«Frauen haben Angst, Gefahren anzusprechen.» – Grace Brown über Muriel Furrers Tod, Sicherheit im Radsport und ihren Rücktritt

Grace Brown ist soeben zur Präsidentin der Fahrerinnen-Gewerkschaft TCA gewählt worden. Die weltbeste Zeitfahrerin über Muriel Furrers Tod, Sicherheit im Radsport und ihren Rücktritt.

Picture by Alex Whitehead/SWpix.com - 22/09/2024 - 2024 UCI Road and Para-cycling Road World Championships, Zurich, Switzerland - Grace Brown (Australia) wins the Women's Elite Individual Time Trial (ITT) to become World Champion - Grace Brown’s (Australia) Gold Bike to commemorate her Olympic ITT win
(Bild: © SWpix.com (t/a Photography Hub Ltd))

Interview: Pascal Ritter und Simon Häring

Grace Brown, wie blicken Sie auf die Rad-WM in Zürich zurück?

Mit gemischten Gefühlen. Mein Fokus lag voll und ganz auf dem ersten Wochenende, an dem mein Zeitfahren stattfand. Am Mittwoch war dann das Mixed-Staffel-Zeitfahren und ich habe es unheimlich genossen, einen solchen Sieg mit dem australischen Team zu feiern im letzten Team-Rennen. Es war enorm schön, das mit Menschen zu teilen, mit denen ich sehr lange zusammengearbeitet habe.

Das war am Mittwoch …

Ja, die erste Woche war voller emotionaler Höhepunkte. Und dann kam am Donnerstagabend nach dem Rennen der Juniorinnen diese niederschmetternde Nachricht, die sich für uns Fahrer:innen und Helfer:innen schwer anfühlte. Das ist das Schlimmste, was in unserem Sport passieren kann, so ein junges Leben, das verloren gegangen ist. Ich war in Gedanken bei Muriels Familie. Es muss schrecklich sein, das durchmachen zu müssen. Auch wenn ich sie nicht gekannt habe, trauern wir um sie und mit ihrer Familie.

Am Tag nach Furrers Tod fand das Strassenrennen der Frauen statt. Wie gingen Sie damit um?

Es war schwierig. Du musst versuchen, das irgendwie auszublenden. Wenn du das nicht tust, kannst du keine Rennen fahren. Wir alle wissen, dass solche Unfälle passieren können, es ist ja in der Vergangenheit auch schon vorgekommen. Mit den ganzen Emotionen war es eine sehr seltsame Woche.

@LAzou-ChronoNations (117)
Grace Brown startet ihre Karriere als Läuferin. Wegen Verletzungen wechselt sie in den Radsport. 2016 nimmt sie am ersten Rennen teil. Die grössten Erfolge feiert sie in ihrer letzten Saison.

Wie fanden Sie es, dass die WM trotz Todesfall fortgesetzt wurde?

Es war richtig und ich finde es gut, dass die Familie nach ihrem Wunsch gefragt wurde, wie es weitergehen soll. Wenn wir abgebrochen hätten, dann aus Respekt, nicht aus Angst.

Sie fuhren ebenfalls an der Stelle vorbei, an der Furrer gestützt ist. Wie gingen Sie und die anderen Fahrerinnen damit um?

Diese Tragödie hing wie eine dunkle Wolke über uns. Es gab nicht viel darüber zu diskutieren. Auch bei uns war die Strasse nass und ich denke, wir fuhren vorsichtiger, auch wenn diese Stelle nicht extrem gefährlich war. Als Radfahrerinnen entscheiden wir selber, welche Risiken wir eingehen.

Mit welchen Gefühlen gingen Sie an den Start?

Für mich persönlich hat sich wenig geändert. Mir waren die Risiken des Radsports schon vorher bewusst. Ich hatte in der Vergangenheit ab und zu mit der Vorstellung zu kämpfen, was bei einem richtig schlimmen Sturz passieren könnte. Bei uns gibt es oft Stürze, und meistens stehen wir auf und sind okay. Wir nehmen das als Realität in unserem Sport an, weil es viel Konkurrenz und Druck gibt. Ich habe oft die bewusste Entscheidung getroffen, etwas nicht zu machen, weil es mir zu riskant war.

Was hat dazu geführt?

Früh in meiner Karriere hatte ich einen fürchterlichen Sturz in Norwegen. Ich brach mir vier Rippen, hatte eine riesige Fleischwunde am Unterarm und einen Lungenriss. Ich erinnere mich gut, wie ich am Strassenrand lag, nicht mehr atmen konnte und dachte, ich würde vielleicht sterben. Das war sehr beängstigend. Ich überlegte mir, keine Rennen mehr zu fahren. Ich realisierte, wie zerbrechlich das Leben ist. Danach fuhr ich nie mehr mit der gleichen Furchtlosigkeit.

«Ich erinnere mich gut, wie ich damals am Strassenrand lag, nicht mehr atmen konnte und dachte, ich würde sterben. Ich realisierte, wie zerbrechlich das Leben ist. Danach fuhr ich nie mehr mit der gleichen Furchtlosigkeit.»

Grace Brown

Welche Rolle haben die Risiken gespielt bei der Entscheidung, aufzuhören?

Es war nicht der Hauptgrund, aber spielte sicher eine Rolle. Ich bin erleichtert, dass ich mich nicht mehr in Gefahr bringen muss. Diese Vorstellung hat mir die Entscheidung erleichtert.

Was kann man gegen schwere Unfälle unternehmen?

Der Radsport bringt Risiken mit sich. Wir sind mit sehr grosser Geschwindigkeit auf zwei schmalen Rädern auf der Strasse unterwegs und dabei kaum geschützt. Dennoch ist es nicht so, dass wir nichts tun könnten. Einiges davon liegt in unserer eigenen Verantwortung. Aber es braucht den Willen aller: der Fahrer:innen, Organisator:innen, der UCI und der Teams.

Woran denken Sie konkret?

Wir brauchen ein klares Protokoll, wenn wir im Rennen etwas Gefährliches ansprechen wollen. Für Fahrer:innen ist es schwierig, das im Rennen zu organisieren. Dann brauchen wir eine sorgfältigere Beurteilung der Rennstrecken. Wir fahren oft auf Strecken, die nicht sicher sind. Auf WorldTour-Stufe ist es besser, aber wir brauchen in den unteren Kategorien die gleichen Standards.

Wie stehen Sie zum Thema Teamfunk?

Darauf zu verzichten, halte ich für keine gute Lösung. Gerade bei Stürzen ist ein Funk sehr wichtig. Generell ist Kommunikation für die Sicherheit wichtig. Zum Beispiel dann, wenn Öl auf der Strasse ist. Wir brauchen eine Möglichkeit, zu kommunizieren.

Picture by Zac Williams/SWpix.com - 22/09/2024 - 2024 UCI Road and Para-cycling Road World Championships, Zurich, Switzerland - Women’s Elite Individual Time Trial (ITT) - Grace Brown (Australia)
(Bild: © SWpix.com (t/a Photography Hub Ltd))

Wie wirken sich schnellere Velos auf die Risiken aus?

Ich sehe die Risiken eher in der Strasseninfrastruktur. Zum Beispiel in den Niederlanden, wo es unglaublich viele Signale, Kreuzungen, Tramhaltestellen, Brunnen und so weiter gibt. Das macht es sehr gefährlich. Ich bin nicht sicher, ob bessere Velos Rennen gefährlicher machen. Aber wir müssen uns gut überlegen, wie wir Technologien wie Funk und GPS einsetzen können.

Bei Muriel Furrer war ein GPS-fähiges Gerät unter dem Sattel montiert, doch die Positionsdaten wurden offenbar nicht ausgewertet. Wie stehen Sie dazu?

Ich kann dazu leider nicht viel sagen, weil mir die Expertise fehlt. Was ich sagen kann, ist, dass es gut ist, wenn Technologien eingesetzt werden, um die Sicherheit zu erhöhen. Wenn dann aber die Positionsdaten nicht überwacht werden, ist das wenig hilfreich.

Furrer lag wohl anderthalb Stunden unbemerkt im Wald.

Das sollte sich definitiv nicht wiederholen. Ich bin sicher, die Organisator:innen und die UCI wollen Antworten finden, wie das passieren konnte. Vielleicht müssen wir aber nicht beim GPS ansetzen. Zum Beispiel kann man die Helme mit Sensoren ausrüsten, die bei einem Aufprall einen Alarm auslösen.

Wie beurteilen Sie das Sicherheitskonzept der Rad-WM?

Es war gut organisiert, obschon es schwierig ist, bei solchen einmaligen Grossveranstaltungen jedes Detail zu berücksichtigen. Einige kritisierten, die Abfahrten in den Zeitfahren seien unnötig gefährlich gewesen.

Wie sehen Sie das als Siegerin des Zeitfahrens?

Obwohl es eine andere Strecke war, brachte mich Muriels Sturz zum Nachdenken. Ich hatte unseren Kurs zuvor schon einmal abgefahren und empfand die Abfahrt als sehr gefährlich. Ich hatte gehofft, die Strasse würde bis zum Rennen neu beschichtet, damit sie nicht mehr so holprig ist. Gegenüber meinem Team sprach ich über die Abfahrt, aber ich kam nicht auf die Idee, die Rennorganisation zu kontaktieren. Rückblickend bereue ich das. Wir neigen dazu, das einfach zu akzeptieren und so schnell wie möglich zu fahren.

Die meisten schlimmen Unfälle in der jüngeren Vergangenheit passierten in Abfahrten. Was halten Sie davon, Rennen vor Abfahrten zu neutralisieren?

Das könnte den Rennsport sicherer machen. Natürlich würden das Traditionalist:innen kritisieren, weil Abfahrten Teil einer kompletten Radsportlerin sind. Aber es ist eine Lösung, die wir in Betracht ziehen sollten, wenn uns die Sicherheit wirklich am Herzen liegt. Leider kann ich mir nicht vorstellen, dass die Menschen, die im Radsport etwas zu sagen haben, das gutheissen. Wenn die Fahrer:innen sich diese Lösung wünschen, werde ich mich dafür einsetzen.

«Wir Frauen haben Angst, Gefahren anzusprechen, weil wir be­fürchten, als schwach hingestellt zu werden. Das ist definitiv ein Problem.»

Grace Brown

Was können die Fahrer:innen beitragen?

Teams haben oft die Strategie, in Abfahrten anzugreifen, um schlechtere Abfahrer:innen zu distanzieren. Eine schnelle Abfahrerin zu sein, wird glorifiziert. Wir alle kennen die Videos von Tom Pidcock, wie er halsbrecherisch die Berge runterfährt. Und alle loben ihn dafür. Er ist unglaublich geschickt. Aber so entsteht die Erwartung, dass das alle können müssen. Einige werden dazu verleitet, schneller zu fahren, als es ihre Fähigkeiten erlauben.

Sie wurden zur Präsidentin der Gewerkschaft TCA gewählt. Welche Ziele verfolgen Sie?

Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht, nicht unbedingt in Sachen Sicherheit. Aber zum Beispiel bei der Bezahlung. Wir haben einen Mindestlohn. Es gibt einen Mutterschaftsschutz, und bei juristischen Streitigkeiten können wir die Fahrerinnen gut unterstützen. Eines meiner Ziele ist es, dass möglichst viele mitmachen. Je grösser die Vereinigung ist, desto mehr Einfluss können wir geltend machen. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die Fahrerinnen daran zu erinnern, dass sie eine Stimme haben.

Sie haben Ihr letztes Rennen, das Tre Valli Varesine, nicht beendet, weil es sintflutartige Regenfälle gab. Das Rennen der Männer wurde abgesagt, das der Frauen nicht. Werden die Frauen anders behandelt?

Ja, definitiv. Wir wurden nicht respektiert. Frauen haben Angst, Gefahren anzusprechen, weil wir befürchten, als schwach hingestellt zu werden. Das ist definitiv ein Problem. Die Männer müssen nicht beweisen, dass sie hart im Nehmen sind.

Sie wurden in diesem Jahr Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Zeitfahren, gewannen Lüttich–Bastogne–Lüttich. Weshalb treten Sie nun zurück?

Schon vor einem Jahr hatte ich mir diese Gedanken gemacht. Dann setzte ich mir die Ziele, im Frühling bei einem Klassiker ein sehr gutes Resultat zu erreichen. Und bei Olympia und der WM. Es ist fast surreal, dass ich das alles erreicht habe. Es ist wie im Traum, dass alles so gut aufgegangen ist.

Weshalb hören Sie dennoch auf?

Es macht mich schon traurig, den Sport auf dem Höhepunkt zu verlassen. Andererseits bin ich keine dieser Athletinnen, die nie genug bekommen und Hunger nach immer noch mehr haben. Ich sehe es eher so: Ich hatte meine Ziele, ich bin all-in gegangen, und es ist alles aufgegangen. Ich muss es nicht wiederholen.

Sie wussten jeweils, dass Sie ein Rennen zum letzten Mal bestreiten würden. Hat Sie das zusätzlich unter Druck gesetzt, oder konnten Sie es so geniessen?

Ich wollte mit einem Höhepunkt aufhören. Der Start war schwierig, ich zeigte nicht die erhofften Leistungen. Bis im Frühling genoss ich es nicht. Ich wollte im letzten Jahr nicht unter meinen Möglichkeiten bleiben. Da setzte ich mich stärker unter Druck. Dann kam plötzlich alles zusammen, und der Sieg bei Lüttich–Bastogne–Lüttich gab mir die Freiheit, mich zu entspannen und meine anderen Ziele zu verfolgen.

Einer der Gründe, aufzuhören, war Heimweh?

Ja, das stimmt. Seit ich Profisportlerin bin, lebe ich einen Grossteil des Jahres in Europa, weit weg von meiner Familie und meinem Mann, der jeweils ein paar Wochen nach Europa kam. Das fühlte sich oft wie ein halbes Leben an, wenn die Menschen, die mir wichtig sind, nicht um mich herum waren. Ich wusste, dass ich nicht ewig so weitermachen kann.

Wie sieht Ihr neues Leben nun aus?

Normalerweise würde ich mir nun, nach dem Ende der Saison, Zeit für Dinge nehmen, die zu kurz gekommen sind. Nun muss ich herausfinden, wie es weitergeht. In den nächsten Monaten nehme ich an Events teil, darunter die WorldTour-Rennen, die Anfang Jahr in Australien stattfinden. Dazu werde ich wohl als Kommentatorin im Einsatz stehen. Ich habe also nicht vor, einen 9-to-5-Job anzufangen. (lacht)

Wie Ihr Strava-Profil verrät, haben Sie angefangen, zu rennen.

Wieder angefangen! (lacht) Bevor ich Radfahrerin wurde, war ich ja Läuferin. Aber das ist keine gute Idee als Radfahrerin und ganz schön gefährlich.

Weshalb?

Herz und Kreislauf sind in Bestform, aber die Gelenke sind nicht bereit für die Erschütterungen. Ich muss es also etwas langsamer angehen, als ich es bisher gewohnt war.

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