Mit dem Ausreisser im Innenhof – Jens Voigt erzählt vom Leben in der DDR
Als Jens Voigt in Berlin Prenzlauerberg vor dem Haus seiner ersten Wohnung steht, ist die Türe zum Innenhof zu. Im Parterre ist inzwischen eine Webagentur zu Hause. Durchs offene Fenster spricht Voigt einen jungen Mann an: «Wir machen eine Reportage über mich. Würden Sie uns freundlicherweise in den Innenhof lassen?» Mit dem Ex-Profi unterwegs in Berlin.
Text: Laurent Aeberli
Fotografie: Nils Lucas
Das Velodrom in Ost-Berlin als Startpunkt hat Jens Voigt bewusst gewählt. Gleich daneben befand sich in den 1980er Jahren das Sportgymnasium KJS Ernst Grube, das der kleine Jens besuchte: «Benannt nach einem strammen Antifaschisten, wie alles damals im Osten», sagt Voigt. Das Gebäude steht heute noch und ist auch immer noch ein Gymnasium.
«Da hattest du die Wahl: Waschen oder Faustkampf.»
Jens Voigt erzählt von seiner Kindheit als wäre es gestern gewesen.
Im Internat gleich daneben, ein grosser Betonbau, lebte der gebürtige Mecklenburger, als er 13 Jahre alt war. Zusammen mit elf anderen aufstrebenden Velofahrern. «Das war eine harte Zeit so früh weg von Zuhause. Zwei Kameraden verliessen die Schule schon kurz nach dem Eintritt. Nach einem Jahr waren wir noch zu acht. Beim Abitur noch drei.» Als er von zuhause ausgezogen war, weinte der kleine Jensie aber nicht vor den Eltern. Denn: Jungs weinen nicht, meinte sein Vater damals zu wissen. «Also hat Mama für uns beide geweint. Und ich verdrückte im Zug nach Berlin ein Tränchen.»
Das Leben im Internat war hart. Der kleine Jens, der in der körperlichen Entwicklung eher spät dran, hatte es doppelt schwer. Da hiess es dann: «Junge, wasch mal unsere Räder!» Und Voigt erzählt: «Da hattest du die Wahl: Waschen oder Faustkampf.» Jens, schon damals als Teenager so schnell mit den Worten wie mit seinen Beinen, erlebte einige Prügeleien. Doch als wir bei sonnigem Wetter vor dem Internat stehen, das sich gerade im Umbau befindet, überwiegen die schönen Erinnerungen.
Die Radlegende erzählt detailreich. Beispielsweise vom grossen Holzbrett mit den grünen Nadeln. Für jeden Sportler eine. Diese musste je nach Ort, an dem man sich gerade befand, an die richtige Stelle gesteckt werden. Disziplin war in allen Bereichen wichtig. «Die Leiter:innen hatten schliesslich auch eine grosse Verantwortung und mussten schauen, dass nicht ständig alle schwanger wurden», sagt Voigt. Die Wohntrakte der Knaben und Mädchen waren in der Gebäudemitte getrennt. Wollte man auf die andere Seite, musste man angeben, wen man weshalb besucht. «Um 21 Uhr wurden wir dann wieder eingesammelt, um 21.30 war Nachtruhe.», erzählt Voigt, als wär das alles letzte Nacht passiert.
Um die strenge Sperre zu umgehen, bauten sich Jens und seine Zimmerkollegen eine spezielle Vorrichtung. An einem dünnen, vor den Wärter:innen-Augen gut versteckten Seil, konnte man bald von aussen ein dickes Tau herunterziehen und über den Balkon ins Gebäude zu klettern. Voigt und seine Mitbewohner waren so stolz auf ihren Einfall, dass sie zu vielen Kollegen davon erzählten. Häufig klopften mitten in der Nacht andere Nachwuchssportler im Rausch der Hormone an die Balkontüre und wollten vom Schleichweg Gebrauch machen. «Das ging natürlich nicht mit all den Wettkämpfen, die wir hatten», erzählt Voigt. Irgendwann entfernten die Jungs das Seil dann wohl oder übel wieder.
Viele Fragen müssen wir Jens Voigt auf unserer Velofahrt durch Ost-Berlin nicht stellen. Der 52-jährige Ostdeutsche erzählt ohne Punkt und Komma: «Schon früher war ich laut, also sagten die Lehrer, ich müsse mehr Sport machen. Heute hätte man mich wohl in drei Therapien geschickt.»
Inzwischen sitzen wir auf dem Velo und fahren durch Berlin. «E-Lastenvelos sind die neuen SUVs», bemerkt Voigt an einer Ampel. Die gab es in seiner Jugendzeit natürlich noch nicht. Dafür kriegte er Jahr für Jahr ein neues Rad, mit der dem Alter entsprechenden Übersetzung. Alle hatten exakt das gleiche Velo. Damit wurde auf zwei verschiedenen sogenannten Protokollstrecken trainiert. Eine hügelige und eine flache. Auf diesen Abschnitten erlaubte es die Polizei der überaus sportfreundlichen DDR ausdrücklich, zu zweit nebeneinander zu fahren und sich von einem Fahrzeug begleiten zu lassen. Das waren in der Regel dreizylindrige Bakras-Zweitakt-Busse, die mit einer stinkenden Benzinfahne vor oder hinter dem Radnachwuchs herknatterten. Immer mit an Bord: Tee und Kuchen. Ob das nicht unheimlich langweilig war, wollen wir wissen, als wir den erhaltenen Teilen der Berliner Mauer entlangfahren. «Nein», meint Voigt, «wir haben ja nichts anderes gekannt. Und uns haben sie ja erzählt, dass die Mauer uns vor euch, den bösen Faschisten, beschützt.»
Um am Sportgymnasium bleiben zu können, musste sich der Mecklenburger ständig beweisen. Einerseits mussten die schulischen Leistungen stimmen, andererseits standen dreimal jährlich sportliche Tests an. Einmal davon nationale: Möglichst schnell Radfahren musste man natürlich. Aber es gab auch einen Geschicklichkeitstest auf dem Velo und einen Agilitätsparcour zu Fuss. Mit Schrecken erinnert sich Jens Voigt an die ebenfalls relevanten Muskelmessungen: «Unvermittelt haben sie dir ein Röhrchen ins Bein gerammt, um die Muskelfasern zu analysieren. Wirklich geschmerzt hat das nicht, aber es war echt furchteinflössend.»
«Hallo, ich wohne jetzt hier, sonst müssen Sie mich als Besetzer melden.»
Frechheit siegte oft im Arbeiter- und Bauernstaat.
Ins Nationalkader schaffte es Jens Voigt in der U17. Es eröffneten sich dadurch wortwörtlich ganz neue Welten. Einerseits wurden Reisen ins sogenannte NSA, das Nichtsozialistische Ausland, möglich. Ein Riesenprivileg. Das war als Normalsterblicher in der DDR sonst erst nach der Pension möglich. Andererseits bekamen die jungen Sportler zum ersten Mal ausländisches Material. Die Kurbeln waren nicht mehr aus Stahl. Die Trinkflaschen, mit Ventil statt mit mühsamen DDR-Klappverschluss, wurden «tausend Mal gewaschen», errinnert sich Voigt. Auch die Rennanzüge entsprachen plötzlich den neusten Standards: «Da stand zwar Adidas drauf, die waren aber von Descente. So gutes Material hatte ich nie mehr wieder», schwelgt der 17-fache Teilnehmer der Tour de France in Erinnerungen. Dafür wurde, wenn einer gestürzt war, zuerst das Rad und dann der Fahrer gecheckt.
Und irgendwann stehen wir vor Voigts ersten eigenen Wohnung im Prenzlauer Berg, dem heutigen Szeneviertel. Irgendwie sei er damals an die Schlüssel eines in den Westen geflüchteten Paares gekommen – genauer führt das Jens Voigt nicht aus – und kurzerhand in die verlassene Wohnung eingezogen. Schelmisch erzählt er, wie er sich im Nachhinein bei der Verwaltung meldete: «Hallo, ich wohne jetzt hier. Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie mich als Besetzer melden.» Frechheit siegte oft im Arbeiter- und Bauernstaat. Das Haus steht heute noch immer an der Ecke von zwei mit grobem Kopfstein gepflasterten Strassen. Hier schleppte Voigt fortan im Winter jeden Tag die Kohle hoch, um zu heizen. Und im Sommer gab es keine Mücken, da diese «nicht über das Dach in den Innenhof fliegen», erklärt Voigt. Wir glauben es ihm einfach.
«Ich hatte sogar ein eigenes Klo, das war ein Luxus!»
Es sind die kleinen Dinge im Leben ...
Die Tür zum Innenhof des Hauses ist verschlossen. Im Parterre ist eine Webagentur zu Hause. Durchs offene Fenster bittet Voigt einen Mann, uns reinzulassen. Voigt staunt: «Mein Gott, das sieht immer noch genau gleich aus.» Er meint den geplättelten Eingangsbereich. Vom Innenhof aus zeigt uns Voigt, wo er im ersten Stock genau gewohnt hatte und freut sich, dass die Balkontür noch immer die gleiche ist. Zeit für etwas ganz persönliche Ostalgie: «Ich hatte sogar ein eigenes Klo, das war ein Luxus!» Ebenfalls Luxus: Er besass Telefon mit Faxgerät. «Man sagt ja, es gab nur so viele Telefongeräte, wie die Stasi abhören konnte.»
Die Mauer fiel, Voigt blieb. Er war verliebt in Stephanie. Seine heutige Frau. Sie ist es auch, die dem jungen Velofahrer 1994 einen Fax schickte. «Ich dachte, die macht Schluss mit mir!», erzählt Voigt. «Weisst du noch, wie wir witzelten, weil mir morgens immer so schlecht war? Ich bin schwanger!», stand da geschrieben. «Ich hatte höllische Angst, wollte einen Reisepass besorgen und abhauen, ich war ja selbst noch ein Kind!», erinnert sich Voigt. Er rief seine Eltern an, die ihn beruhigten. Statt dem Reisepass kauft er seiner Geliebten Blumen. Das mache er übrigens auch heute noch regelmässig, erzählt er an einer Strassenkreuzung nahe seinem Zuhause. Jedes Mal, wenn er vom Blutspenden nach Hause fahre, investiere er das Geld, das er dafür kriegt, in einen Strauss – oder in einen neuen Haarschnitt.
1995 kam das erste von sechs Kindern zur Welt. Da war Voigt noch weit weg vom Legendenstatus, den er heute hat. Er hatte noch nicht mal einen Profivertrag. Diesen erhielt er erst 1997 in der zweiten Liga beim Team ZVVZ-Giant-AIS. ZVVZ ist ein tschechischer Klimaanlagen-Hersteller, der viel Umsatz im Nahen Osten machte. Angeblich passte das den USA überhaupt nicht. «Die Amis befürchteten, dass Saddam Hussein seine Massenvernichtungswaffen mit den Geräten kühlt», erklärt Voigt. Der Druck der USA wurde zu gross und das Geschäft mit dem nahen Osten war zu wichtig: also zog sich ZVVZ aus dem Profisport zurück – und Voigts erstes Team war schon wieder Geschichte. Danach wechselt Voigt in französische Equipen. Der Rest dürfte den meisten bekannt sein. Der quirlige Junge war fortan vor allem in Fluchtgruppen anzutreffen und fuhr zu 44 Profisiegen. Er trug bei der Tour de France das gelbe Trikot.
Voigt ist heute Experte bei Eurosport und noch immer fit. 5000 Kilometer fährt er jährlich mit dem Velo. Locker pedalt er den Teufelsberg hoch, Berlins höchster Berg. Wir könnten Jens Voigt noch ewig zuhören, wenn er aus seiner Karriere berichtet, als wir uns über den Dächern Berlins auf eine Holzbank setzen. Beispielsweise vom Überlebenscamp mit Fabian Cancellara, den sie damals «den Dicken» nannten. Oder wie er mit Tom Boonen Pläne schmiedete, um die Tour de Suisse abzubrechen, um in Berlin ein Foo-Fighter-Konzert zu besuchen – und von Teamchef Bjarne Riis zurückgepfiffen wurde. Oder wie er von Lance Armstrong zweimal gefragt wurde, ob er in sein Team wechseln wolle. Doch Voigt fand: «Nein, mit dem, was ihr da macht, will ich nichts zu tun haben.»
Aber nun muss Voigt noch den Rasen mähen. Vorher verrät er uns aber noch, dass er sich vor den wichtigen Rennen noch immer die Beine rasiert. Natürlich zum Kommentieren.