Zum 79. Geburtstag: Merckx bummelt zum Sieg
Vor 50 Jahren nahm der grosse Eddy Merckx erstmals an der Tour de Suisse teil und siegte selbstverständlich. «Der Kannibale» bewegte in der Schweiz die Massen, alle wollten den unbesiegbaren Belgier live erleben. Doch ausgerechnet die Königsetappe an Merckx’ Geburtstag wurde zur Enttäuschung.
Text: Corsin Zander
Eddy Merckx gewann die Tour de Suisse 1974 so, wie er auch die grossen Rundfahrten dominierte. Er siegte nicht nur im Gesamtklassement, sondern auch in der Sprint- und der Bergwertung. Und er steckte dabei alle Schmerzen weg. Eine zweieinhalb Zentimeter lange Fleischwunde am Hintern konnte den belgischen Radstar nicht davon abhalten, die Konkurrenz zu deklassieren. «Radsport ist Schmerz», sagte Édouard Louis Joseph Merckx, wie der Flandrien mit vollem Namen heisst, einst. «Wenn du nicht leiden willst, dann such dir einen anderen Sport.»
Vor genau 50 Jahren nahm Merckx das erste Mal an der Tour de Suisse teil und war längst der grosse Radstar. Vier Tage zuvor hatte er den Giro d’Italia zum fünften Mal gewonnen. Und nach der Tour de Suisse gewann er die Tour de France im gleichen Jahr ebenfalls zum fünften Mal. In seiner Karriere errang Merckx zwischen 1961 bis 1978 so viele Siege wie kein Anderer: 625 listet die Website «Mémoire du Cyclisme» auf, 525 auf der Strasse, 98 auf der Bahn und 2 im Radquer.
Ihn für die Tour de Suisse zu verpflichten, war ein Coup, der dem damaligen Direktor Sepp Voegeli gelungen war. «Ich reiste Merckx immer wieder nach, bis er dann endlich die Unterschrift unter den Vertrag setzte», zitierte ihn damals die «Schweizer Illustrierte». Ganz günstig war das nicht. Wie viel die elf Tage an der Tour de Suisse kosteten, ist nicht überliefert. Aber der «Blick» verkündete, man habe 20 000 Franken aus der eigenen Tasche bezahlt, damit der Belgier in die Schweiz kommt.
«Kaum ein anderer Fahrer wechselt so häufig seine Maschine wie der in seine Velos verliebte Eddy Merckx.»
«Neue Zürcher Zeitung»
Den Organisator:innen war damals bewusst, dass sie etwas tun mussten, um genügend Aufmerksamkeit zu erhalten. Denn zur gleichen Zeit fand in Deutschland die Fussball-Weltmeisterschaft statt. Und der Plan ging auf: «Aus den Reaktionen der Zuschauer am Strassenrand, auf den kunstvollen Asphaltaufschriften, lässt sich ablesen, wie populär der belgische Radsportstar hierzulande ist: Das Publikum will Merckx sehen und es will ihn siegen sehen», schrieb die NZZ.
Und Merckx siegte gleich im Auftaktzeitfahren. Sein gelbes Leadertrikot gab er daraufhin in den zehn weiteren Etappen, von denen er zwei für sich entscheiden konnte, nicht mehr ab. Und er überliess bei seiner ersten Teilnahme an der Schweizer Landesrundfahrt nichts dem Zufall: Er setzte bei seinem Team durch, dass der Edelhelfer Joseph Bruyère gegen dessen Willen in die Schweiz kam. Und das Begleitfahrzeug hatte sieben verschiedene Rennräder von Merckx mit dabei. «Kaum ein anderer Fahrer wechselt so häufig seine Maschine wie der in seine Velos verliebte Eddy Merckx vor einer Steigung, nach einer Steigung, vor dem Schlussspurt, um verschiedene Sattel- und Lenkerpositionen sowie Kurbellängen auszuprobieren», berichtete die NZZ.
Eddy Merckx hasste das Verlieren und er sprintete an Rundfahrten auch dann noch zum Sieg, wenn er seine Konkurrenz im Gesamtklassement längst hinter sich gelassen hatte. Das brachte ihm den Übernamen «der Kannibale» ein. Die Legende besagt, dieser stamme von der zwölfjährigen Tochter des französischen Radrennfahrers Christian Raymond. Als dieser am Küchentisch über Merckx’ unersättlichen Siegeshunger sprach, soll das Mädchen gesagt haben: «Dieser Belgier, er überlässt euch nicht einmal einen Krümel, er ist ein Kannibale.»
«Dieser Belgier, er überlässt euch nicht einmal einen Krümel, er ist ein Kannibale.»
Tochter von Christian Raymond
Die Tour de Suisse von 1974 fuhr Merckx ungewohnt taktisch, berichteten die Zeitungen. So wurde die Tour nicht so spektakulär wie erhofft. Merckx’ Team hielt das Peloton immer wieder auf, indem es einen «Sperrriegel» bildete, an dem keiner vorbeikam. Man bummelte. So taten sie es auch auf der Königsetappe am 29. Geburtstag ihres Teamleaders von Bellinzona nach Naters-Blatten. Für die ersten 52 Kilometer benötigte das Peloton zwei Stunden. Die Fans hofften auf ein Feuerwerk und wurden enttäuscht. Merckx fuhr für einmal nicht auf den Sieg und wurde Dritter. Er war nur auf das Gesamtklassement bedacht. Ein ungewöhnliches Verhalten für einen, der sich sich in seiner Karriere nie um Taktik scherte. Die NZZ schrieb von einer «gesamthaft enttäuschenden Alpenetappe».
Wie sehr der Belgier seinen Körper schund, wurde erst Jahrzehnte nach seiner Karriere bekannt. Sein Arzt berichtete in der Biografie von Daniel Friebe über Eddy Merckx, er habe 1968, in seinem dritten Profijahr, eine schwere Herzerkrankung festgestellt. Er habe ein Kardiogramm eines Mannes «mitten in einer Herzattacke» gehabt. Daniel Friebe beschreibt Merckx als einen, der vor sich selbst floh. Er sei oft oft von Nervenflattern und Selbstzweifeln geplagt gewesen: «Nur im Rennen konnte er ihnen entfliehen.»
Als Merckx 1974 an der Tour de Suisse fuhr, neigte sich seine erfolgreiche Karriere dem Ende zu. Er gewann in den Jahren danach zwar noch Eintagesrennen, aber keine grösseren Rundfahrten. 1975 wurde er an der Tour de Suisse Zweiter, 1977 bei seiner dritten und letzten Teilnahme Zwölfter. Sein letztes Rennen gewann Merckx am 10. Februar 1978 in Zürich beim Omnium auf der Bahn. In seiner aktiven Karriere wurde er dreimal des Dopings überführt und musste eine Sperre absitzen. Er stritt den Konsum verbotener Substanzen stets ab. Dem Radsport blieb Merckx lange treu. Er arbeitete bei zahlreichen Rennen als Direktor, trat als Kommentator auf und gründete eine Velofabrik, die er 2017 verkaufte. In Belgien ist er noch immer ein Volksheld. Der belgische König verlieh ihm den Titel eines Barons.
Inzwischen hat sich Merckx zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. «Manchmal ist es zu viel, Selfies und Interviews ohne Unterlass. Es ist schwierig, in Belgien Eddy Merckx zu sein», sagte der beste Radsportler aller Zeiten anlässlich seines 75. Geburtstags vor vier Jahren. Vergangenen März musste er sich einer schweren Darmoperation unterziehen. Gerne hätten ihn die Organisator:innen der Tour de Suisse dieses Jahr kurz vor seinem 79. Geburtstag zur Königsetappe eingeladen, die wie 1974 in Blatten-Belalp endet. Doch ihre Kontaktversuche blieben unbeantwortet.