El Suizo colombiano

Simon Pellaud hat sich einst als Ausreisser in die Herzen der Velofans gefahren. Gerade erfindet sich der Walliser neu – ein welt­umspannendes Vorhaben.

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Statt über gut befestigte Strassen fährt Simon Pellaud öfter über holprige Pfade. Tudor will ihn nicht mehr im Strassenteam, gibt ihm aber einen Gravel-Vertrag. (Foto: Anoush Abrar)

Velofahrer:innen, die in Kolumbien aufwachsen, ziehen früher oder später nach Europa, wenn sie eine Profikarriere anstreben. Simon Pellaud ist da anders. Er ist im Wallis oberhalb von Martigny aufgewachsen und war mit 24 Jahren Profi, als er 2016 das erste Mal für ein Trainingslager nach Kolumbien flog. Das Land gefiel ihm so gut, dass er bereits ein Haus gebaut hatte, als wir ihn drei Jahre später das erste Mal in Kolumbien trafen. Er trainierte mit anderen Profis wie der Niederländerin Annemiek van Vleuten in Santa Elena, einem Bergdorf oberhalb der Grossstadt Medellín, rund 2600 Meter über Meer, wo auch sein Haus steht. Während van Vleuten mit der dünneren Luft zu kämpfen hatte, spürte Pellaud sie damals im Dezember 2019 kaum mehr. In seiner Social-Media-Biographie stand «El Suizo colombiano». Was auf Deutsch so viel wie «der kolumbianische Schweizer» heisst.

Oder ist er mittlerweile ein schweizerischer Kolumbianer geworden?

Um das herauszufinden, rufen wir Pellaud jetzt, sechs Jahre später, an und erreichen ihn per Videocall in Santa Elena. «Die Hälfte des Jahres verbringe ich hier in Kolumbien», sagt der 32-Jährige mit helvetischer Neutralität, während er den dampfenden Inhalt eines Mokka-Kaffeekochers in einen Becher giesst. Es ist acht Uhr morgens und Pellaud ist gerade mal eine halbe Stunde wach. Es ist sein erster Kaffee des Tages. «Einer meiner besten Freunde hier hat eine Kaffee-Plantage», sagt er. Der Weg von der Pflanze in die Tasse ist wohl bei nur wenigen Velofahrer:innen so kurz wie bei Simon Pellaud. Dass er von einer koffeinhaltigen Direktlieferung profitiert, kommt nicht von ungefähr. Er erzählt von Susana, seiner Freundin, die er vergangenes Jahr geheiratet hat und die ein wichtiger Grund dafür ist, dass er sich in Santa Elena zuhause fühlt. Pellaud und Kolumbien, das ist eine bald zehnjährige Liebesbeziehung, die derzeit mehr Ferne erdulden muss als auch schon.

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Simon Pellaud ist heute nur noch selten im Wallis, wo er aufgewachsen ist. Für einen Fototermin können wir ihn diesen Frühling dennoch treffen. (Foto: Anoush Abrar)

Pellaud wirkt an diesem Morgen noch müde, als er in die Kameralinse seines Laptops spricht. Rastlos waren die vergangenen Wochen und Monate. Viel Zeit in der Schweiz und Europa verbringt der Walliser derzeit nicht. In diesem Jahr war er nonstop zwischen den Kontinenten unterwegs: Südamerika, Nordamerika, Asien, Europa. Die Internetseite von Pro Cycling Stats listet allein in der ersten Jahreshälfte 2025 Rennstarts in neun verschiedenen Ländern auf.

Ein solches Nomadendasein führen viele Profisportler:innen. Im Fall von Simon Pellaud ist es heute aber nicht mehr ganz so fremdgesteuert durch Trainer oder Teams. Sein Leben 2025 ist vielleicht der radikalste Entwurf zweiradelnder Freiheit, den der Schweizer Radsport derzeit zu bieten hat. «Ich lebe das Velofahren so, wie ich es will», sagt Pellaud und nimmt einen Schluck Kaffee.

Angefangen hat das mit zwei einschneidenden Erlebnissen. Es ist die Geschichte von Verlust und Niederlage, aus der gerade etwas Neues entsteht. Als Gino Mäder infolge eines Unfalls am Albulapass am 16. Juni 2023 im Alter von 26 Jahren starb, trauerte die gesamte Radsportwelt. Pellaud verlor mit Mäder nicht nur einen Kollegen in der Nationalmannschaft von Swiss Cycling, sondern auch einen langjährigen Freund. Der Tod Mäders sei «wie ein Tsunami» über ihn hereingebrochen und habe bis heute «Spuren hinterlassen», erzählt Pellaud. Er spricht leise, bedacht und zugleich wie jemand, der nach einem Schlag in die Magengegend um Luft ringt. Auch zwei Jahre nach dem Unfall. «Ich dachte damals ans Aufhören», sagt Pellaud rückblickend. «Mir wurde bewusst: Du setzt in jeder Kurve dein Leben aufs Spiel. Die Risiken sind enorm.» Und sie nähmen mit den jährlich steigenden Geschwindigkeiten bei den Rennen der WorldTour, der höchsten Kategeorie im Radsport, noch zu. Eine Entwicklung, der sich auch Pellaud nicht verschliessen kann. «Sie fahren einfach zu schnell für mich», sagt Pellaud, wenn er die heutige WorldTour in den Blick nimmt. Es ist entwaffnend ehrlich.

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Kaum jemand betreibt den Radsport vielseitiger als er: Simon Pellaud fährt Rennen im Gravel, Mountainbike und weiterhin auf der Strasse. (Foto: Anoush Abrar)

Der Walliser erlebte den Aufbau des Schweizer Teams Tudor von Beginn an mit und stand dort 2023 und 2024 unter Vertrag. Dann zündete der Rennstall die nächste Brennstufe und verpflichtete Stars wie Julian Alaphilippe und Marc Hirschi. Für 2025 plante Tudor ohne Pellaud im Profi-Team. Auf dem Papier ist es das wenig ruhmvolle Ende einer Karriere, die kalte Logik des modernen Leistungssports.

Es hierbei zu belassen, würde aber dem Wesen Simon Pellauds nicht gerecht. Er hat sich in seiner bisherigen Karriere nicht durch gute Ergebnisse in die Herzen seiner Fans gefahren, sondern durch Mut, Schalk und eine Portion Humor. Pellaud ist zwar erst 32 Jahre alt, aber ein Veloromantiker alter Schule, ein «baroudeur», wie es auf Französisch so schön heisst, der in einem Rennen alles auf eine Karte setzt und in die Fluchtgruppe geht. Auch wenn es aussichtslos erscheint. Einer, der stets den Moment geniesst und nicht nur dem Erfolg hinterherjagt. Pellaud ist einer, der mit «grinta» fährt, wie es die Italiener:innen nennen. Mit Kampfesmut. Oder einer, der sich als «gregario» in den Dienst der Mannschaft stellt, als ein Helfer.

«Der Tod von Gino Mäder brach wie ein Tsunami über mich herein und hinterliess Spuren.»

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Für das Wilde und Unberechenbare sieht Pellaud im Radsport der Gegenwart immer weniger Raum. Beim ständigen Ausloten der Grenzbereiche des Athleten und seines Materials gehe ihm etwas verloren. «Ich bin heute auf der Suche nach einer menschlicheren Art des Velofahrens», sagt der Walliser nach elf Jahren Profikarriere im Strassenradsport.

Was er damit meint, erklärt er anhand einer Metapher: «Als Velofahrer bist du heute wie ein Schwimmer, der nur noch das Becken sieht und Kacheln und Linien zählt.» Das Velo, die Ernährung, die Leistungsmessung – alles austauschbar, normiert und irgendwie beliebig. Eintauchen, auftauchen, umziehen, weiterziehen. 

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Heute gehts mit dem Gravel-Velo raus. Simon Pellaud in der Garage im Wallis. (Foto: Anoush Abrar)

Pellaud, der Nonkonformist und Lebenskünstler. Pellaud, der ohne Vertrag dasteht und händeringend einen Plan B sucht. Irgendwo dazwischen liegt wohl die Wahrheit. Pellaud hat sich auf jeden Fall seit 2025 für einen Lebensentwurf entschieden, bei dem er viele Dinge anpackt, die er «so noch nie zuvor gemacht» habe. Sein Radsport-Dasein erstreckt sich über drei grosse Bereiche: Gravel, Strasse, Mountainbike. Doch der Reihe nach.

«Als Velofahrer bist du heute wie ein Schwimmer, der nur noch das Becken sieht und Kacheln zählt.»

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Pellaud ist wieder bei Tudor engagiert, allerdings in der neu gegründeten Gravel-Equipe. Gravel sei «mehr als nur ein Trend», es handle sich um eine wachsende Disziplin, von der man sich als Team einiges erhoffe, teilte Tudor bei der Lancierung in diesem Frühjahr mit. Er sei immer treu und verlässlich gewesen, sagt Pellaud über sein Verhältnis zum Team. Umso stärker nagte es an ihm, als die Gegenseite diese Treue aufkündigen wollte. Das habe ihm «schlaflose Nächte» bereitet, erklärte er dem niederländischen «Wielerflits»-Magazin. Umso stärker sei seine Motivation, jetzt im Gravel-Bereich durchzustarten und seine Erfahrung, Renninstinkt und Technik in zählbare Erfolge zu verwandeln.

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Die Vegetation ist anders als in Kolumbien, der Sport derselbe. (Foto: Anoush Abrar)

Pellaud wird für sein Engagement bezahlt, lässt aber zugleich durchblicken, dass der Betrag eher als Budget für Reisen und Verpflegung ausreicht. Zudem nutzt er weiter die Velos der Marke BMC, mit der Tudor eine Partnerschaft eingegangen ist.

Doch anstatt mit einer Entourage, die an alles denkt, reist Pellaud nun in Eigenregie an die Rennen. So, wie er es sich vorgestellt hat. Er tüftelt am richtigen Reifendruck, experimentiert mit verschiedenen Schuhen und Pedalen, um wettbewerbsfähig zu sein. In Kalifornien schläft er nicht im Hotel, sondern bei einem Bekannten – in Colorado gar in einem alten Bus. In den USA ist er in diesem Jahr häufiger, weil er am Life Time Grand Prix teilnimmt. Mitte August ist er Zweiter des Gesamtklassements. Das Besondere dieser Rennserie: Die eine Hälfte der sechs Wettkämpfe wird auf dem Mountainbike bestritten, die andere auf dem Gravelbike. Beim legendären Unbound-Rennen, das Teil der Serie ist, konnte er den zweiten Platz herausfahren. Seine Saison sei bislang «exzellent» verlaufen, sagt Pellaud. Und fügt an: «Je vis la vie», was wohl keiner Übersetzung bedarf.

Eine weitere Facette seiner Karriere: Er fährt für das unterklassige chinesische Strassenveloteam Li Ning Star. Dort ist er nicht nur Fahrer, sondern Teamleader und Sportlicher Leiter in Personalunion. Velo-Entwicklungsarbeit in Fernost. Oder wie Pellaud es ausdrückt: «Eine kulturell komplett andere Welt, die sich mir eröffnet.» Er fährt Rennen in ganz Asien. Ein Grund mehr, warum Pellaud derzeit aus Koffern lebt. Einen habe er permanent in China, der andere sei ein Gravel-Koffer, der ihn an die Offroad-Rennen um die halbe Welt begleitet.

Wenn er diese weltumspannende Logistik erklärt, wirkt Pellaud für einen Moment doch eher getrieben als gelassen. Die Bürde der Selbstverwirklichung. Und er spürt, dass die Zeit rennt: Im November wird er 33 Jahre alt, und auch im Gravel-Bereich wird die Leistungsdichte höher, grosse Marken drängen in den Sport. «Es wird immer schwerer für mich, ein Gravel-Rennen zu gewinnen», sagt Pellaud mit einer Direktheit, die ihn auszeichnet. Denn Gravel ist für viele Ausnahmekönner eine Option geworden, um ihre Karriere nicht nur ausklingen zu lassen, sondern ihr vielleicht sogar eine neue Wendung geben zu können. So hat unlängst der französische Bergspezialist Romain Bardet angekündigt, nach Ende seiner Strassenkarriere auch auf dem Gravelbike um Siege fahren zu wollen.

Die Szene ist vorgewarnt. «Ich muss mich beeilen», sagt Pellaud.

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