Die Software der Queen

Die polnische Programmiererin Karolina Migoń lebt in der Schweiz und ist eine der besten Gravel-Fahrerinnen der Welt. Doch der Preis der vielen Siege ist hoch.

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(Bild: Janosch Abel)

Text: Nuria Langenkamp

Fotografie: Janosch Abel

Wenn Karolina Migoń ihren Velohelm für einmal auszieht, fallen ihre braunen Haare kreuz und quer. Die 29-jährige Polin streicht einzig ihre vorderen Strähnen hinter die Ohren, als wir sie Anfang August in einer Kiesgrube im Greyerzerland treffen. Sie lacht laut, herzlich und viel. Gründe dazu hat sie genug. Migoń gilt als eine der besten Gravel-Fahrerinnen der Welt.

Dieses Jahr gewann sie mit Unbound 200 und Traka 360 zwei der wichtigsten Rennen dieser relativ neuen Disziplin, deren Rennstrecken durch Matsch, über Wurzeln und Wiesen und immer wieder über Schotter und Kies, auf Englisch Gravel, führen. Und schon vergangenes Jahr gewann sie das Traka-Rennen und die Rennserie Gravel Earth. Dabei fährt sie erst seit drei Jahren Gravel-Rennen.

Doch der Grat zwischen Abheben und Abstürzen ist schmal. Wenige Wochen nach unserem Treffen muss Migoń das Gravel-Rennen Core4 im US-amerikanischen Iowa aufgeben. Schon 30 Minuten nach dem Start kann sie wegen Bauchkrämpfen und Dehydrierung nicht weiterfahren. Sie schreibt später auf Instagram: «Manchmal sagt der Körper einfach Nein.» Das Scheitern ist ungewohnt für Migoń. Lange war ihre Gravel-Karriere eine einzige Erfolgsgeschicht

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Gravel ist das englische Wort für Kies. Kaum eine Frau fährt auf diesem Untergrund schneller als Karolina Migoń. (Bild: Janosch Abel)

Sie beginnt im Februar 2022, nach dem Umzug von Krakau in Polen nach Pully im Kanton Waadt. Sie spricht neben Polnisch Englisch und lernt gerade Französisch. Als Software-Ingenieurin programmiert sie meist im Homeoffice vier Tage die Woche Anwendungen für Ingenieur:innen und Cybersicherheits-Tools. Zur Mittagszeit wird sie zur Athletin. «Eine Ampel, und dann bin ich in der Natur», sagt sie. Ihr Mittagessen isst sie im Sattel.

Sie ist in die Schweiz gekommen, weil sie schon immer im Ausland leben wollte und weil ihr Ehemann Jan in einer Firma arbeitet, die einen Sitz in Krakau und einen in Lausanne hat. Wie sie ist auch er 29 Jahre alt, wie sie ist auch er Software-Ingenieur. Sie lernten sich im Robotik-Studium kennen. Beim ersten Date gingen sie zusammen Rennvelo fahren – damals, als sie noch an Strassenrennen teilnahm. Jan Migoń mietete dafür extra ein Rennrad. Karolina Migoń sagt: «Es war ein Wunder, dass er überhaupt einen Helm besass.» Die Schweiz will sie nicht mehr verlassen. «Ich liebe die Berge», sagt sie.

«Ich habe hart gearbeitet,um wieder zu gewinnen.»

Karolina Migoń

Polens Schotterstrassen kennt Migoń hingegen nicht. Mit dem Graveln hat sie erst in der Schweiz begonnen. Die Euphorie, in der Natur zu sein, weite Strecken zurückzulegen und mit den Bergen zu verschmelzen, treibe sie an, sagt sie. Schnell sei sie besser und mutiger geworden. In den letzten Jahren war sie bei Rennen beinahe unschlagbar. Ist es ihr Ehrgeiz oder ihre Schmerztoleranz, was den Unterschied macht? Ihr Mann Jan Migoń sagt: «Ich kenne niemanden, die so viel Schmerz ertragen kann wie sie. Das ist ihre grösste Stärke.»

Karolina Migoń sagt über sich selbst: «Wenn sich das Ergebnis lohnt, ist Schmerz schön.» Mentaltraining macht sie keines. Kommt ihr Körper in Fahrt, folgt der Kopf. «Ich will einfach schnell sein», sagt sie. Ist das nicht möglich, verpasse sie ein Rennen lieber. Mit Gedanken, die sie bremsen, befasse sie sich gar nicht erst. Nur, was sie schneller macht, zählt für sie – der Rest verschwinde aus dem Kopf. Ihr Fokus lässt sie gewinnen.

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(Bild: Janosch Abel)

Im Gravel-Sport, in dem weniger Geld von Sponsoren steckt als im Strassenradsport, gibt es noch nicht sehr viel zu gewinnen. Aber immerhin das, was sie so sehr liebt: auf dem Podest zu stehen.

Im April, noch vor den wichtigen Gravel-Rennen, sagt Karolina Migoń am Telefon: «Für mich ist es neu, mich als Athletin zu bezeichnen.» Dabei sind seit dem letzten Jahr alle Kameras und Augen auf sie gerichtet. Ab Mai, rechtzeitig zum Start des Traka-Gravel-Rennens in Spanien, nimmt sie sich einen fünfmonatigen Urlaub von ihrem Programmierjob.

Kurz darauf, am 2. Mai 2025, begegnen wir ihr frühmorgens in einem Park in der Stadt Girona in Katalonien, im Osten Spaniens. Es riecht nach Rasen. Nur das Surren der Freiläufe der Fahrräder durchdringt die Stille. Auf einem grossen Gelände stehen Hunderte Gravel-Fahrerinnen hinter der Startlinie. Es ist kühl, doch der Tag wird warm werden. Aus einem Lautsprecher dringt eine Stimme, die die Sekunden bis zum Start des Traka zählt. Karolina Migoń klickt den Schuh in ihr Pedal ein. Gleich wird sie sich 360 Kilometer durch den Dreck kämpfen.

Kurz darauf, am 2. Mai 2025, begegnen wir ihr frühmorgens in einem Park in der Stadt Girona in Katalonien, im Osten Spaniens. Es riecht nach Rasen. Nur das Surren der Freiläufe der Fahrräder durchdringt die Stille. Auf einem grossen Gelände stehen Hunderte Gravel-Fahrerinnen hinter der Startlinie. Es ist kühl, doch der Tag wird warm werden. Aus einem Lautsprecher dringt eine Stimme, die die Sekunden bis zum Start des Traka zählt. Karolina Migoń klickt den Schuh in ihr Pedal ein. Gleich wird sie sich 360 Kilometer durch den Dreck kämpfen.

«Der Druck war sehr hoch», sagt Migoń später beim Treffen in der Kiesgrube in Greyerz, «ich habe hart gearbeitet, um wieder zu gewinnen.» Ihre Erwartungshaltung begleite sie stets. Vielleicht trieb sie dieses quälende Gefühl an. Das Privileg der Newcomerin hat sie verloren, jetzt wird es nur noch härter für sie. Gewinnt sie nicht, enttäusche sie sich selbst am meisten, sagt Karolina Migoń.

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(Bild: Janosch Abel)

Das Gravel-Velofahren gilt als niederschwellig und alternativ. Verschiedene Teams kamen in den letzten Jahren auf, die diesen Spirit verkörpern. Das Racing-Circle-Team der Velomarke Rose zum Beispiel oder das Enough Cycling Collective der Radsportmarke Basso. Migoń fährt für PAS Racing, ein Team der dänischen Kleidermarke Pas Normal Studios. Die Szene habe sich zwar professionalisiert, doch diese Teams würden noch immer den lockeren Charakter leben, sagt Karolina Migoń.

Locker heisst: Die Fahrer:innen scherzen an Rennen, geben ihre Erfahrungen und Tipps weiter, aber auch ihre Wattzahlen und Pulswerte – bei Strassenradrennen ein von vielen Profis gut gehütetes Geheimnis. Wie neue Fahrer:innen ihren Weg ins Team finden, scheint meist über persönliche Kontakte zu laufen – oder jemand fällt auf einer Ausfahrt in der Gruppe auf.

So war es bei Karolina Migoń. Als sie in die Schweiz kam, wollte sie die Umgebung und die Menschen in der Region Lausanne kennenlernen. «Hier sind so viele Leute sportlich», sagt sie. Sie begann mit gemütlichen Social Rides und steigerte sich bis zu 300 Kilometer langen Gravel-Touren. Ein Vertreter von PAS Racing sei auf sie aufmerksam geworden, erzählt sie. Ihr erstes Gravel-Rennen, die Tortour Gravel in Zürich, gewann sie 2022 auf einem Testvelo. Das Team PAS Racing nahm sie unter Vertrag: «Es war ein Experiment», sagt Migoń. Im Team habe sie Freund:innen gefunden, «die genauso gerne leiden wie ich». Das Team verstehe sich als Gemeinschaft, die sich nicht den üblichen Zwängen des Radrennsports angleichen will.

Während die Rennen der Gravel-Earth-Serie auf das Beisammensein unter Gravel-Athlet:innen setzen, spürt Migoń den Leistungsdruck an Rennen der Serie UCI Gravel World stärker, weil die Regeln denjenigen der Strassenvelorennen ähnlicher und weniger auf die Gravel-Disziplin ausgerichtet seien. Migoń hat sich wie schon im Jahr zuvor für das höchste UCI-Rennen, die Gravel-Weltmeisterschaft, qualifiziert. Doch sie sagt: «Ich will gar nicht an der WM teilnehmen.» Solche «kommerzialisierten Rennen», organisiert vom Weltradsportverband UCI, entsprächen nicht dem Gravel-Spirit, den sie so schätzt. Im Jahr 2024 fuhr sie auf Platz 43.

PAS Racing bezahlt die Reisen der Athlet:innen und die Sponsoren des Teams das Material. Ob und wie viel Lohn sie erhält, möchte Migoń nicht sagen. Dieses Jahr musste sie jedenfalls noch eigene Sponsoren finden. Für Siege erhält sie von jenen Boni, gewinnt sie eine ganze Gravel-Serie, wie letztes Jahr Gravel Earth, liegen die Prämien meist im vierstelligen Bereich. Obwohl es für Karolina Migoń finanziell gut aufginge, wenn sie nur Rennen fahren würde, ist das für sie keine Option. Sie sei sehr gerne Software-Ingenieurin und könne sich höchstens vorstellen, auf eine 50-Prozent-Stelle zu reduzieren.

Sich Athletin zu nennen, war für Karolina Migoń bei unserem ersten Gespräch neu. Doch nach dem zweiten Sieg beim Traka 360 ist es schon Alltag. Erfolge haben aber ihren Preis: Der ständige Druck, auf das Podest zu fahren, fordert Migoń. Was einst ein Ziel war, wird zur Pflicht. Doch ohne Ziel würde Karolina Migoń nicht trainieren, sagt sie. Sie zweifelt daran, ob das ein guter Ansatz ist, doch sie sagt: «Ich bin eine Rennfahrerin, also stehe ich an der Startlinie, um zu gewinnen.»

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(Bild: Janosch Abel)

So auch am Unbound Gravel, dem grössten und prestigeträchtigsten Rennen im Gravel-Sport. Ende Mai fährt sie in Emporia, einer kleinen Stadt im US-Bundesstaat Kansas, 325 Kilometer in praller Sonne durch den Staub.

Nach 10 Stunden, 3 Minuten, 54 Sekunden rollt Karolina Migoń ins Ziel. Eine Hand am Lenker, die andere vor dem Gesicht. Sie kann es nicht glauben. 80 Kilometer vor der Ziellinie attackierte sie und gewinnt mit einem Geschwindigkeitsrekord. Sie wird zur «Queen of Unbound».

Nach weiteren Rennen in den USA kehrt sie im Juli zurück in die Schweiz. Sie fährt das Rennen Hegau Gravel im deutschen Singen, eines der UCI-Gravel-Serie. Doch sie spürt, dass sie ihre gewohnte Leistung nicht abrufen kann. Am Ende reicht es nur für Platz 5. Ist das schlecht? «Es ist kein Podestplatz», sagt Karolina Migoń. «Ich war so müde von allem.»

In der Schweiz, packt sie ihren Helm, die Velobrille, ihr Gravel- und ihr Strassenrad ins Auto. Sie lässt ihr PAS-Racing-Outfit zuhause, verabschiedet sich und steigt ein.

Alleine fährt sie über 15 Stunden zu ihrer Familie nach Polen. Doch ihr Auto hat mitten auf der Strecke eine Panne. Es muss abgeschleppt werden. In Polen verkauft sie es später. Bei ihrer Familie in einem kleinen Dorf nahe Krakau angekommen, verbringt sie Zeit mit ihrem Bruder, spricht mit ihm wie gewohnt über Computertechnik. Ihr Bruder sei derjenige, der sie dazu motiviert habe, wie er selbst Software-Ingenieur zu werden. Schon als Kind wollte sie immer besser sein als er. Nur zwei Tage später packt Karolina Migoń ihr Strassen- und Gravelrad, ihre Velobrille und ihren Helm in ein Mietauto und fährt wieder zurück nach Pully. Sie hat die Zeit zuhause schon völlig verplant und möchte ihre Termine nicht mehr absagen.

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Schmerzen zu ertragen, ist eine grosse Stärke von Migoń. (Bild: Janosch Abel)

Später entscheidet sie, sich vom Rennen The Rift in Island abzumelden. Sie ruft zuerst ihren Teamkollegen Tobias Kongstad an, der das Team managt. Er unterstützt sie bei der Entscheidung. Ihr Mann Jan erinnert sich: «Sie war sehr erleichtert.» Er sagt, die Absage habe sie nie bereut, trotzdem habe sie das Rennen live auf dem Smartphone mitverfolgt. Auf dem Foto, mit dem sie die Absage Mitte Juli in den sozialen Medien verkündet, wirkt sie ernst. Sie schreibt, dass sie mental Abstand vom Rennfahren brauche. Auch ihr ansteckendes Lachen scheint eine Pause zu machen.

Beim Rennen in Island, davon geht Karolina Migoń aus, wäre der Körper wie in Singen nicht bereit gewesen. Sie erhole sich am besten zuhause. Die Schweiz sei für sie Heimat geworden, sagt sie. Seit sie Urlaub hat, versinke sie manchmal daheim in einem Buch oder werde beim Backen kreativ. Ansonsten treffe sie Freund:innen, manchmal ohne Velo, meistens aber mit.

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Auch für Karolina Migoń folgt nachdem Gipfel die Abfahrt. (Bild: Janosch Abel)

Nach ihrer Auszeit in Pully kehrte auch ihr Lachen zurück. Als wir sie im August treffen, trägt sie ihr PAS-Racing-Outfit wieder. Sie bereitet sich auf das Rennen Core4 in Iowa vor, das eine Woche danach stattfinden wird. Wir fragen später bei ihrem Mann nach: Wie wirkte sie, als sie in die USA aufbrach? «Erholt», meint Jan Migoń. Die Regeneration sei ihr gelungen, weil sie ein Profi im Zeitmanagement sei. Immer nach einer Trainingseinheit esse sie gut, dann stelle sie sich einen Timer auf 30 Minuten und schlafe sofort ein: «Das ist ihre Geheimwaffe.»

Doch diesmal haben weder Jan noch Karolina Migoń Recht. In Iowa durchlebt sie erstmals im Kopf, was sie vom Velofahren kennt: Auf jeden Gipfel folgt eine Abfahrt. Danach soll es wieder aufwärts gehen, wenn auch erst nach einer kurzen Pause.

Athletin zu sein, ist für Karolina Migoń längst nicht mehr neu. Neu sind für sie aber die Strategien, wie sie sich von grossen Anstrengungen wieder erholen kann. Sobald sie aus den USA zurückgekehrt ist, will Migoń mit ihrem Mann mit dem Velo nach Nizza fahren. Das Meer und die Berge im Hinterland sollen ihr die ersehnte Ruhe bringen.

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