Die Geisterbahn von Jestetten
Von 1925 bis 1934 pilgerten Radsportbegeisterte in Scharen auf die Rennbahn in Jestetten. Wer heute die Ruine gleich nach der deutschen Grenze zur Schweiz sucht, muss genau hinschauen.
Text: Andreas Teuscher
Recherche: Pietro Wallnöfer
Fotografie: Pascal Mora
Es war ein mutiges Unterfangen. Im Mai 1924 stellten Walter Winkler und sein Freund und Velomech Ludwig Schönhammer aus Jestetten das Gesuch für den Bau einer Amateurrennbahn. In Jestetten. Auf einem Landstück, das Walters Vater Fritz gehörte, dem Besitzer und Wirt des Gasthauses zum Löwen. Als Architekten konnten sie den erfahrenen Rennbahnbauer Richard Ludwig aus Markkleeberg bei Leipzig gewinnen, der bereits die Offene Rennbahn Oerlikon entworfen hatte. Der «Rad-Sport», das Magazin des Schweizer Rad- und Motorfahrerbunds, frohlockte im März 1925: «Unglaublich, aber wahr! Das grosse, an der Strasse Eglisau-Schaffhausen gelegene badische Dorf Jestetten baut eine Radrennbahn.»
Am 24. Mai 1925 lud Walter Winkler zu den grossen Eröffnungsrennen mit Starbesetzung aus der Schweiz. Am Start war unter anderen auch Ludwig Merlo, der später Jestetter Lokalmatador und erfolgreicher Radprofi wurde. Zum Eröffnungsrennen erschienen rund 1500 Schaulustige, beim zweiten Rennen am 7. Juni 1925 waren es bereits über 2000 Zuschauer:innen – mehr, als Jestetten damals Einwohner:innen hatte. Der «Alb-Bote» berichtete: «In hellen Scharen kam das Publikum von Schaffhausen gewandert, um unsere Matadoren von Strasse und Bahn um den Sieg kämpfen zu sehen. Selbst der Zürcher Zug spie eine Menge ehemals ständiger Oerlikoner Besucher aus.»
Jestetten war damals Zollausschlussgebiet und deshalb von der Schweiz aus frei zugänglich. Die Renntage glichen einem fröhlichen Volksfest mit Budenzauber, im Innenraum sorgten der Jestetter Musikverein und das Preisgericht für Stimmung, oberhalb der Neuhauser Kurve stand die Festwirtschaft des Löwenwirts mit Bierausschank und Würsten.
Die Schnapsidee, geboren im Kreise des 1923 gegründeten Rennclubs Staubwolke im Stammlokal zum Löwen, schien zu funktionieren. Auch in den Folgejahren waren die Rennen gut besucht. Die Zeitung «Schaffhauser Nachrichten» schrieb in einer Vorschau zum international besetzten Pfingstrennen im Jahr 1927: «Dieses Eliteprogramm, das von der Direktion wesentliche finanzielle Risiken erfordert, wird denn auch am Sonntag seine Zugkraft nicht verfehlen und einen Massenaufmarsch nach Jestetten zur Folge haben». Am Palmsonntagsrennen 1928 fuhren sogar Extrazüge aus Zürich und Schaffhausen nach Jestetten.
Nach den ersten, goldenen Jahren mit spektakulären Rennen und viel Publikum fiel die Rennbahn Jestetten in einen Dornröschenschlaf, aus dem sie trotz mehrerer Weckversuche nie wieder erwachen sollte. Mit der Eröffnung der grösseren Rennbahn in Singen 1931 und der Aufhebung des Zollausschlussgebietes durch die Nationalsozialisten war das Ende der Rennbahn Jestetten besiegelt. Die letzten Rennen fanden Mitte der 1930er Jahre statt. Für die Bauherren endete das kostspielige Rennbahn-Abenteuer während der Inflation in einem finanziellen Desaster. Ludwig Schönhammer musste sein Wohnhaus mit Velowerkstatt verkaufen und verliess Jestetten. Auch der Löwen wurde verkauft. Walter Winkler wanderte nach Argentinien aus. Die Rennbahn wurde in den folgenden Jahren nur noch von Hobbyfahrern und der Dorfjugend mit ihren Töffli genutzt.
Ein kurzes Revival erlebte der Jestetter Rennbahntraum im Jahr 1954, als der Radsportbegeisterte Heinz Forster aus Schaffhausen die Wiedereröffnung der Rennbahn medienwirksam ankündigte. Es war die Zeit von Ferdy Kübler und Hugo Koblet. In Deutschland und der Schweiz war der Radsport populär wie nie zuvor. Die regionalen Medien waren voller Vorfreude auf die für den 6. Juni angekündigten Eröffnungsrennen: «Wir zweifeln nicht daran, dass die Radrennbahn Jestetten neue Glanzzeiten erleben wird», schrieben zum Beispiel die «Schaffhauser Nachrichten». Nur: Forster verfügte nicht über die finanziellen Mittel, um die Bahn wieder fahrtauglich zu machen. Tickets und Gastronomierechte verkaufte er trotzdem, weshalb er – statt Eröffnung zu feiern – vom Schaffhauser Kantonsgericht wegen Betrugs zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Die Risse im Jestetter Asphalt wurden immer grösser.
«In hellen Scharen kam das Publikum von Schaffhausen gewandert, um unsere Matadoren um den Sieg kämpfen zu sehen. Selbst der Zürcher Zug spie eine Menge ehemals ständiger Oerlikoner Besucher aus.»
Alb-Bote
Nachdem 1966 der Jestetter Hundeverein eine kleine Treppe in die Bahn betoniert hatte und diese damit endgültig unbrauchbar machte, wurde sie überwuchert und geriet allmählich in Vergessenheit – bis im April 2009 Rita Metzger mit ihrer Waldkindergartenklasse auf dem Areal Frösche beobachten ging. Einem der Kinder sei die «komische Form» des Geländes aufgefallen, woraufhin die Kleinen sich anschickten, nach der verlorenen Rennbahn zu graben, und schon bald auf Zement stiessen. In den folgenden Monaten grub Rita Metzger – übrigens eine Grossnichte von Velofahrer Ludwig Merlo – mit ihren Waldkindergartenkindern und mit Unterstützung der Gemeinde weiter und weiter, bis die ganze Rennbahn wieder sichtbar wurde, was auf Luftbildern von Swisstopo deutlich zu erkennen ist. In den folgenden Jahren holte sich die Natur die Bahn allerdings wieder zurück – auf den Luftbildern von 2018 ist sie kaum noch sichtbar.
Doch anstatt vollständig vom Wald verschlungen zu werden, findet die Rennbahn Jestetten 2019 einen neuen Ausgräber. «Die Rennbahn ist so etwas wie mein Hobby geworden», erzählt uns Edgar Meier, als wir ihn in Jestetten besuchen. Eigenhändig hat er die Rennbahn vom Bewuchs befreit und kümmert sich seither liebevoll darum, dass der Wald die Bahn nicht zurückerobert.
Andreas Teuscher und Pietro Wallnöfer sind Historiker. Sie arbeiten in der Abteilung Archäologie und Denkmalpflege des Kantons Zürich.