Rigling rast
Sie gewann als erste Schweizerin einen Weltmeistertitel auf der Bahn und ist Europameisterin auf der Strasse. Nun zielt Para-Velofahrerin Flurina Rigling auf Olympia-Gold.
Flurina Rigling gewinnt 2022 in Paris mit Weltrekord in der Einzelverfolgung auf der Bahn die Weltmeisterschaft. Ihr wird auf dem Podest ein unpassendes Regenbogentrikot übergezogen. Monate später – kurz vor der Schweizermeisterinnenschaft – hat sie noch immer kein passendes Weltmeisterinnentrikot. Die Spitzensportlerin muss es sich selbst anfertigen lassen.
Rigling ist sich das gewohnt. Sie hat in ihrer noch jungen Karriere schon viel gewonnen. Doch sie weiss: Im Parasport wird einem nichts geschenkt.
Seit ihrer Geburt fehlen Flurina Rigling vier Finger und Zehen an beiden Händen und Füssen. Dies schränkt ihre Grifffähigkeit ein, und sie kann ihre Wadenmuskulatur nicht einsetzen. Bereits ihr erstes Kindervelo musste Marc Nägeli speziell herrichten. Der Velomechaniker betreut sie bis heute. Gemeinsam mit ihrer Schwester kurvte sie in Hedingen durch den grossen Garten und das Dorf im Zürcher Säuliamt.
Rigling hatte es immer schon schwerer als ihre Schwester. Diese Tatsache schien sie aber nur noch mehr anzuspornen. Eine Gymikollegin erinnert sich: «Es war schnell klar, dass für Flurina keine Aufgabe zu schwierig war. Seien es Handstände im Sportunterricht oder die Geschwindigkeit im Schreiben der Geschichtsprüfungen, sie war nicht nur die Beste, sondern meist auch noch die Schnellste dazu.»
Rigling fand nicht auf Anhieb zum Radsport. Dass der Rudersport, wie ihn ihre Schwester und ihr Vater leistungsorientiert ausübten, nichts für sie ist, musste sie akzeptieren. Also versuchte sie es zuerst mit Laufen, doch das belastete ihre Füsse zu sehr. Erst 2017, im Alter von 21 Jahren, kaufte sie sich ein Tourenvelo, mit dem sie Kilometer um Kilometer abspulte und Pass um Pass bezwang. Diese neue Leidenschaft wollte sie professionalisieren.
Die ersten Berührungen mit dem Parasport verliefen harzig. Rigling fühlte sich nie wirklich zur Gruppe der Menschen mit Behinderungen zugehörig und identifizierte sich nicht mit entsprechenden Organisationen. Um nicht mehr ganz auf sich selbst gestellt zu sein, meldete sie sich dennoch bei PluSport, der Fachstelle für den Behindertensport in der Schweiz. Jedoch war sie nicht wirklich überzeugt, an der richtigen Adresse gelandet zu sein.
Doch Nationaltrainer Dany Hirs bemühte sich persönlich um Rigling. Er steckte die junge Athletin mit seinem Enthusiasmus an. Rigling wollte sofort loslegen, alles geben und mit einem Trainingsplan die Leistung steigern. Kurz darauf fand sie sich in der Rehaklinik Bellikon zum Leistungstest wieder. Bewegungswissenschaftler Michael Pleus testete Rigling: «Sie hatte noch nicht viel Ahnung, also habe ich ihr einfach mal die Trainingszonen nach Herzfrequenz eingeteilt und geschaut, ob da überhaupt etwas Potential vorhanden ist», erzählt er. Und wie es das war! «Erst im Nachhinein habe ich gemerkt, dass ich an diesem Tag meinen persönlichen Trainer kennengelernt hatte», sagt Rigling. Seit 2019 trainiert sie täglich nach ihrem ganz eigenen Trainingsplan.
Dann kam Corona – und wurde zum Glücksfall für die frisch gekürte Spitzensportlerin. In Ruhe konnte sie auf fast autofreien Strassen trainieren. Stunde für Stunde. Tag für Tag. An Motivation fehlte es ihr nie. Ihr Team wuchs stetig. Neben Michael Pleus und Dany Hirs kommen ein Bahntrainer, eine Sportärztin, eine Physiotherapeutin, eine Sportpsychologin und eine Ernährungsspezialistin und Orthopäden dazu.
Was bei Athlet:innen ohne Handicap selbstverständlich ist, bedeutet im Parasport einen beträchtlichen finanziellen Aufwand, der privat getragen werden muss. Obendrauf kommen bei Rigling noch die speziellen Anforderungen an die Schuhe und den Lenker. Dies bedeutet für sie auch einen zeitlichen Mehraufwand. Doch dieser lohnt sich.
Muss sie auf etwas verzichten bei diesem enormen Aufwand? «Nein, es ist ein Privileg, so vieles machen zu können. Und ich will auch ganz bewusst diesen Lifestyle leben», sagt Rigling. Dieser Lebensstil ist aber weit entfernt von jenem der Profisportler:innen ohne Handicap. Rigling organisiert fast alles selbst. Jeden Test, jedes Trainingslager und eben auch das Regenbogentrikot.
Sie ist überzeugt, dass jeder Schritt nötig ist. Im sonstigen Radsport würde sie diese Strapazen im Team durchstehen, ihr würde das Material zur Verfügung gestellt und sie erhielte noch ein Gehalt obendrauf. Aber Flurina Rigling macht alles alleine. Sie steht um sechs Uhr auf, dreht eine knappe Stunde danach bereits erste Runden auf der Bahn. Dann folgt der Aerotest. Am Mittag hat sie ein Meeting wegen der Uni. (Sie studiert neben dem Sport noch Politikwissenschaften.) Am Nachmittag fährt sie nach Zürich, um ihr Velo zu perfektionieren zu lassen und später nochmals zu trainieren. Und nach dem Abendessen folgt noch das Meeting der Athlet:innenvertretung von PluSport bis 23 Uhr.
Die Bemühungen zahlen sich aus. Und zwar schnell. 2020, nur ein Jahr nach ihrem ersten Treffen mit Michael Pleus, wird Rigling Schweizermeisterin auf der Strasse und im Zeitfahren. 2021 ebenso. Dazu krönte sie sich als Europameisterin im Zeitfahren und gewann die Flandernrundfahrt. 2022 wurde sie Weltmeisterin in der Einzelverfolgung mit Weltrekord, Europameisterin auf der Strasse, und auch ihre Schweizermeisterinnen-Titel verteidigte sie erfolgreich.
Und 2023? Da macht sie gleich weiter und gewinnt auf der Bahn die Schweizermeisterschaft im Zeitfahren und in der Einzelverfolgung. In ihrem neuen Weltmeisterinnentrikot. Nun passt es. Es ist gerade noch rechtzeitig angekommen.