Er kommt, siegt und geht wieder
Niemand in der Ultracycling-Szene kennt den Zürcher André Bachmann, bis er ein Rennen gewinnt und an der Weltspitze mitfährt. Doch so schnell er aufgetaucht ist, so schnell tritt der 50-Jährige auch wieder ab.
Die Tour de France 2025 der Männer war 3302 Kilometer lang mit 52'500 Höhenmetern. Die Fahrer bewältigten die Distanz in drei Wochen, zwei Ruhetage inklusive. André Bachmann hat am diesjährigen Transcontinental Race (TCR) 4500 Kilometer und rund 50'000 Höhenmeter in zehn oder elf Tagen zurücklegen wollen.
Bachmann ist 50 Jahre alt, alleinstehend und führt eine Glaserei im Kanton Zürich. Seit Kurzem gehört er zur Weltspitze im Ultracycling. Noch vor etwas mehr als einem Jahr wusste er nicht einmal, dass er das könnte.
Ultracycling bedeutet, man fährt unfassbar weite Strecken mit dem Velo. Es gibt keine Verpflegungsstationen, wie man sie von Radmarathons kennt. Die Fahrer:innen versorgen sich selbst. Sie stolpern in Veloschuhen in kleine Läden im Nirgendwo und kaufen Schokoriegel, Chips, Cola oder Kuchen – und sie essen, während sie schon wieder auf dem Velo sitzen und weiterfahren. Es gibt keine definierte Rennstrecke, sondern ein paar Checkpoints zwischen Start und Ziel, die alle Teilnehmenden anfahren müssen. Die Route planen alle für sich selbst.
Während 70 Stunden tüftelte Bachmann vor dem Rennen an seiner 4500-Kilometer-Route: Wie komme ich am schnellsten von Santiago de Compostela im äussersten Westen Spaniens nach Constanța an der rumänischen Schwarzmeerküste? Wo nehme ich einen Umweg auf der breiten Strasse in Kauf und wo riskiere ich die Abkürzung auf einem Kiesweg oder über einen Berggrat? Bachmann weiss, dass er auf gesperrte Strassen und unpassierbare Wege stossen wird. Ultracycling heisst auch, Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen – auch wenn das bedeutet, sein Velo auch einmal stundenlang einen felsigen Bergpfad hinaufzustossen. Und wichtig: möglichst wenig Pausen machen, denn nur so hat man eine Chance auf den Sieg.
Immer wenn André Bachmann an einem Rennen teilnimmt, will er um einen Spitzenplatz mitfahren. Sein erstes Ultracycling-Rennen hat er gleich gewonnen: das Italy Divide im April 2024, das Italien von Neapel bis zum Gardasee der Länge nach durchquerte.
Bei einem Treffen in Uster Anfang Juli erzählt er unaufgeregt: «Ich bin einfach mein Tempo gefahren. Ich wusste ja nicht, was auf mich zukommt.» Er hatte viel zu viel Gepäck dabei, musste erst lernen, wie man sich unterwegs ernährt und schläft – gleich zweimal fuhr er 36 Stunden am Stück, bevor er sich kurz hinlegte. Bald war niemand mehr vor ihm auf der Strecke, und hinter ihm tat sich eine Lücke auf. Dabei blieb es bis zum Ziel.
Drei Monate später nahm er am TCR von Roubaix nach Istanbul teil. Das Transcontinental Race gehört zu den härtesten Ultracycling-Rennen der Welt. Wieder lernte er dazu. Etwa, dass es in Belgien kaum Brunnen gibt. Seine Flaschen waren leer. Es war Nacht, die Läden waren überall geschlossen. Doch in einem Dorf dröhnte Musik aus einem Festzelt. Vom Durst getrieben, fuhr er mitten hinein und liess sich die Bidons in der Festwirtschaft auffüllen.
Auch bei diesem Rennen hielt sich Bachmann an sein Tempo, und wieder war er überrascht, als er plötzlich an der Spitze des Rennens war. Er hatte den Österreicher Christoph Strasser überholt, der sechsmal das Race Across America und zweimal das TCR gewonnen hat, und fuhr zum Favoriten und späteren Sieger, dem Schweizer Robin Gemperle, auf. Bis zu einem Sturz nach 2000 Kilometern lag Bachmann auf Rang 3. Schliesslich erreichte er das Ziel als Fünfter.
Gemperle erinnert sich gut daran, als Bachmann beim TCR 2024 nach zehn Kilometern zu ihm aufschloss. «Als junger, ambitionierter Fahrer hätte ich André nicht da erwartet. Vom Aussehen her könnte er mein Vater sein», sagt Gemperle am Telefon. Bachmann habe ihn gefragt, ob man ein gemeinsames Foto machen könnte. Da dachte der Favorit, Bachmann sei einer, der zu Beginn des TCR etwas schnell fahren wolle und sicher noch zurückfallen werde. «Doch ein paar Tage später merkte ich, dass André ein ernstzunehmender Konkurrent ist, und ich schämte mich, dass ich gedacht hatte, er sei bloss ein Fan, der ein Foto mit mir will», sagt Gemperle. Die Leistung des Zürchers habe ihn beeindruckt: «Das kann so schnell nicht jeder 50-Jährige. Man muss schon etwas verrückt sein, um das zu leisten.»
Bei Ultracycling-Rennen ist Bachmann zwar ein Neuling, doch er sitzt seit Jahrzehnten auf dem Velo. Pro Jahr macht er weit über 10'000 Kilometer. 20 Jahre lang fuhr er Mountainbike. 2016 meldete er sich erstmals für den Gigathlon an. Das Schweizer Langdistanzrennen gab es bis 2022. Man schwamm, fuhr Rennvelo, Mountainbike und Inline-Skates, rannte auf der Strasse und auf Trails. Die meisten Sportler:innen traten in Teams an, Bachmann startete solo. Fünfmal bewältigte er den Gigathlon. «Ich fand es jeweils eher schön als strapaziös», sagt er.
Später absolvierte er die Etappenrennen Swiss Epic und Cape Epic in Südafrika mit dem Mountainbike. Dort startet man im Zweierteam, hetzt jeden Tag über die Trails und versucht, sich über Nacht zu erholen. Weil ihm das zu stressig wurde, suchte er eine neue Herausforderung und fand das Ultracycling.
Bei unserem Treffen in Uster freut sich Bachmann auf das anstehende TCR und beschreibt, wie er jeweils die Tage und Nächte geniesst, die er mit dem Velo auf der Strasse verbringt, ohne an etwas Anderes zu denken als an den richtigen Weg, genügend Verpflegung und die nächste Unterkunft. Die Alltagsprobleme seien weit weg, er höre Musik und Podcasts, während die Beine fast von alleine die Kurbel drehten. Manchmal würden Freunde anrufen, und wenn er nach einer kalten Nacht durchgefroren ist, gehe die Sonne auf und wärme ihn. Es klingt fast wie Ferien. Bachmann sagt: «Nach einem Ultracycling-Rennen bin ich körperlich erschöpft und mental erholt.»
Wahrscheinlich liegt es an diesen Erfahrungen, dass er der entspannteste Mensch ist, den man sich denken kann. Es giesst in Uster wie aus Kübeln. Die Regentropfen prasseln auf den Asphalt, sodass das Wasser in den Pfützen Blasen bildet. Ungerührt steht Bachmann im Regen, in Velokleidung und schwarzer Regenjacke, neben sich sein Rennrad mit Aufliegern auf dem Lenker und auffallend kleinen Rahmentaschen – sein Race-Set-up. Er wird in Hotels übernachten und nur das Nötigste mitnehmen: eine Powerbank, um Smartphone und Velocomputer aufzuladen, ein Gilet und Armlinge. Sein einziger Luxus ist eine zweite Velohose zum Wechseln. So will er Sitzprobleme verhindern, die ihn vor einem Jahr am TCR schon nach 1500 Kilometern plagten, zu offenen Stellen und Entzündungen führten. Die Reifen fährt er tubeless, also ohne einen Schlauch, weil er damit viel weniger Pannen habe.
Stellt sich ein Problem, dann löst er es.
André Bachmann schiebt das Velo durch die feierabendliche Zürcher Kleinstadt, auf der Suche nach einem Ort für ein Gespräch. Cafés und Restaurants sind zu oder schliessen in wenigen Minuten. Der Regen ist unerbittlich. Es könnte einem auf die Nerven gehen, doch Bachmann sagt: «Es bringt nichts, sich aufzuregen.» Ultracycling sei eine Lebensschule. Stellt sich ein Problem, dann löst er es. Hat er keinen Einfluss darauf, arrangiert er sich. Bei einem Rennen wie dem TCR sei das Mentale entscheidend. Sein Körper könne über eine lange Zeit Leistung bringen, doch wenn der Kopf nicht mitspielt, sei die Fahrt zu Ende. Bachmann sagt, er habe bisher kaum Probleme gehabt, in einer positiven Stimmung zu bleiben.
Doch eine weite Fahrt durch Nacht und Tag mit wenig Schlaf macht auch ihn dünnhäutig und spielt seiner Wahrnehmung Streiche. Eines Nachts beim TCR 2024 hatte er den Eindruck, er komme kaum voran. Mehrmals hielt er an, um zu kontrollieren, ob das Hinterrad frei drehen kann. Schliesslich bemerkte er, dass er sich schon seit Längerem in einem Anstieg befand. In einer anderen Nacht halluzinierte er, neben ihm fahre ein Kollege. Er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, in welchem Land er war und weshalb er überhaupt gerade Velo fuhr.
Auf der Kippe stand sein Rennen, als Bachmann irgendwo auf dem Balkan in einer Abfahrt stürzte. Auf losem Kies in einer Kurve war ihm das Vorderrad weggerutscht. Bachmann hatte eine Wunde am Ellbogen und eine zerrissene Hose. Er musste die Verletzung ärztlich versorgen lassen und eine Zwangspause einlegen. Er nahm sich ein Zimmer, kaufte neue Kleider, duschte, schlief und ass in einem Restaurant. «Während des Rennens führt man ein Leben wie auf der Flucht», sagt Bachmann. Davon brauchte er kurz Abstand.
Als sich der Ellbogen besser anfühlte, stand der Sportler vor der einzigen Frage, die sich für ihn in einem solchen Rennen stellt: «Fahren oder nicht fahren?» Bachmann schlüpfte wieder in die Veloklamotten und schwang sich in den Sattel. Die neu gekauften Kleider liess er im Hotelzimmer zurück.
Letztes Jahr trat Bachmann noch als Nobody beim Transcontinental Race an, dieses Jahr wies ihn die Startnummer 5 als einen der Spitzenfahrer aus. Gleichzeitig sagte er vor dem Rennen: «Es wird für mich ziemlich sicher das letzte Mal sein.» Lange Strecken will er weiterhin fahren, aber als Tourist, der gut isst und sich Zeit nimmt, das Land kennenzulernen. «In einem Rennen lebst du wie ein Tier: Du isst alles, was es gerade gibt. Du stinkst und bist dreckig.» Ausserdem leide das Privatleben unter dem enormen Trainingsaufwand.
Nach 1480 Kilometern steigt er aus. Er hat Sitzprobleme.
Das TCR 2025 Ende Juli ist also André Bachmanns letzter Tanz. Doch so schnell seine Ultracycling-Karriere Fahrt aufnahm, ist sie auch wieder vorbei. Nach 1480 Kilometern steigt er aus. Er hat Sitzprobleme. Die starken Schmerzen zwingen ihn zur Aufgabe. «Der Rest hätte gut gepasst und die Einstellung stimmte auch», schreibt er nach dem Rennen in einer Nachricht. Weil das TCR self-supported ist, also ohne Unterstützung absolviert wird, muss er sich selbst um die Heimkehr kümmern. Sie wird zu einem weiteren Abenteuer. Er fährt mit dem Zug nach Toulouse, kauft sich neue Kleider, erwischt den Flixbus nach Marseille, dann jenen nach Lyon und Zürich. Die Reise dauert 23 Stunden – kein Problem für einen Ultrasportler. Aber dass die Buschauffeure sein Velo trotz gültigem Ticket nicht mitnehmen wollen, findet er mühsam. Immerhin: Er steckt ihnen ein paar Euro zu, und dann geht auch das.
Nichts zu verhandeln gibt es jedoch beim Dermatologen. Dieser rät ihm davon ab, künftig an Ultracycling-Rennen teilzunehmen, wenn er nicht wieder Sitzprobleme haben wolle.
Daraufhin meldete er sich halt mit einem Kollegen für das Mountainbike-Rennen Swiss Epic im August an: Das Duo beendet die 300 Kilometer und 12 000 Höhenmeter in fünf Etappen auf dem 22. Rang.
Update: Am 3. Oktober 2025 hat uns die traurige Nachricht erreicht, dass André Bachmann verstorben ist. Nach einem schweren Velounfall lag er zwei Wochen lang im Koma und ist dann seinen Verletzungen erlegen. Unser tiefstes Mitgefühl gilt allen Angehörigen, denen wir viel Kraft zusprechen möchten.