich. Die Fans am Streckenrand drehten total durch und waren extrem laut.» Es lief ihm sogar so gut, dass er in einer Sand-Passage durchfahren konnte, wo der Belgier van Aert absteigen musste.

Kuhn stört es nicht, dass die beiden Ikonen des Strassenrennsports sporadisch in «seiner» Disziplin mitfahren und er in der Regel dadurch zwei Plätze verliert. Das hat auch damit zu tun, dass gute Strassenfahrer:innen nicht automatisch im Radquer dominieren. Kuhn erzählt vom vergangenen Jahr, als sich einer seiner Teamkollegen vom Strassenveloteam im Radquer versuchte. «Nach einer Runde überholte ihn van der Poel schon fast, bevor er in der zweiten Runde von der Jury rausgenommen wurde.» Solche Geschichten tragen dazu bei, dass der Respekt der Strassenfahrer:innen vor den Crosser:innen gross ist, wenn die Schlammspezialist:innen im Sommer mit ihnen unterwegs sind.

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(Bild: © Anouk FLESCH, all rights reserved)

Wie streng es ist, merken auch wir. Nach zwei Stunden sind wir erst 25 Kilometer weit gefahren. Schlamm, Sand und Fotostopps sei Dank. Wir kürzen die letzten 15 Kilometer ab – auf der asphaltierten Strasse. Zurück in Herentals steuern wir ein Café an. Anders als in der Schweiz werden hier die Beizen so bezeichnet. Für jedes Bier gibt es das passende Glas. Kaffeetassen sehen wir keine. Kuhn schmunzelt ob zweier älterer Herren am Nebentisch: «Die haben die Velokleider angezogen und sind direkt hierher gefahren.» Ein Trappistenbier (Kuhn bestellte ein Mineral mit Kohlensäure) später ziehen wir weiter in eine Frituur. Diese Pommesbuden gehören genauso zu Belgien wie Radquer. Wir bitten unseren Spezialisten, auf Flämisch die typischste Verpflegung zu bestellen – und machen grosse Augen, als wir einen Bicky Burger und nur halbwegs appetitlich aussehende Fritten mit brauner Fleischsauce erhalten. Kuhn lacht laut: «Stoofvlees met Frietjes, das essen alle hier!» Wir glauben es einfach und halten fest: Nach einer Velotour schmeckt alles gut.

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