Bini eint seine zerstrittenen Landsleute
Ein Etappensieg am Giro d’Italia, drei Etappensiege an der Tour de France und das grüne Punktetrikot des besten Sprinters: Biniam Girmay, 24 Jahre jung, aus Eritrea, ist der beste Velofahrer, den das kleine Land am Horn von Afrika je hervorgebracht hat. Das ist kein Zufall: Velofahren ist in Eritrea seit mehr als einem halben Jahrhundert sehr populär. Aber das Land, das mit eiserner Hand von Langzeitherrscher Isayas Afewerki regiert wird, ist politisch tief gespalten. Oppositionelle und Regimetreue liefern sich seit einigen Jahren auch in der Schweiz heftige Kämpfe. Der eritreische Volksheld Biniam Girmay steht mitten in dieser Auseinandersetzung.
Biniam Girmay Hailu, Eritreer, von Beruf Radrennfahrer, also ein sich mit Tempi von bis zu 100 Stundenkilometern auf einem dünnen Carbonrahmen und zwei Laufrädern die Alpenpässe hinunterstürzender Profisportler, fläzt sich in einem abgewetzten Sessel und grinst. Seine Grossmutter erzählt gerade, ohne die Mundwinkel zu verziehen, dass sie eigentlich die bessere Radfahrerin sei als ihr Enkel: «Als ich jung war, konnte mich niemand schlagen. Nicht einmal du.» Biniam Girmay schmunzelt. Er gilt zu diesem Zeitpunkt, 2018, als eines der grössten Radsport-Talente in Eritrea.
Sechs Jahre später. In Zürich, am 22. September, 12 Uhr 30. Der Höhepunkt der Strassenweltmeisterschaft ist im Gange. In Kürze treffen die besten Fahrer der Welt in der Stadt ein. Gestartet sind sie knapp zwei Stunden zuvor in Winterthur. Unter ihnen auch Biniam Girmay. Am Zürcher Seebecken, rund ums Bellevue, haben sich rund 200 eritreische Fans eingefunden. Man erkennt die Bini-Fans auf den ersten Blick, weil sie im Gegensatz zu Anhänger:innen aus manchen anderen Ländern keine Scheu haben, die Landesflaggen zu schwingen. Wobei diese Beschreibung den Bemühungen nicht ganz gerecht wird: Eritreische Fans schwingen nicht einfach nur die Flagge, sie hüllen sich darin, sie tragen T-Shirts mit der Flagge über dem Herzen; Schirmmützen, Sonnenschirme, Schals, Halstücher, Kopftücher, Strampelanzüge für die Kleinsten: «Eritrea – my pride». Und auf jedem zweiten Shirt: das Gesicht von Biniam Girmay Hailu. Man kennt sich hier untereinander, man begrüsst sich mit Handschlag und Umarmungen, «Salam». Tigrinya ist in diesen Stunden rund ums Seebecken beinahe die lingua franca.
Rund 40 000 Eritreer:innen leben in der Schweiz. Einige von ihnen sind bereits in den 1970er und 1980er Jahren, während des blutigen Unabhängigkeitskrieges gegen die Besatzungsmacht Äthiopien, hierher geflohen. Die meisten aber sind später gekommen, nach dem erfolgreichen Referendum über die Unabhängigkeit 1993. Als ihnen dämmerte, dass die Souveränität um einen hohen Preis errungen wurde: ein faktisch ewiger Kriegszustand, der das Land psychisch und physisch in Geiselhaft hält, ein Einparteienstaat unter der absoluten Herrschaft des Führers der marxistisch orientierten Eritreischen Volksbefreiungsfront, Isayas Afewerki, ein Verbot unabhängiger Medien, ein Militärund Nationaldienst, den jede Eritreerin, jeder Eritreer leisten muss und der theoretisch unbegrenzt lange dauern kann.
Und ein Regime, dessen langer Arm über die Grenzen hinaus bis in die Diaspora reicht: Zwei Prozent «Aufbausteuer» müssen alle Eritreer:innen auch im Ausland leisten, ein Vorgehen, das regelmässig von Menschenrechtsorganisationen angeprangert wird. Dass es dennoch auch in der Schweiz regelmässig grosse Veranstaltungen gibt, bei denen dem eritreischen Staat gehuldigt wird, ist für Regimegegner: innen unverständlich.
An diesem Sonntag herrscht aber zwischen den Lagern in einer Frage Einigkeit: Wer das Rennen in Zürich gewinnt? Bini natürlich! Radsport interessiere ihn ja eigentlich nicht, Fussballer sei er, sagt ein Teenager mit eritreischen Wurzeln, hoch aufgeschossen und nicht auf den Mund gefallen. Aber wenn Bini, das Aushängeschild Eritreas, in der Schweiz auftritt, ist der Fan-Aufmarsch Pflicht. Bini wird nicht gewinnen. Das ist kurz nach 13 Uhr schon klar. Dieses Rennen ist nicht das Rennen von Biniam Girmay. Er ist ein kräftiger Sprinter, der schnell beschleunigen kann, aber weniger leicht über die Berge fährt.
Die Strecke – 273.9 Kilometer Distanz, 4489 Höhenmeter – ist nicht auf ihn zugeschnitten.
«I like fighting», sagte er einmal, «ich mag es, zu kämpfen». Aber an diesem Tag gibt er den Kampf auf. DNF – did not finish – steht am Abend auf der offiziellen Rangliste hinter seinem Namen und seiner Nummer 109. Seine Fans kümmert das nicht. Der Rennausgang ist für sie sekundär. Bini hat gewonnen, wo er auftritt.
Und das eritreische Regime hat gewonnen, wo Biniam Girmay auftritt. Die Fahnen, die Lieder, die Volksfest-Atmosphäre, die seine Anhänger:innen erzeugen. Das sind Bilder, auf die Langzeitherrscher Afewerki mit Genugtuung blickt. Wenn sich sogar die Diaspora begeistert mit den Insignien des Staates schmückt, kann Eritrea dann wirklich ein Unrechtsstaat sein? Sind dann nicht vielmehr die angeblichen Menschenrechtsverstösse, die von Amnesty International und Human Rights Watch regelmässig angeprangert werden, und die nicht existierende Pressefreiheit (Eritrea belegt Platz 180 von 180 auf der Liste von Reporters sans frontières) Erfindungen von politischen Gegner:innen, «westliche Propaganda»?
«Bini zeigt der Welt, dass es ein anderes Eritrea gibt, ein anderes Afrika.»
Haben
Drei Stunden früher. Solomon und Haben sitzen auf einer Festbank auf dem Bürkliplatz. Auf dem Holztisch stehen einige leere Dosenbiere, der 27-Jährige und der 42-Jährige sind spontan aus Fribourg angereist, beide unverkennbar eritreische Fans: Die Nationalflagge ist präsent. «Die Erfolge von Bini machen uns stolz», sagt Solomon, es sei «magisch», ergänzt Haben. «Bini zeigt der Welt, dass es ein anderes Eritrea gibt, ein anderes Afrika.» Es fühle sich ein bisschen so an, sagt Solomon, wie damals, als er die Lehre in der Schweiz erfolgreich abgeschlossen habe: «Ja, wir Eritreer können arbeiten – und wir können auch Velo fahren!»
Die Erfolge von Girmay scheinen für sie nicht zuletzt den Effekt einer Genugtuung zu haben gegenüber einer Öffentlichkeit, die Eritreer: innen oftmals nur durch ein von Rassismen und Vorurteilen geprägtes Prisma zu sehen scheint: arbeitsscheu, gewalttätig, kulturfremd. Über Politik hingegen wollen sie nicht reden. Sport und Politik – das passe nicht zusammen.
«Ich bin gegen das Regime – aber für Bini.»
Bahabelom
An der Riviera, den sonnengewärmten Treppenstufen hin zur Limmat, sitzen Teklay und Bahabelom. Die beiden sind keine Regime-Anhänger, sie tragen keine Fahnen, Bahabelom trinkt ein alkoholfreies Bier, Teklay wirkt ernst und nachdenklich. Die Sonne blendet ihn, er schirmt die Augen mit der Hand ab. Es ist eine andere Welt als die der fahnenschwingenden Bini-Fans, oder besser: die gleiche Welt, durch eine andere Brille gesehen. Nur bei Girmay scheinen sich die Blickwinkel für einen Moment zu treffen. «Bini ist ein Vorbild für alle Eritreer. Er hat so viel gearbeitet, bei Null angefangen. Wenn er gewinnt, fühlt sich das für mich an, als ob ich gewonnen hätte.» Und Bahabelom fasst zusammen: «Ich bin gegen das Regime – aber für Bini.»
Auf der Quaibrücke steht Okbaab Tesfamariam. Er war Sprecher des Eritreischen Medienbundes Schweiz, einer Art Interessengemeinschaft für die Anliegen der Diaspora, die sich gegen das Regime von Afewerki positioniert. Und er ist Velofan. Er reckt den Hals, beugt den Oberkörper über die Bande, wenn wieder eine Gruppe von Fahrern die Quaibrücke passiert – um dann wieder bedrückt hinüber zum Bellevue zu schauen, zur Gruppe der eritreischen Fans. Das Fahnenschwingen, das bewusste Zurschaustellen der Nationalflagge, der unverhohlene Nationalstolz: «Das alles bringt mich innerlich zum Kochen», sagt Tesfamariam, «an dieser Flagge klebt Blut, dieses Regime frisst Menschen, tötet seine Brüder. Wie kann man auf ein Land stolz sein, das seine Bevölkerung unterdrückt und seine Gegner im Ausland verfolgt?», fragt Tesfamariam rhetorisch.
Wie sieht es bei der Begeisterung für Girmay aus? Kann er die Freude über seinen Erfolg nachvollziehen? Tesfamariam seufzt: «Natürlich, worauf können Eritreerinnen und Eritreer sonst stolz sein, wenn nicht auf Bini?»
Jeder Superstar hat seine Wegbereiter: innen. Vorgänger:innen, die ihm den Pfad geebnet haben. Viele hinterlassen keine Spuren, einige bleiben im kollektiven Gedächtnis haften. Ohne Daniel Teklehaimanot wäre der Erfolg von Biniam Girmay kaum denkbar. Teklehaimanot gewann 2015 den Bergpreis des Critérium du Dauphiné, einer Art Auftaktrennen zur Tour de France. Teklehaimanot war der Vorreiter einer, so sehen es Expert: innen, enorm starken Generation von ostafrikanischen Rennfahrer: innen. Vor den diesjährigen Olympischen Spielen prophezeite Teklehaimanot in einem Interview: «In den nächsten 10, 15 Jahren wird ein afrikanischer Radsportler die Tour de France gewinnen.»
Am Telefon erzählt Goitom, ein früherer Revolutionskämpfer und Dissident der ersten Stunde, noch eine andere Geschichte: «Daniel Teklehaimanot war King of the Mountain. Dann kam er nach Eritrea zurück, sie nahmen ihm seinen Pass weg und er wurde in den Militärdienst eingezogen.» Warum? «Vielleicht hat er Kritik am Regime geübt», mutmasst Goitom. Tesfamariam, der ehemalige Sprecher des Eritreischen Medienbundes Schweiz, sagt: «Daniel lebt noch, das ist das Wichtigste. Aber er will nichts darüber sagen, was genau passiert ist.» Überprüfbar ist das nicht. Tatsächlich aber gab es einen Knick in Teklehaimanots Karriere. Mittlerweile scheint er sich wieder mit dem Regime arrangiert zu haben. Dieses Jahr ist er bloss ein Rennen gefahren: die eritreischen Meisterschaften. Er hat das Rennen nicht beendet.
2015 flohen sieben Mitglieder der eritreischen Nationalmannschaft über die Grenze nach Äthiopien.
Im Herbst 2023 wurde bekannt, dass der eritreische Fussballverband die Männer-Nationalmannschaft von der Qualifikation zur WM 2026 zurückgezogen hat. Eine offizielle Erklärung gab der Verband nie, aber für Beobachter: innen ist der Fall klar: Das Regime hatte Angst, seine Spieler könnten sich bei einem der Auswärtsspiele absetzen. Mehr als 60 Fussballer:innen, rechnet die britische Zeitung «Guardian» vor, haben seit 2009 Auswärtsspiele genutzt, um dem Land zu entfliehen.
Auch Veloprofis nutzten die Gelegenheit. 2015 flohen sieben Mitglieder der eritreischen Nationalmannschaft über die Grenze nach Äthiopien. Das Regime prüft deshalb genau, wer ausreisen darf und wer nicht. Umgekehrt ist die Visa-Vergabe von europäischen Ländern, in denen viele der grossen Rennen stattfinden, oftmals äusserst restriktiv.
Biniam Girmay hatte Glück. Im Sommer 2018, mit 17 Jahren, erhielt er eine Einladung des Weltradsportverbands UCI, an deren Hauptsitz in Aigle VD für mehrere Monate zu trainieren. «Ich erinnere mich an einen jungen Mann, sehr höflich, immer mit einem Lächeln im Gesicht, nie gestresst», sagt sein ehemaliger Trainer, Jean-Jacques Henry, im Gespräch mit Radio Chablais. «Intelligent, sehr aufmerksam, er versteht sehr schnell, was man ihm sagt.» Im Sommer 2018 wurde Girmay Zweiter beim renommierten Aargauer Nachwuchsrennen Grand Prix Rüebliland, bei dem auch schon Marc Hirschi, Mathieu Van der Poel oder Tom Pidcock gewonnen hatten. 2022 folgte der Durchbruch mit dem Etappensieg beim Giro d’Italia, 2023 gewann er die zweite Etappe der Tour de Suisse. Was ihn von all den anderen Talenten abhebt? Bini-Fan Bahabelom nennt es an der Limmat: «Vitamin N – never give up!» Im Sommer 2024 dann der grosse Triumph: drei Etappensiege an der Tour de France, das begehrte grüne Punktetrikot. Bini, der History Maker. Überall der erste Schwarze Afrikaner. So viele Meilensteine.
Wenn man den ganz grossen Bogen schlagen will, fängt diese Geschichte Ende des 19. Jahrhunderts an. Der Scramble for Africa, der wilde, barbarische Beutezug der Kolonialmächte, verschont auch Ostafrika nicht. 1890 reisst sich Italien Eritrea unter den Nagel, um einen Brückenkopf für die angestrebte Eroberung Abessiniens, des späteren Äthiopiens, einzurichten. Knapp 50 Jahre und einen verlorenen Weltkrieg später ziehen die Italiener:innen ab. Neben ästhetisch faszinierenden Gebäuden im futuristischen Stil haben sie auch ihre Begeisterung für den Radsport im Land hinterlassen. Das Land sei «veloverrückt» («a mad cycling country»), erzählt Aron Tesfai.
«Fussball ist beliebt in Eritrea, aber der Radsport ist heilig.»
Aron Tesfai
Tesfai ist Migrationsforscher, er stammt aus Asmara und floh vor mehr als zehn Jahren nach Südafrika. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt er sich mit dem Radsport in seinem Heimatland, schreibt Artikel, verfolgt die Rennen. «Fussball ist beliebt in Eritrea, aber der Radsport ist heilig.» Jeden Sonntag findet in Asmara ein Strassenrennen statt, «dann steht das Leben still», sagt Tesfai. Es sei einfacher, die Tour de France zu gewinnen, als eritreischer Champion zu werden, soll Bini einmal gesagt haben – derart gross ist der Talentpool im kleinen Land am Horn von Afrika. Eritreische Fahrer – die weibliche Radsportszene hinkt demgegenüber hinterher – dominieren seit Jahrzehnten Wettbewerbe in Ostafrika und auf dem ganzen Kontinent. Seit 2010 kam der Sieger der afrikanischen Strassenmeisterschaft in neun von 13 Fällen aus Eritrea. Dabei beruht der Erfolg nicht einmal auf einer besonders gelungenen Nachwuchsförderung, wie Okbaab sagt, im Gegenteil: «Viele talentierte Sportler werden vom Regime kaputtgemacht.» Der eritreische Radsportverband hat auf Anfragen nicht geantwortet.
Nach der Tour de France 2024 erschien auf Arte eine vielbeachtete Dokumentation des belgischen Filmemachers Lieven Corthouts. Corthouts begleitete Biniam Girmay während sieben Jahren mit der Kamera: vom aufstrebenden Talent bei den staubigen Strassenrennen von Asmara über die Zeit im UCI-Center in Aigle und den Wechsel zum Profiteam Intermarché-Wanty bis hinein in die Gegenwart: zum Triumphzug an der Tour de France. Corthouts Kamera ist manchmal quälend nahe dran, man sieht Girmay in Frankreich in einem Hotelzimmer, wie er mit seiner Frau und Tochter telefoniert, ein paar Tausend Kilometer voneinander entfernt, die Einsamkeit ist in diesen Momenten durch den Bildschirm spürbar, die Distanz zur Familie, zur Heimat, die langen Tage im regnerischen Frankreich. «Wenn du einen Traum hast», sagt Girmay einmal, «musst du bereit sein, Opfer zu bringen.»
Die Radsportbegeisterung wurde ihm in die Wiege gelegt: Sein Cousin und sein grosser Bruder sind beide professionelle Radfahrer. Und schon Girmays Grossmutter fuhr Velo – die eingangs beschriebene Szene stammt aus ebendieser Dokumentation. Ein Thema jedoch wird den ganzen Film hindurch derart konsequent ausgespart, dass es fast schon schmerzt: die Politik. Kein Wort von den inhaftierten Journalist:innen, kein Wort von den Repressalien, denen Oppositionelle auch im Ausland ausgesetzt sind, kein Wort von der Zwangsarbeit, die dem Land den Übernamen «Nordkorea Afrikas» eingebracht hat.
Kann Schweigen auch eine Form von Widerstand sein? Nach seinem Erfolg an der Tour de France wurde Girmay ein regelrechter Staatsempfang zuteil. Autokorsos bildeten sich in Asmara, der 24-Jährige fuhr in einer offenen weissen Limousine durch die Stadt, die Menschen jubelten am Strassenrand. Biniam Girmay überreichte das grüne Bergpreistrikot der Tour de France dem Langzeitherrscher Isayas Afewerki.
Gegen das Regime ausgesprochen hat sich Girmay nie, viel zu gefährlich, sagen alle unsere Gesprächspartner. «Er würde alles verlieren», sagt Bahabelom. «Was Bini selber wirklich über das Regime denkt, werden wir wohl nie erfahren, solange Afewerki an der Macht ist», sagt Migrationsforscher Tesfai. Dissident Goitom hingegen sagt: «Bei einem seiner ersten grossen Siege sagte Bini: ‹Ich widme diesen Sieg meinen Eltern. Meiner Familie, allen Afrikanern.› Er widmete ihn nicht dem eritreischen Regime oder gar Afewerki.» Goitom ist überzeugt: «Das war ein politisches Statement.» Wenn auch ein verklausuliertes. Gerne hätte «Gruppetto» mit Girmay persönlich gesprochen, aber er reagierte auf mehrfache Anfragen nicht.
Spätestens mit den Etappensiegen an der Tour de France ist Biniam Girmay über Eritrea hinausgewachsen. Er ist mit gerade mal 24 Jahren der mit Abstand bekannteste Eritreer – noch vor Diktator Afewerki. Würden einzig die kapitalistischen Gesetze des Profisports gelten, könnte er seinen Wohnsitz im Steuerparadies Monaco aufschlagen, die ganze Familie nach Europa holen, an seiner Karriere feilen, sich selber ein persönliches Denkmal bauen und von Zeit zu Zeit das eritreische Nationaltrikot überstreifen, ohne damit mehr als den gewöhnlichen metaphysischen Schauer der Heimatverbundenheit zu empfinden.
In einem Land aber, in dem weder die geistige noch die politische Freiheit gewährt ist, ist das keine Option. So ist er zwar berühmt, aber gleichzeitig eine Art Staatseigentum. Eine Ikone, die angebetet wird, solange sie siegt und kein kritisches Wort über ihre Lippen kommt, die aber jederzeit abgehängt oder exkommuniziert werden kann, sollte sie Widerspruch wagen.
Der Radsportzirkus wird gerne als Familie bezeichnet. Die Stars sind an den Rennen zum Anfassen nahe. Es kann sein, dass man bei einer Ausfahrt rund um Zürich einem Veloprofi beim Training über den Weg fährt – in welcher anderen Sportart passiert das schon? Dass in Eritrea der Vorname gebräuchlicher ist als der Nachname, passt wunderbar in dieses Narrativ der Nahbarkeit. Wenn Fans über Bini sprechen, tönt es, als würden sie über einen Freund, einen Verwandten oder Nachbarn sprechen.
Girmay ist 24 Jahre jung, und doch sieht er älter aus. Als hätten nicht nur die vielen Leben des Biniam Girmay alle ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, sondern auch die vielen Erwartungen seiner Fans. Radsportprofi, eritreischer Nationalheld, schon jetzt laut dem «New African Magazine» einer der 100 Most Influential Africans, Ehemann, Vater.
Nächstes Jahr finden die Veloweltmeisterschaften in Kigali, Ruanda statt. Zum ersten Mal in der über 100-jährigen Geschichte wird die WM auf dem afrikanischen Kontinent ausgetragen. Die Hoffnungen sind gross. Und sie ruhen zu einem grossen Teil auf den Schultern von Biniam Girmay, dem «Emblem für Afrika», wie ihn Dissident Goitom nicht ohne Stolz nennt. «Veni, vidi, Bini», wie ein TV-Kommentator einst schrie.