Velos, die Lebenverändern

Seit über 30 Jahren bereitet Velafrica in der Schweiz ausgediente Velos auf und verkauft sie zu erschwinglichen Preisen in afrikanischen Ländern. An beiden Orten kann ein Fahrrad das Leben der Menschen entscheidend verändern.

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Beim Drahtesel in Liebefeld bei Bern schrauben Menschen, die auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden, ausgediente Velos auseinander undneu zu­sammen. Die Velowerstatt istzudem der Gründungsort von Velafrica. (Bild: CLAUDIO DINO ZINGARELLO)

Text: Corsin Zander

Fotografie: Claudio Zingarello

Auf dem afrikanischen Kontinent ist die Velosport-Euphorie gerade gross. Kimberley Le Court-Pienaar aus Mauritius trug im August bei der Tour de France als erste Frau des afrikanischen Kontinents das gelbe Trikot der Führenden. Der Eritreer Biniam Girmay gewann im Jahr zuvor als erster Afrikaner das grüne Trikot des besten Sprinters. Und nun werden in Ruanda erstmals die Strassen-Weltmeisterschaften in einem afrikanischen Land ausgetragen.

In einem Grossteil Afrikas ist das Velo viel mehr als ein Sportgerät, es kann das Leben von Menschen entscheidend verändern. In ländlichen Gebieten liegen Spitäler oder Schulen oft weit entfernt. Ein Auto oder Töff ist für viele zu teuer, Schulbusse gibt es nicht überall. Ein Velo bedeutet da einen besseren Zugang zur medizinischen Versorgung oder eine grössere Chance, die Schule abzuschliessen.

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(Bild: CLAUDIO DINO ZINGARELLO)
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(Bild: CLAUDIO DINO ZINGARELLO)

Nikolai Räber hat in Ostafrika direkt erfahren, wie ein Velo das Leben eines Menschen verändern kann. 2014 reiste er für seine Masterarbeit nach Tansania. Er untersuchte, welchen Einfluss ein Velo auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation von Menschen hat. «Meine Gesprächspartner:innen betonten alle, wie wertvoll ein Velo für sie sein kann.»

Die Gespräche beeindruckten Räber so sehr, dass er nach seinem Abschluss in Internationalen Beziehungen an der Universität St. Gallen bei der gemeinnützigen Schweizer Organisation Velafrica zu arbeiten begann. Heute ist der 38-Jährige Co-Geschäftsleiter.

Velafrica hat in den vergangenen 30 Jahren nach eigenen Angaben rund 350 000 ausgediente Velos wieder aufgebaut und nach Afrika verschickt. Allein 2024 waren es fast 27 000 Velos und über 45 000 Ersatzteile. Sie werden den Menschen nicht geschenkt, sondern zu marktüblichen Preisen verkauft. «Wir wollen Arbeitsplätze schaffen und mit Projekten etwas verändern, anstatt Menschen von uns abhängig zu machen», sagt Räber, als er durch ein altes Fabrikgelände führt. Es liegt zwischen Web-Agentur, Wohnblock und Waffengeschäft in Liebefeld.

Hier, in dieser unspektakulären Gegend der Berner Vorortsgemeinde Köniz, hat 1993 alles begonnen. Paolo Richter gründete die Werkstatt Drahtesel. Seine Idee: ausgediente Velos flicken und nach Afrika schicken. 1994 lief der erste Container mit 300 Velos nach Ghana aus. Inzwischen verlässt fast jede Woche ein gefüllter Container die Schweiz via Rotterdam oder Antwerpen in eines von sieben afrikanischen Ländern. Die Organisation hat heute 22 Angestellte und ein Budget von rund 2.5 Millionen Franken. Sie finanziert sich zu zwei Dritteln durch Spenden, Legate und Beiträge für einzelne Projekte und zu einem Drittel durch den Verkauf von Velos über Partnerunternehmen in Afrika. In drei Ländern betreibt Velafrica das Projekt Bike to School, bei dem Schüler:innen die Velos für etwas mehr als zehn Franken kaufen können. Ausserdem hat die Organisation diverse Velo-Werkstätten mit Ausbildungsplätzen aufgebaut.

Die Werkbänke sind ähnlich gestaltet wie bei Drahtesel in Liebefeld. Die Velowerkstatt gibt es noch immer. An 8 Ausbildungs- sowie 14 Integrationsplätzen werden Erwerbslose auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet, erzählt Kaspar Gyger, Co-Leiter beim Drahtesel. Die Arbeit am Velo eigne sich besonders: «Die Mechanik eines Velos ist nicht allzu komplex und kann relativ schnell erlernt werden.» Ausserdem hätten viele einen Zugang zum Velo als Alltagsgegenstand, was die Arbeit erleichtere.

Velafrica arbeitet mit über 40 Betrieben wie dem Drahtesel zusammen. Darin unterscheidet man sich von anderen grossen Organisationen, die recycelte Velos nach Afrika schicken: Velafrica liefert nicht nur Velos, sondern unterhält im Herkunfts- und im Zielland einen Kreislauf sozialer Projekte.

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(Bild: CLAUDIO DINO ZINGARELLO)

Die ausgedienten Velos kann jede:r an rund 300 Stellen in der Schweiz oder bei über 100 Sammelaktionen abgeben. Längst nicht alle können geflickt und verschickt werden, erklärt Räber. Aber von fast allen könne man wenigstens noch einzelne Teile verwenden.

Seit den jüngsten Erfolgen afrikanischer Velofahrer:innen sei die Nachfrage nicht grösser geworden – «sie ist ohnehin ungebrochen gross», sagt Räber. Wenn sich das Image des Velos in Afrika dadurch verbessert, freue ihn das. Vielerorts werde es noch als Fahrzeug armer Menschen wahrgenommen.

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