Blut, Schweiss und Training: Elise Chabbey kämpft schonungslos

Sie startete bei Olympia 2012 im Kajak und dieses Jahr auf dem Velo. Dazwischen stand sie als Ärztin im Corona-Einsatz. Wer ist Elise Chabbey? Und ist sie nach ihren Stürzen bereit für die Weltmeisterschaften in Zürich?

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Trotz Kopfschmerzen quält sich Elise Chabbey durch Etappe 2 und 3 der Tour de France. Tags drauf gibt sie auf.

Text: Pascal Ritter

Fotografie: Tino Pohlmann

Zur Tour de France startete Elise Chabbey mit der Nummer 13. «Abergläubisch oder nicht?», fragte sie auf Instagram. Es nützte nichts, dass die Tour-Organisation eine ihrer zwei Rückennummern verkehrt herum aufdruckte. Sie stürzte. Schon wieder. Kurz vor dem Ziel der ersten Etappe im niederländischen Den Haag schlug sie mit dem Helm so stark auf die Strasse auf, dass dieser kaputt ging. Sie musste die Rundfahrt, die ihre Teamkollegin Kasia Niewiadoma später gewinnen sollte, vorzeitig abbrechen. Allerdings quälte Chabbey sich trotz Kopfschmerzen noch durch die Flachetappe und das Zeitfahren am Folgetag. Aus ihrem Umfeld heisst es danach, man habe sie zum Aufgeben überreden müssen.

Vielleicht war es Pech, vielleicht bezahlte Elise Chabbey einfach den Preis für ihre mutige, angriffige Fahrweise. Sollte es so sein, hat sie diese Saison dafür schon sehr viel bezahlt. Den Giro d’Italia brach die 31-jährige Genferin nach einem Sturz vorzeitig ab. Sie hatte sich zwei Rippen und einen Teil des Fusses gebrochen. Trotzdem schaute sie optimistisch auf die Olympischen Spiele, war hungrig nach Erfolg, nur um erneut «im dümmsten Moment» zu stürzen, wie sie nach dem Rennen verriet. Am Ende kam sie mit fünf Minuten Rückstand ins Ziel und belegte Rang 18.

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«Wir fuhren im Kanu, schliefen im Zelt, WCs gab es nicht. Pure Freiheit.»

Elise Chabbey

Die Niederlage schien sie nur erneut anzuspornen. «Sie war enttäuscht, aber darum umso motivierter für die Tour de France», sagt Martin Dougoud, der sie im Maison Suisse, der Schweizer Olympia-Dependance in Paris, traf. Der 33-Jährige, der selbst in Paris nur knapp die Bronzemedaille im Kajak verpasste, kommt wie Chabbey aus Genf und war eine Zeit lang mit ihr liiert. Kennengelernt hatte er sie in ihrem ersten Sportlerinnenleben. Es ging vor gut zehn Jahren zu Ende, und danach gab es noch ein zweites. Denn das Rennvelofahren ist für Elise Chabbey nur dritte Wahl. Sie war Kanutin, dann Läuferin und fand erst danach zum Velo. Nebenher studierte sie noch Medizin.

Chabbey ist vielseitig wie die Bücher, die sie liest (im Moment gerade «Ce que le jour doit à la nuit» von Yasmina Khadra, einem preisgekrönten algerischen Autor mit Vorliebe für politische Themen). Doch eine Sache zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Es ist der Wille zum Sieg. «Der Spass an der Sache reichte ihr nicht, sie wollte den Erfolg», erinnert sich Dougoud an die gemeinsame Zeit im Kanu-Sport. Chabbey habe härter und seriöser trainiert als er.

Schon als Kind wollte sie jedes Brett- und jedes Kartenspiel gegen ihre zwei Brüder, ihre Schwester und die Eltern gewinnen. So hat es ihr Vater Martial Chabbey in Erinnerung. Als sie noch Kind war, lebte ihre Familie im Genfer Vorort Soral in einem grossen Haus. Das brauchten sie auch, denn irgendwo mussten sie ja all die Kanus und Kajaks unterbringen. Schon Grossvater Willy Chabbey startete mit dem Kanu zu internationalen Wettbewerben. 1967 belegte er an den Weltmeisterschaften im tschechischen Lipno im Zweierkanu den siebten Platz. Vater Martial machte 1981 bei den Weltmeisterschaften im walisischen Bala Platz vier.

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Im Alter von 19 Jahren paddelt Elise Chabbey an Olympia 2012 durch den Londoner Wildwasserkanal.

Als Kind langweilte sich Elise Chabbey, wenn im Fernsehen die Tour de France lief. Viel lieber war sie draussen oder im Wasser. Sie und ihre zwei älteren Brüder und ihre jüngere Schwester stiegen alle in den Kanusport ein. Die Motivation dazu entstand durch Familienferien, an die sich Elise Chabbey noch heute gerne erinnert: «Wir fuhren mit dem Kanu, schliefen im Zelt, Toiletten gab es nicht. Es war pure Freiheit.» Schon früh zeigte sich, dass Elise nicht nur den Willen hatte, sondern auch das Talent und die körperlichen Fähigkeiten, um im Kanusport zu reüssieren. «Sie schlug als Juniorin zunächst ältere und später auch Elite-Athletinnen. Das war beeindruckend», erinnert sich Vater Martial Chabbey.

Dass aus seiner Tochter eine professionelle Athletin werden könnte, realisierte der heute 62-Jährige aber erst, als sie sich überraschend für die Olympischen Spiele 2012 in London qualifizierte. Dort ging Elise Chabbey im Alter von 19 Jahren an den Start. Der Druck sei enorm gewesen, erinnert sie sich. Nicht nur, weil sie zu den jüngsten Athletinnen gehörte, sondern auch, weil Olympia der einzige Moment ist, in dem die Kanu- und Kajak-Athlet:innen im internationalen Rampenlicht stehen. Sie startete als Aussenseiterin und wurde am Ende Zweitletzte.

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Startnummer 13: Elise Chabbey stürzt auf der ersten Etappe der Tour de France.

Als sie im August dieses Jahres als Rennvelofahrerin in Paris zu ihren zweiten Olympischen Spielen antrat, war die Ausgangslage komplett anders. Sie gehörte im Alter von 31 Jahren nicht mehr zu den jüngsten Athlet:innen und ging im Strassenrennen als Teamleaderin an den Start. Die schnellste Schweizer Rennvelofahrerin Marlen Reusser war aus gesundheitlichen Gründen ausgefallen. Und im Radsport zählen die Tour de France und die Weltmeisterschaften mehr als Olympia. Der Druck war also kleiner, ihre Erfahrung grösser. Doch optimal waren die Bedingungen für Chabbey wegen des Sturzes am Giro d’Italia nicht. Zwar konnte sie dank des Rennabbruchs kurze Ferien mit ihrem Partner, dem Physiotherapeuten Antoine Robin, verbringen. Als wir sie zehn Tage vor dem Olympia-Rennen im Vorbereitungscamp der Schweizer Velofahrer:innen in der Toskana erreichen, erzählt sie am Telefon aber, sie nehme immer noch Schmerzmittel. Später, sie ist gerade für einen kurzen Stopp zuhause in Genf, gibt sie ihre Fitness auf einer Skala von 1 bis 10 mit 6 an. Bis zum Start in Paris sind es in diesem Moment noch acht Tage.

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Sie gilt als fröhlich und umgänglich: Elise Chabbey im Bus ihres Teams Canyon-SRAM Racing.

Im Radsport sind Quereinstiege wie der von Elise Chabbey keine Seltenheit. Und dennoch ist ihre Karriere ungewöhnlich. Die meisten Athletinnen, die spät aufs Velo finden, betrieben vorher einen Ausdauersport, der ähnliche Voraussetzungen verlangt wie das Velofahren. Demi Vollering, die Tour-de-France-Siegerin von 2023, kam vom Eisschnelllauf. Elena Hartmann, mehrfache Schweizer Meisterin im Zeitfahren, machte vorher Triathlon.

Beim Kajakfahren ist hingegen Schnellkraft im Oberkörper gefragt. Starke Beine sind hinderlich. «Viel Velo zu fahren, wäre als Kanutin nicht dringelegen», sagt Chabbey. Muskulöse Beine bedeuten nur mehr Gewicht im Boot. Dass sie auch starke Beine hat, zeigte sich erst, als sie ihre Kajak-Karriere abgebrochen hatte. Der Grund dafür war der ausbleibende Erfolg. Typisch Chabbey, hatte sie zuvor aber genau dafür alles gegeben. Sie zog für ein Jahr nach Australien, um sich unter idealen Bedingungen dem Kajakfahren zu widmen, zurück in der Schweiz blieben die Siege aber aus. Also gab sie ihren ersten Spitzensport 2013 auf und begann ein Medizinstudium.

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«Sie hat nun die nötige Erfahrung, um ihre Angriffe in Erfolge umzumünzen.»

Edi Telser, Nationaltrainer

Parallel dazu begann sie mit Laufen und startete bald schon zu Langstrecken- und Bergläufen (Trail). Sie habe Bewegung gebraucht, erzählt Chabbey. Das Trail-Team der Sportmarke Scott nahm sie als Athletin auf. Sie erzielte gute Resultate, gewann in Genf sogar den Halbmarathon. Dann erlitt sie einen Ermüdungsbruch in der Hüfte, eine typische Sportverletzung, die auf zu starke Belastung in Training und Wettkampf zurückgeführt wird.

Elise Chabbey, so viel ist klar, schont sich nicht. Während sechs Monaten konnte sie nicht mehr joggen. Der einzige Sport, den ihr die Ärzt:innen erlaubten, war das Velofahren. Schon vor ihrem Studienabschluss im September 2019 wurde sie aufgrund von vielversprechenden Resultaten von einem Radsportteam rekrutiert. Bei den Schweizer Meisterschaften wurde sie im gleichen Jahr im Zeitfahren Dritte und im Strassenrennen Zweite.

Im Jahr 2020 siegte sie im Strassenrennen und wurde Zweite auf dem Zeitfahrvelo. Dabei hatte sie gerade eben eine Coronazeit durchlebt wie kaum ein:e andere:r Athlet:in. Nach ihrem Medizinabschluss hatte sie sich zwar fürs Velofahren und gegen den Einstieg in den Ärztinnenberuf entschieden. Als sich das Genfer Universitätsspital aber mit Coronafällen füllte und alle Velorennen abgesagt wurden, meldete sie sich zum Dienst und hütete ein paar Monate lang Patient:innen, die teilweise an der Beatmungsmaschine hingen. Vier Tage am Stück schob sie Zwölfstundenschichten. Auf dem Velo sass sie fast nur noch auf dem Weg zur Arbeit und zurück nach Hause. Danach gefragt, wie sie die Kraft aufbrachte, im gleichen Jahr noch Schweizer Meisterin zu werden, sagt sie: «Für mich war diese Zeit einfacher. Ich hatte eine Aufgabe, viele Andere mussten damals ohne klares Ziel ein halbes Jahr für sich alleine trainieren.» Zuhause auf der Rolle zu schwitzen, wie es viele Athlet:innen während Corona taten, ist ihr ein Graus. Sie macht Sport, um draussen zu sein.

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Chabbey gefällt am Radsport der Teamgeist. Hier umarmt sie Kasia Niewiadoma, die La Flèche Wallonne 2024 gewann.

Im Jahr 2021 nahm sie Canyon-SRAM Racing, ein Team der höchsten Klasse im Radsport, unter Vertrag. Dort erhielt sie zuletzt die Freiheit für das, was sie am liebsten macht: Attackieren. Wie zuletzt während der ersten Etappe der Tour de Suisse 2024, als sie am Col de la Croix zu einer Aufsehen erregenden Soloflucht ansetzte. Erst einen Kilometer vor dem Ziel wurde sie von Gaia Realini und Demi Vollering eingeholt. Am Ende gewann Chabbey die Bergpreiswertung der Rundfahrt und überstrahlte damit ihre männlichen Schweizer Kollegen, denen dieses Jahr an der Tour de Suisse kein Erfolg gelungen war.

Fragt man den Nationaltrainer der Schweizer Velorennfahrerinnen, Edi Telser, nach Chabbey, beschreibt er ihren Instinkt, sich im Feld zu bewegen und Chancen zu erkennen. «Vielleicht hat sie das als Kanutin gelernt, als sie die Strömung im Fluss im Auge behalten musste.» Zu was ist Elise Chabbey in Zukunft fähig? «Sie hat nun die nötigen Kilometer in den Beinen und die Erfahrung, um ihre angriffige Fahrweise in Resultate umzumünzen», sagt Telser.

Offen ist, ob sie nach den Stürzen an Giro d’Italia, Olympia und Tour de France bereit sein wird für einen Erfolg an den Weltmeisterschaften. Der Rundkurs, der immer wieder steil die Hügel um Zürich hinauf führt, dürfte ihr liegen. In Glasgow wurde sie letztes Jahr nach einer spektakulären Soloflucht Siebte. Und bisher hat jeder Rückschlag sie nur noch mehr dazu motiviert, es noch entschlossener zu versuchen.

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