Wehe, wenn er losgelassen: Jan Christen, das grösste Schweizer Velotalent
Er ist erst 19 Jahre alt und eines der grössten Talente. Der Aargauer Jan Christen fährt im Team von Tadej Pogačar und ist sich sicher, das Zeug zu ganz grossen Siegen zu haben. Er ist schnell und angriffig wie die Rennhunde im Nachbardorf Kleindöttingen.
Text: Simon Häring
Fotografie: Maurice Haas
Es ist nass und trist. Der Wasserdunst des Atomkraftwerks Leibstadt geht am Horizont in den wolkenverhangenen Himmel über. Jan Christen aber hat ein schelmisches Lächeln im Gesicht, als er Anfang Mai an seinem Wohnort in Leuggern im Kanton Aargau die Tür zum Elternhaus öffnet, wo auch sein Bruder Fabio lebt. Seine Laune kommt nicht von ungefähr. Der 19-Jährige ist derzeit so etwas wie der Mann der Stunde im Schweizer Radsport. Zwei Tage zuvor hatte er beim Eintagesrennen zwischen Eschborn und Frankfurt sein Talent aufblitzen lassen. 37 Kilometer vor dem Ziel hatte er sich abgesetzt, war erst in der Schlussphase vom Feld geschluckt worden und dann noch auf den 15. Platz gesprintet.
Christen fährt Radrennen, wie er spricht. Kompromisslos, furchtlos, manchmal übermütig, aber immer: selbstsicher. Einfach nur mitfahren? Sich im Peloton verstecken? Nichts für ihn. Er sagt: «Angriffig zu fahren, entspricht meinem Naturell. Ich will das Rennen interessant machen.» Und er will gewinnen.
Angriffig zu sein, entspricht meinem Naturell. Ich will das Rennen interessant machen.
Jan Christen
Christen bewegt sich zwischen Selbstbewusstsein und Übermut, leichtsinnig aber ist er nicht. Das zeigt sich im Nachbardorf Kleindöttingen, wo er auf der Windhunde-Rennbahn zwei Rennhunde trifft. Als Kind sei er in die Schulter gebissen worden, deshalb habe er Respekt, sagt er. Es ist der einzige Moment, in dem Christen Zurückhaltung, fast schon Schüchternheit offenbart. Und es ist bezeichnend, wie schnell er diese ablegt und sich auf die Begegnung einlässt. Als Rennfahrer sei er ein wenig wie diese Rennhunde, sagt Christen. Neben der Strecke sind die athletischen Tiere mit den schmalen, langen Körpern umgänglich, zutraulich, verspielt. Doch wenn die vergitterten Tore hochschnellen und das elektronisch gezogene Hasenfell um das 380 Meter lange Oval fliegt, schiessen sie wie Blitze aus den Boxen. Es ist purer Instinkt.
Als Christen danach Runden auf der Sandbahn dreht, lässt sich erahnen, weshalb er als eines der grössten Schweizer Talente der letzten Jahrzehnte gehandelt wird – und weshalb er schon im Alter von 17 Jahren einen Vertrag über fünf Jahre bei UAE Team Emirates unterschrieben hat. Explosiv der Antritt, elegant der Fahrstil, ruhig der Oberkörper, gekonnt die Kurventechnik, verspielt, wie er beim Bremsmanöver den Sand aufwirbeln lässt.
Mauro Gianetti hat sich besonders um Christen bemüht. Der Tessiner Ex-Radprofi ist Geschäftsführer bei UAE und schwärmt: «Jan ist ein riesiges Talent und hat die richtige Einstellung. Er passt perfekt in unser Team. Er ist noch sehr jung, darum geben wir ihm alle Hilfe und nehmen den Druck von ihm.»
Auch Gianetti dürfte nicht entgangen sein, dass Christen sich mit seinen Leistungen Respekt verschafft hat, damit aber auch Argwohn provoziert. Denn er erhält dadurch mehr Freiheiten, und Andere müssen sich öfter in seinen Dienst stellen. Dass bei der WorldTour ein anderer Wind weht, habe Christen vor einem Jahr im Höhentrainingslager in der Sierra Nevada gespürt, als er noch nicht Teil des Teams war, aber bessere Leistungen zeigte als etablierte Fahrer.
Schon als Junior lieferte er Werte ab, die die Verantwortlichen in Staunen versetzen. Christen brach daraufhin die KV-Lehre in einem Spital in Leuggern ab und wurde Profi. Drei Monate lang verrichtete er Helferdienste. «Eine harte Zeit», sagt Christen, der nur Siege gewohnt war. Sein Palmarès als Junior: Weltmeister im Radquer, Europameister auf der Strasse, Schweizer Meister auf der Bahn, im Radquer, im Zeitfahren und auf dem Mountainbike. Christen sagt, er sei sicher «kein normaler Velofahrer», und nennt sich ein «Multitalent». Nicht weniger euphorisch formulieren es nationale und internationale Medien, die ihn als «Wunderkind» oder «eines der grössten Juwelen des globalen Radsports» bezeichnen.
Sein Selbstbewusstsein bezieht Christen nicht nur aus Resultaten, sondern auch aus dem, was ihm sein Trainer Iñigo San Millán sagt. Bei seinem Husarenritt zwischen Eschborn und Frankfurt habe er eine Leistung abgerufen, die «weniger als zehn Fahrer auf der Welt» in den Beinen hätten, soll der Spanier zu ihm gesagt haben. Christen hofft, dass ihm diese Leistung künftig zu mehr Freiheiten verhilft.
Jan ist ein riesiges Talent, hat die richtige Einstellung und passt perfekt ins Team.
Mauro Gianetti, CEO UAE
Kaum Freiheiten wird Jan Christen bei der Tour de Suisse erhalten, wo er als Helfer eingeplant ist. Sein um zwei Jahre älterer Bruder Fabio wird dort in diesem Jahr noch nicht am Start stehen. Er ist beim Team Q36.5 unter Vertrag und steht meistens im Schatten des kleineren Bruders, der die ganze Aufmerksamkeit absorbiert. Jan Christen sagt: «Wie ich ihn einschätze, kommt er gut damit zurecht. Ich hoffe, er wird auch noch zum Siegfahrer. Es ist mein Traum, einmal mit ihm im gleichen Team zu fahren.»
Wenn ich eine gute Vorbereitung und einen super Tag habe, ist an der WM in Zürich alles möglich.
Jan Christen
Es wäre die Krönung einer aussergewöhnlichen Familiengeschichte. Christens 2021 verstorbener Grossvater Hans Schleuniger nahm 1963 an der Tour de France teil, fuhr die Tour de Romandie und die Tour de Suisse. Christens Mutter Jolanda – die Tochter von Schleuniger – fuhr auf der Strasse und auf der Bahn Rennen. Vater Josef war Radprofi und wurde 1994 Schweizermeister bei den Amateuren. Noch lieber als das rote Trikot mit dem weissen Kreuz auf der Brust würde Jan Christen sich dereinst in das Regenbogentrikot des Weltmeisters überziehen Am liebsten schon im September an der Heim-WM in Zürich. Zwar würde er lieber bei den U23 starten, weil die Chance einmalig sei, doch auch wenn er bei der Elite fahren würde, traut er sich den grossen Wurf zu. «Wenn ich eine gute Vorbereitung und einen super Tag habe, ist alles möglich», sagt er beherzt.
Christen ist 1.83 Meter gross und 60 Kilogramm leicht. Ideale Masse für einen Spezialisten für Rundfahrten, wie er sagt. Und wenn er noch zwei, drei Kilogramm an Muskelmasse zulegt, habe er auch beste Voraussetzungen für Eintagesrennen: für das Amstel Gold Race, die Lombardei-Rundfahrt oder La Flèche Wallonne zum Beispiel, «die mir am Herzen liegen wie die Tour de France», wie Jan Christen sagt. Er glaubt nicht, dass er sich für das eine und damit gegen das andere entscheiden müsse. «Ich will beides fahren: Klassiker und Rundfahrten.»
Wann also steht er bei einer der drei grossen, dreiwöchigen Landesrundfahrten Giro, Tour de France oder Vuelta erstmals am Start? Weil einige seiner Teamkollegen ausfielen, sei er ein Thema für den Giro d’Italia gewesen, sagt Christen. Doch man sei gemeinsam zum Schluss gekommen, dass es für seine Entwicklung nicht förderlich wäre, wenn er drei Wochen als Helfer für Leader Tadej Pogačar eingesetzt würde. Christen sagt: «Wenn ich an den Start gehe, dann nur, wenn ich um den Sieg fahren kann.» Und zwar nicht nur in Etappen, sondern im Gesamtklassement.
Fraglich ist, ob er einen der beiden Startplätze bei den Olympischen Spielen in Paris erhält. Mit Stefan Küng, Marc Hirschi, Mauro Schmid und Stefan Bissegger ist die helvetische Konkurrenz gross und namhaft. Zumal von den Nominierten erwartet wird, dass sie sowohl das Strassenrennen als auch das Zeitfahren bestreiten. Christen glaubt, er habe gute Argumente für eine Nomination abgeliefert. «Wenn es klappt, würde ein Traum in Erfüllung gehen.» Und er würde wohl auch dort fahren, wie Rennhunde laufen: angriffig, mutig, selbstbewusst – und nach Instinkt.