Afrikas erste Velo-WM: Im Land der Vorfreude
Ab Sonntag findet erstmals eine Strassen-WM in Afrika statt. Austragungsort ist Kigali, die Hauptstadt Ruandas. Es ist ein Grossereignis für das kleine Land, wo Velofahren neben Sport auch Lebensunterhalt und Überlebensstrategie ist.
Text: Birte Mensing
Fotografie: Jacques Nkinzingabo
Mussa Dufitumukiza und Meg Geddis treffen sich beim Radzentrum Tugende in der Innenstadt von Kigali. In einem ehemaligen Wohnhaus sind jetzt ein Veloladen und ein Hostel untergebracht. Im Garten gibt es eine Werkstatt und ein Café, in dem Dufitumukiza der Barista ist. Seit Meg Geddis Tugende vor drei Jahren mitgegründet hat, ist der Ort ein zentraler Treffpunkt der Veloszene in der Hauptstadt Ruandas geworden. Tugende bedeutet in der Landessprache Kinyaruanda ungefähr «Auf gehts!». Und der Name ist an diesem Morgen Programm. Es ist kurz nach sechs Uhr. Dufitumukiza zieht die Socken hoch, auf denen «Peloton de Paris» steht. Der Kaffee muss warten. Los geht die Ausfahrt, entspannte 25 Kilometer.
Gegen halb sieben hebt sich die Sonne leuchtend orange über den Horizont und taucht die Stadt in warmes Licht. Die Gruppe fährt die Hügel rauf und runter. Je später es wird, desto mehr Autos, Motorradtaxis, kleine dreirädrige Transporter mit der Aufschrift «Made in Rwanda» und Velotaxis kommen den dreien entgegen. Wenn es nicht gerade steil bergauf geht und die einzigen Worte motivierende Zurufe sind, dann drehen sich die Gespräche um die Weltmeisterschaft, die vom 21. bis 28. September auf diesen Strassen stattfindet. Die Verkehrsschwellen, die Autofahrer:innen vom Rasen abhalten sollen, aber für Veloprofis während des Rennens gefährlich sein können, sind bereits abgebaut. Die Räder rollen geschmeidig über den glatten Teer. Männer in Warnwesten kehren die Strassen.
Rund tausend Athlet:innen werden hier Ende September erwartet. «Das wird ein historischer Moment», sagt Mussa Dufitumukiza. Noch nie hat eine Strassenrad-WM auf dem afrikanischen Kontinent stattgefunden.
Von jeder Strasse hat man einen anderen Blick auf die unterschiedlichen Quartiere der hügeligen Stadt. Man sieht viele Bungalows, immer wieder schlichte Kirchenbauten aus rotem Backstein, der Grossteil davon katholisch. In der Nähe des Präsidentenpalastes ragen die modernen Hochhäuser grosser internationaler Hotelketten in den Himmel. An vielen Ecken wird gebaut. Die Strassen sind gesäumt von Palmen und Akazien. Von den kleinen Kiosken am Strassenrand dringt der Duft von frischem Kaffee und Gebäck durch den dicker werdenden Dunst aus Abgasen. In der belgischen Kolonialzeit von 1916 bis 1962 wurde der Kaffee zu einem der wichtigsten Exportgüter Ruandas.
Für Dufitumukiza ist Kaffee, nach dem Radsport, die zweite grosse Liebe. Der 32-Jährige fährt professionelle Gravel-Rennen und hat parallel eine Ausbildung zum Barista gemacht. Für ihn ist die Velorunde eine Erholungsfahrt, zwei Tage vorher ist er über die Grenze nach Kabale in Uganda und zurück gefahren; 220 Kilometer mit 1600 Höhenmetern in unter acht Stunden. Velofahren in Ruanda ist dauerhaftes Höhentraining, Kigali selbst liegt 1500 Meter über dem Meeresspiegel. Einen Sonntag im Monat bleiben die Strassen autofrei. An den anderen Tagen wird der Kampf um den Vorrang im Strassenverkehr zwischen Motorradtaxis, Lastwagen und den weissen Pendelbussen aus den Vororten immer wieder zum Stressfaktor für die Velofahrer:innen, auch an diesem Morgen, aber Dufitumukiza sagt: «80 Prozent der anderen Verkehrsteilnehmer respektieren die Velos, 20 Prozent sind dumme Typen.»
Wie fast alle Profi-Velofahrer:innen hat auch Dufitumukiza auf den schweren Stahlvelos angefangen, die ihnen an diesem Morgen auch begegnen. Sie sind nicht nur Fortbewegungsmittel, sondern auch Taxis und Lastenräder – und haben alle nur einen Gang. Die Rahmen aus schwerem Stahl haben sich seit Jahrzehnten kaum verändert, sie werden aus Indien und China importiert. Beladen mit Passagier:innen oder Gerüstteilen, Bierkästen, Wasserkanistern oder Bananenstauden, sind sie überall in Kigali anzutreffen, vor allem auf jenen Strassen, die aus der Stadt hinausführen.
Für Meg Geddis ist die frühmorgendliche Runde durch Kigali ein langsamer Start, sie hat sich gerade erst von einer Grippe erholt. Die US-Amerikanerin hat Landwirtschaft studiert, in mehreren afrikanischen Ländern gelebt und arbeitet für den One-Acre-Fund, der Weiterbildungen für Kleinbäuer:innen anbietet und ihnen Saatgut verkauft. Dass die 33-Jährige in Ruanda so viel Rad fährt, geht auf die Corona-Pandemie zurück, als das Velofahren die einzige Art war, das Land zu erkunden. 2023 gründete Geddis dann Tugende mit. Sie hofft, dass die Aufmerksamkeit für Ruanda als Radsportdestination nach der WM nicht einfach verschwindet, sondern weiter wächst. Ihr Ziel mit Tugende: dass so viele Besucher:innen wie möglich nicht nur den Velofahrer:innen beim Rennen zugucken, sondern sich auch selbst aufs Rad schwingen. Dafür trifft sich das Tugende-Team mit dem Sportministerium und dem Radsportverband. Auch das jährliche Mountainbike-Rennen Rwandan Epic und das Ultra-Rennen Race around Rwanda für Gravel-Enthusiast:innen – 1000 Kilometer auf eigene Faust in maximal sieben Tagen – werden vom Tugende aus organisiert. Mussa Dufitumukiza ist bei Letzterem schon viermal mitgefahren. «Madness», sagt er nur. Wahnsinn.
«80 Prozent der anderen Verkehrsteilnehmer respektieren die Velos, 20 Prozent sind dumme Typen.»
Mussa Dufitumukiza, Veloprofi und Barista
Gegen Ende der Ausfahrt führt die Strecke am Kigali Convention Centre vorbei. Auf dem grossen, runden Vorplatz ist im September der Start- und Zielbereich der WM-Rennen. An diesem Vormittag Anfang Juli wird der Platz gerade umgebaut. Laut rattert ein Presslufthammer, Staub liegt in der Luft. Wo bis vor kurzem ein Brunnen war, ist jetzt eine Baustelle. Ein Velofahrer mit einer kleinen Ruanda-Fahne am Lenker rollt gemächlich vorbei. Während der WM sollen sich zu den 1.75 Millionen Einwohner:innen Kigalis dann neben den 1000 Athlet:innen 25 bis 30 000 Zuschauer:innen gesellen.
An einer Mauer am Strassenrand unweit des Kigali Convention Centre, wenige hundert Meter Luftlinie vom Tugende entfernt, flattert noch ein Banner, auf dem «April, 31» und «Kwibuka» steht, was in der Landessprache Kinyaruanda «sich erinnern» bedeutet. Vor 31 Jahren, im April 1994, begann ein Völkermord, der innerhalb von 100 Tagen 800 000 der damals sieben Millionen Einwohner:innen das Leben kostete. Getötet von Milizen, aber auch Freund:innen, Nachbar:innen oder sogar Familienmitgliedern, weil sie entweder der Gruppe der Tutsi zugeordnet wurden oder diesen halfen.
Der Ursprung des Konflikts geht zurück auf die Kolonialzeit. Erst deutsche und dann belgische Kolonialverwaltungen verfestigten eine Einteilung der Menschen in Hutu und Tutsi. Eigentlich war das davor eher eine Klassenunterscheidung, die Kolonialmächte machten ethnische Gruppen daraus, entsprechend den völkischen Trends zu der Zeit. Tutsi wurden bevorzugt – und dafür nach der Unabhängigkeit bestraft. Der Gipfel der Gewalt war der Völkermord 1994.
Noch heute ist Ruanda im europäischen Bewusstsein eng mit den Verbrechen von damals verbunden. Der Präsident Paul Kagame steht für den Wandel des Landes. Er war es, der 1994 aus dem Exil in Uganda heraus mit seiner Miliz Rwandan Patriotic Front, die er unter Geflüchteten in Uganda aufgebaut hatte, dem Morden ein Ende setzte. Der Grossteil seiner Soldat:innen waren Tutsi, die nach der Unabhängigkeit geflohen waren. Seit 2000 regiert Kagame das Land. Er setzte Gerichte ein, die jeden einzelnen Fall von Gewalt lokal verhandelten, die Täter:innen mussten sich bei den Opferfamilien entschuldigen, einige kamen in Haft. Offiziell gibt es heute keine Diskriminierung mehr, die nationale Geschichtserzählung dreht sich um Versöhnung. Inoffiziell wird jedoch berichtet, dass jetzt vor allem Tutsi Machtpositionen im Land innehätten und staatliche Kontrolle jeden Widerspruch unterbinde.
Kagame liegt viel daran, in Europa und den USA ein positives Bild von Ruanda zu verbreiten. Dazu soll auch die Rad-WM dienen. Nach der Fussball-WM 2010 in Südafrika ist die Velo-Weltmeisterschaft das grösste Sportereignis auf dem Kontinent. «Ziel ist es, mit solchen Events Investor:innen zu finden, die sich langfristig im Land engagieren – im Sport und allgemein», sagt Régis Gahuranyi, der im ruandischen Radsportverband für internationale Beziehungen zuständig ist. Ihn treffen wir nach unserer Ausfahrt im Tugende, wo er einen Kaffee trinkt und E-Mails schreibt. Bis vor Kurzem hatte er mit Radsport nichts am Hut, der 34-Jährige war in seiner Zeit als aktiver Sportler Basketballer. Ein paar Tische weiter sitzt Meg Geddis. Sie hat ihre Velokleider inzwischen abgelegt, trägt jetzt ein türkises Kleid und leitet ein Online-Training. Auf dem Fernseher über der Theke laufen Velorennen, musikalisch untermalt von Hits aus den frühen 2000er Jahren.
Ruandas Engagement im Sport ist nicht neu. Seit Jahren ist die Regierung von Paul Kagame darum bemüht, grosse Events und Partnerschaften ins Land zu holen. Seit 2009 gilt die jährliche Tour du Rwanda als das wichtigste Radsportereignis auf dem afrikanischen Kontinent. Aber auch ausserhalb des Radsports will sich das Land im Sport hervortun. So kooperiert Ruanda mit der amerikanischen Basketballliga NBA und hat Sponsoringverträge mit den europäischen Top-Fussballclubs Arsenal, PSG und Bayern München abgeschlossen. Das Ziel: über die Kampagne Visit Rwanda den Tourismus im Land zu stärken. Im ganzen Land ist der Slogan präsent – auf grossen Plakaten am Flughafen und in den Strassen von Kigali. Das scheint zu wirken. Spricht man in Kigali mit Menschen, die sich nicht besonders mit Radsport auseinandersetzen, sind die meisten stolz darauf, dass dem kleinen Land in Ostafrika die «grosse Ehre» zuteil wird, die 98. Strassenrad-WM auszutragen. Mit den Besucher:innen kommt Business.
Doch von ruandischen Radsport-Insidern gibt es auch Kritik an Kagames Bestrebungen. Sie sind nicht glücklich damit, wie der Radsport als Aushängeschild genutzt wird, während der Radsportverband nicht in ihrem Sinne geführt wird. Mit Samson Ndayishimiye präsidiert ein ehemaliger Schwimmer den Verband. Er schere sich im Herzen nicht um den Radsport, sagen mehrere Velosportler, die nicht namentlich zitiert werden wollen. Vor zehn Jahren war das Land im Radsport gleichauf mit Eritrea, doch dann ging es in Ruanda bergab. 2006 hatte der Amerikaner Jonathan Boyer, erster US-Teilnehmer der Tour de France, angefangen, in Ruanda ein Velo-Team aufzubauen, das Team Rwanda Cycling. Ein paar Jahre später kam Kimberly Coates als Trainerin dazu. Das Team wurde immer erfolgreicher und in Team Africa Rising umbenannt. Sie bauten sogar ein ganzes Radsportzentrum auf, das Africa Rising Cycling Center.
Für einen ihrer grossen Erfolge ist Adrien Niyonshuti verantwortlich. Niyonshuti gewann mehrmals die Tour du Rwanda. 2018 übergab die amerikanische Organisation das Zentrum an den ruandischen Radsportverband, der zur gleichen Zeit in Korruption versank. Mehrere Funktionäre kamen vor Gericht, einige sogar ins Gefängnis. Coates und Niyonshuti verliessen das Land und bauen jetzt das Nationalteam im westafrikanischen Benin auf.
Inzwischen gibt es in Ruanda selbst so gut wie keine öffentliche Opposition mehr. Laut Medienberichten verfolgt Kagames Geheimdienst Oppositionelle sogar im Ausland. Wer sich kritisch äussert, werde mundtot gemacht, berichten Menschenrechtsorganisationen. Bei den Wahlen im Juli 2024 bekam Kagame mehr als 99 Prozent der Stimmen. Dabei geht es einem grossen Teil der Bevölkerung nicht gut. Über 30 Prozent sind unterernährt, im Welthunger-Index belegt das Land Platz 101 von 127.
Immer wieder wird internationale Kritik an Kagames Engagement im Sport laut: Die ruandische Regierung betreibe Sportswashing – wolle also mit Sport-Events von politischen Problemen ablenken. Der Langzeitpräsident hat hart daran gearbeitet, das Land wieder aufzubauen und ihm einen neuen Ruf zu geben, weit weg vom Völkermord. Die Radsport-WM ist darin ein weiteres Puzzlestück. Bisher mussten afrikanische Radsportler:innen um Visa kämpfen und Geld für Flüge auftreiben, um an die grossen Rennen zu reisen. Jetzt ist es umgekehrt. Das sorgt bei einigen europäischen Verbänden für Kritik, denn die Reisekosten nach Ruanda sind hoch – zum Teil höher als bei der WM 2024 in Zürich. So haben zum Beispiel die Radsportverbände aus Dänemark und den Niederlanden bekannt gegeben, ihren Nachwuchs nicht nach Ruanda zu schicken.
«Du fühlst dich wie ein Held, wenn du das Trikot mit der Flagge Ruandas trägst.»
Eric Muhoza, Veloprofi
Internationale Kritik an der Rad-WM in Ruanda gibt es vor allem aber auch wegen der Verstrickung des Landes in den Bürgerkrieg in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo. Im Februar führte die Route der Tour du Rwanda die Teams nah an der Grenze zum Ostkongo vorbei, wo Rebellen mit Unterstützung von Ruanda im Januar die Millionenstädte Goma und Bukavu eingenommen haben. Ruanda unterstützt die Rebellen nicht nur finanziell, sondern führte auch mit eigenen Streitkräften verdeckte Operationen durch, wie die britische Zeitung «The Guardian» berichtet. Das EU-Parlament forderte im Frühling Sanktionen gegen Ruanda und eine Absage der Weltmeisterschaften. Anfang August hat der FC Bayern München dem öffentlichen Druck nachgegeben und das Ruanda-Sponsoring beendet.
Der Präsident des Weltradsportverbands UCI, David Lappartient, zeigt sich davon indes unbeeindruckt. «Es gibt keinen Plan B», sagte der Franzose und wischte eine Verlegung vom Tisch. Daran hält die UCI weiter fest. Inzwischen haben Ruanda und die Demokratische Republik Kongo unter der Vermittlung der USA ein Friedensabkommen unterzeichnet. Dieser Schritt nimmt der Kritik an der Rad-WM in Ruanda etwas den Wind aus den Segeln.
Es spricht momentan wenig dagegen, dass Kigali Ende September zum Zentrum der Radsportwelt wird. Doch in Ruanda gibt es mehr als nur die Hauptstadt. Im dicht besiedelten Land mit einer Fläche etwa so gross wie die Deutschschweiz leben 14 Millionen Menschen, nur etwas mehr als zehn Prozent davon leben in Kigali. Also möchten wir erfahren, wie die Stimmung ausserhalb der Hauptstadt ist.
Ausgangspunkt ist erst einmal nochmals das Tugende, wo wir Eric Muhoza treffen. Er ist einer der Hoffnungsträger des ruandischen Radsports. Gross, athletisch, die Haare unter dem Helm trägt er kurz. Er ist gekommen, um sein Zeitfahrvelo abzuholen, das er nach der nationalen Meisterschaft am Wochenende bei Tugende untergestellt hat. «Drone» nennt er es. Die Mechaniker im Tugende warten den ruandischen Sportler:innen die Velos umsonst. Dabei tauschen sie sich über die Meisterschaften vom Wochenende aus. Muhoza wurde im Strassenrennen Dritter, ein bisschen geknickt ist er deswegen. Und hofft, dass er bei der WM mitfahren kann. «Und Pogačar am Berg angreifen – kleiner Scherz.» Der Slowene Tadej Pogačar ist vierfacher Tour-de-France-Gewinner und aktueller Titelverteidiger.
Muhoza will mit einem Teamkollegen am trainingsfreien Tag die 100 Kilometer nach Hause radeln. Sie wohnen in der Kleinstadt Rwamagana mit etwa 50 000 Einwohner:innen, wo sie aufgewachsen sind. Muhoza tritt in die Fussstapfen seines Vaters Emmanuel Turatsinze, der so berühmt ist, dass der Stadtteil, wo er wohnte, seinen Namen trägt, wie sein Sohn erzählt. Man müsse in Rwamagana nur nach «Chez Emmanuel» fragen und werde dahin gelotst, wo heute Eric Muhoza wohnt.
Emmanuel Turatsinze war in den 1980er und frühen 1990er Jahren eine lokale Radsportlegende. Schon in den 1970er und 1980er Jahren gab es in Ruanda lokale Rennen. Turatsinze war verheiratet und hatte fünf Kinder – er überlebte als Einziger der Familie den Völkermord 1994. Danach heiratete Turatsinze Muhozas Mutter, sie bekamen zwei Kinder. Und er förderte seinen Neffen Adrien Niyonshuti, der als erster ruandischer Radsportler im südafrikanischen Profi-Team MTN-Qhubeka anheuerte und Rennen in der ganzen Welt bestritt.
Als Muhoza noch ganz klein war, starb sein Vater. Nun führt er dessen Mission fort. Mit 14 ist er umgestiegen vom Eingänger, mit dem er zur Schule fuhr und Futter für die Kühe holte, aufs Rennvelo. Die Schule hat er nicht abgeschlossen, all seine Hoffnung liegt auf einer Profi-Karriere. Schnell stieg er ins Jugendnationalteam auf. «Du fühlst dich wie ein Held, wenn du das Trikot mit der Flagge Ruandas trägst», sagt der 23-Jährige. In 18 Länder brachte ihn der Sport seitdem. 2024 radelte er für das deutsche Team Bike Aid, aber weil er nur ein Visum für drei Monate bekam und den Rest des Jahres auf sich allein gestellt war, wechselte er das Team. «In Ruanda kann man mit dem Radsport kein Geld verdienen», sagt er.
Muhoza fährt nun für das ostafrikanische Team Amani, das in Iten im kenianischen Hochland seinen Sitz hat. Er verdient 500 US-Dollar im Monat. Das ist im Vergleich ein gutes Einkommen, das Bruttoinlandprodukt pro Kopf lag in Ruanda 2024 nach Angaben der Weltbank bei etwa 1000 US-Dollar im Jahr. Aber Muhoza hofft, dass das Team Amani für ihn nur ein Zwischenschritt ist, auf seinem Weg zu einem Team in der höchsten Kategorie des Radsports der Männer.
Zu seinen Vorbildern gehört der eritreische Rennfahrer Biniam Girmay. Als dieser im vergangenen Jahr bei der Tour de France drei Etappen und das grüne Trikot des besten Sprinters gewann, klebten Muhoza und seine Kollegen am Fernseher. «Wir konnten es nicht glauben», sagt er. Ganz Afrika habe sich mit ihm gefreut. Bis zur WM stehen für Muhoza noch Abstecher zu den afrikanischen Meisterschaften in der Republik Kongo und in Mauritius an. Nun aber muss Muhoza los: «Tugende!», sagt er zu seinem Teamkollegen. «Auf gehts!»
Auch wir wollen noch weiter, und zwar ins sogenannte ruandische Zuhause des Radsports. Es soll in Musanze liegen. Der Ort im Westen des Landes ist zwei Stunden mit dem Auto von Kigali entfernt. Mit dem Velo sind es gut viereinhalb Stunden, wie uns ein Radsportler berichtet, den wir unterwegs an einer Raststätte treffen. 100 Kilometer und 1500 Höhenmeter durch das Land der 1000 Hügel. Je weiter man sich vom Stadtzentrum Kigalis entfernt, desto mehr prägen die Velos das Strassenbild, die nicht nur Passagiere, sondern auch die lokalen Feldfrüchte transportieren – Bananenstauden, Zuckerrohrstangen oder grosse Säcke voller Kartoffeln. In Musanze gibt es definitiv mehr Fahrräder als Autos, auch im Transport. Am Strassenrand gibt es tagsüber improvisierte Werkstätten. Die meisten Probleme kann ein Mechaniker mit seinem Werkzeugkoffer und einer Luftpumpe lösen. Ersatzteile sind schwer zu bekommen, darum wird mit dem Schweissbrenner improvisiert.
Sportler:innen aus aller Welt kommen, um im Africa Rising Cycling Center in Musanze auf mehr als 1800 Metern über Meer zu trainieren, das ruandische Nationalteam ist regelmässig zu Gast. Sie wohnen dann auf der liebevoll bepflanzten grünen Anlage in den Häusern, die mal vom österreichischen Bauunternehmen Strabag für Arbeiter gebaut wurden, als sie Strassen im Osten des Landes ausgebaut hatten. In jedem Haus stehen fünf Betten. In der Luft hängt der Duft der Eukalyptusbäume.
Als wir vor das Tor des Africa Rising Cycling Center treten, müssen wir aufpassen. Denn da zischen Radfahrer in hoher Geschwindigkeit vorbei. Die klapprigen Bremsen könnten bei dem Tempo nicht viel ausrichten. Wenn man Glück hat, kündigt ein kurzes Klingeln die Transportradler an. Die meisten haben auf dem Gepäckträger fest verschnürt einen Sack Kartoffeln, zwischen 100 und 150 Kilogramm schwer, den sie den Berg hinunter zum Markt in Musanze bringen.
Auch Jean de Dieu Maniragaba hat diese Tour an dem nebligen Vormittag schon hinter sich. Um fünf Uhr morgens hatte er das Haus verlassen, das Velo kilometerweit bergauf geschoben, bis zu den Kartoffelbäuer:innen. Der 30-Jährige fährt die Tour, seit er 15 Jahre alt ist, fast jeden Morgen. Nur sonntags ist Ruhetag, da geht er in den Gottesdienst. In den ersten Jahren mietete er ein Fahrrad und sparte, bis er ein eigenes kaufen konnte. Autos oder gar Transporter gibt es in den ländlichen Regionen wenige. Die Kartoffeln werden auf dem Markt in Musanze in Lastwagen verladen, die sie nicht nur nach Kigali bringen. Ein Teil der Kartoffeln wird in den Kongo, nach Uganda und zum Teil sogar bis in den Sudan exportiert.
Das Velo ist für Maniragaba der Schlüssel zur Versorgung seiner kleinen Familie, zwei Kinder hat er mit seiner Frau. Mit dem Geld konnte er über die Jahre das kleine Haus bauen, in dem sie jetzt leben. Am hinteren Schutzblech seines Eastman-Rads aus Indien hängt ein Stück bemaltes Schild, auf dem «Shimwa mana» steht – «Gelobt sei Gott». Für seine Kinder hoffe er auf ein weniger beschwerliches Leben, dass sie länger zur Schule gehen können als er – und für sich selbst darauf, dass er genug Geld für ein Motorrad zusammensparen kann. «Dieser Job ist hart», sagt er. An einem guten Tag bekommt er morgens für die Kartoffel-Fahrt umgerechnet etwa 1.65 Franken, bei den Taxifahrten im Laufe des Tages kommen selten mehr als 2.5 Franken zusammen. Einen Teil davon muss er noch an die Kooperative abgeben, in der die Hunderten Velotaxi-Fahrer in Musanze registriert sind. Von der bekommen sie auch die rot-grünen Westen mit ihrer Registrierungsnummer, 599 steht auf der von Maniragaba. Und darunter: «Visit Rwanda». Wer die Weste nicht trägt, muss Strafe zahlen. Ebenso, wer nach 18 Uhr unterwegs ist. Die Fahrräder haben zwar Reflektoren, aber keine Lichter, und die Dunkelheit bricht schnell herein. Zu der Zeit ist Maniragaba immer schon zuhause.
«Für meine Kinder erhoffe ich mir ein weniger beschwerliches Leben. Und dass sie länger zur Schule gehen können als ich.»
Jean de Dieu Maniragaba, Velotaxifahrer
An diesem Freitag trifft er sich mit Jean Ruberwa. Ruberwa trägt trotz Wolken einen Sonnenhut. Das Africa Rising Cycling Center brachte ihn als Jugendlichen nach Musanze. Der 29-Jährige war mehrere Jahre lang der nationale U23-Rennrad-Meister. Ruberwa entschied sich, in Musanze zu bleiben. Er heiratete, baute ein Haus und ist heute Vater zweier Kinder. Zwischendurch fährt er immer noch Rennen.
Hauptsächlich widmet er sich aber seinem Business, das er hier aufgebaut hat. Der Nebel hat sich inzwischen verzogen, und man sieht in der Ferne die Virunga-Vulkane, in deren dunkelgrün leuchtenden Wäldern eine der letzten Populationen der Berggorillas lebt. Sie sind ein beliebtes Tourist:innenziel. Darauf hat Jean Ruberwa in den vergangenen Jahren sein Tourismusunternehmen Berwa Tours aufgebaut. Sein Fokus: Velotouren. Die Gäste bringen ihre Räder entweder mit oder können sie vor Ort ausleihen. Und dann geht es zum Beispiel zu den vulkanischen Zwillingsseen Lake Burera und Ruhondo, die etwa 40 Kilometer entfernt sind. Oder auch in die Teeplantagen oder zum Vogelbeobachten. Auch zu den Gorillas organisiert er Touren, dann allerdings ohne Velos.
Seit neuestem startet Ruberwa seine Touren in dem kleinen Museum, das er gerade aufbaut. Von der Decke hängt ein alter Stahlrahmen, in der Ecke steht ein mit mehreren Schichten Gummi verstärkter Gummistiefel, den Lastenradler als Verstärkung zu den Bremsen nutzen, indem sie die Sohle auf die Strasse pressen. An den Wänden hängen Tafeln, auf denen die Geschichte des Radsports in Ruanda erklärt ist. Auf einem Foto ist Präsident Paul Kagame auf einem Mountainbike zu sehen.
Weil Ruberwa selbst auch auf einem Eingang-Velo als Taxifahrer ohne jeglichen Schutz angefangen hat, will er diesen Fahrern etwas zurückgeben. Er schenkt darum heute Maniragaba einen roten Helm, damit er künftig ein wenig sicherer unterwegs ist. Rund ein Viertel der mehr als 700 Opfer tödlicher Unfälle im Strassenverkehr in Ruanda waren im Jahr 2022 Radfahrer:innen. Die Helme hat Ruberwa oft von Tourist:innen, die sie zurücklassen. Er sprüht sie rot an, damit sie gleich aussehen, und übergibt sie dann an die Taxifahrer. Er hofft, dass bald viele der Lastenvelofahrer besser geschützt sind. In seinem Betrieb kommen drei Welten zusammen. Die der Transportradler:innen, die der Radsportler:innen und die der Hobbyvelofahrer:innen in Ruanda.
Was sie aktuell alle eint, ist die Vorfreude auf die WM. Dann wird der Radsport zumindest für kurze Zeit zum nationalen Ereignis. Eine junge Frau, mit der wir das Auto zurück nach Kigali teilen, erzählt, sie werde als Hostess für die WM arbeiten. Sie habe sich eigentlich nie sehr fürs Velofahren interessiert, sagt sie. Aber jetzt sehe sie, wie auch der Radsport das Land voranbringen könne. Und wie nicht nur die Sportler:innen und die Fans, sondern auch Leute, die einfach nur versuchen, Arbeit zu finden und ihr Leben voranzubringen, etwas davon haben können.