Wie schafft man eine Mannschaft?

Bei Q36.5 Pro Cycling haben Teamchef Doug Ryder und Berater Vincenzo Nibali Fahrer rekrutiert, die in den nächsten Jahren für Aufsehen sorgen sollen. Dabei sind auch drei Schweizer. Auf Visite im Trainingslager im spanischen Calpe.

q36.5 team
Fotografie: Maurice Haas

Das Getuschel an den Nebentischen klingt aufgeregt, längst haben die vielen Radfreund:innen den Superstar erkannt. Vincenzo Nibali sitzt Anfang Jahr am Pool im Hotel «Diamante Beach» in Calpe, einer beliebten Destination für Velotouren, und spricht über seine neue Rolle. Der Italiener beendete 2022 seine famose Karriere und ist nun als Botschafter und Berater des frisch gegründeten Teams Q36.5 Pro Cycling aktiv. Nibali spricht leise, fast schüchtern über sein neues Leben (siehe Interview auf Seite 36). Der einstige Gewinner der Tour de France, des Giro d’Italia und der Vuelta ist der prominenteste Name im Projekt, das hier im Trainingslager in Spanien so richtig lanciert wird.

«Gruppetto» hat Q36.5 Mitte Januar ein paar Tage exklusiv begleitet: Wir sassen beim Pastaessen am Tisch, waren im Massageraum, beobachteten die Vermessung der Fahrer und fuhren im Teamauto auf Ausfahrten mit, als die die Fahrer in Sprints halsbrecherisch Autos überholten. Dabei wollten wir herausfinden, wie aus 23 einzelnen Athleten, die im Frühsommer verpflichtet worden waren, ein Radsportteam entsteht. 

Der Mastermind hinter Q36.5 Pro Cycling ist Doug Ryder. Der 51-Jährige war einst selbst Profi, arbeitete später jahrelang als Direktor beim südafrikanischen Team Qhubeka und ist in der Szene gut vernetzt. Er spricht wie ein Verkäufer, ohne Punkt und Komma, stets in Superlativen. Wer ihm zuhört, kann sich gut vorstellen, wie es ihm gelungen ist, Sponsoren, Fahrer, aber auch Betreuer:innen und Mechaniker zu überzeugen. Dies bestätigt sich in Gesprächen mit unterschiedlichen Mitgliedern des Q36,5-Teams. Dabei zeigt sich auch: Die Ansprüche sind hoch. «Wir wollen im Jahr 2026 ein Wold-Tour-Team sein», sagt Ryder. 

calpe trainingslager q36.5
Im malerischen Calpe überlässt Q36.5 nichts dem Zufall. Das Material und die Infrastruktur, die das Team nach Spanien geflogen hat, entsprechen heute schon denen eines World-Tour-Teams. Das Ziel ist deshalb klar: Das internationale Team mit der Schweizer Lizenz will 2026 in die höchste Radsportliga aufsteigen. Dafür braucht es während drei Jahren gute Resultate, denn nur die besten 18 Teams erhalten vom Radsportverband die Lizenz für die World Tour.
q36.5 calpe bidon
Für den traumhaften Strand in Calpe haben die Fahrer während des Trainingslagers keine Zeit. Frühmorgens schieben sie ihr Velo bereits durch die Hotellobby. Erholung bietet nach einem anstrengenden Tag im Sattel die Massage im Hotel. «Gruppetto» hat das Team während drei Tagen exklusiv begleitet – anders als für die Fahrer lag für den Reporter und den Fotografen ein Spaziergang am Meer zwischendurch aber durchaus drin.

Die World Tour ist die höchste Liga im Radsport. Sie besteht aus insgesamt 18 Teams, die an den wichtigsten Rennen teilnehmen dürfen. Die Mannschaften der zweiten Stärkenklasse, Pro Continental Teams, müssen auf eine Einladung hoffen. Die Lizenzen für die World Tour werden alle drei Jahre an die 18 erfolgreichsten Teams vergeben.

Dass Q36.5 von der World Tour träumen kann, hat mit der Namensgeberin des Teams zu tun, einer Luxus-Radbekleidungsfirma aus Italien (siehe Infobox auf Seite 35). Der CEO der Firma, Luigi Bergamo, ist ebenfalls in Calpe und ein grosser Radfan. Er bereitet sich gerade auf eine Ausfahrt vor, als wir ihn zum Interview treffen. Bergamo spricht gut Deutsch, er lebt mit seiner Frau, der ehemaligen Schweizer Velorennfahrerin Sabrina Emmasi-Bergamo, und drei Kindern in Zürich, wo auch die Büros von Q36.5 und der Flagship Store des Unternehmens sind. «Dass wir jetzt ein eigenes Radsportteam haben, unterstreicht unsere Ambitionen und soll die Visibilität unserer Marke erhöhen», sagt Bergamo.

Q36.5 hat sich bis Ende 2025 verpflichtet, wobei General Manager Doug Ryder gross denkt und davon ausgeht, ein Team aufzubauen, das sich in ein paar Jahren als eines der besten der Welt etabliert hat. «Es ist wahnsinnig aufregend, eine Equipe von Grund auf aufzubauen», erklärt er. «So eine Chance gibt es nicht oft.» Ryder hat alle Angestellten selber ausgesucht, die Fahrer, die fünf Sportdirektoren, die Betreuer:innen. Q36.5 gilt als Schweizer Team, ist aber sehr international ausgerichtet. Und, was in Calpe offensichtlich wird: Das Team funktioniert bereits auf World-Tour-Niveau. Das zeigen nicht nur die Ansprüche der Beteiligten, sondern auch das ganze Material und die Infrastruktur, die das Team nach Calpe geflogen hat. Das hängt auch damit zusammen, dass das Team auf potente Partner und ein Budget von rund neun Millionen Franken zählen kann, wobei die wirtschaftlichen Möglichkeiten Saison für Saison erweitert werden sollen.

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Fotografie: Maurice Haas
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Fotografie: Maurice Haas

Doug Ryder stand ein Pool von rund 100 auf dem Transfermarkt verfügbaren Fahrern zur Auswahl, als er 2022 ein neues Team zusammenstellte. Daraus suchte er jene Spezialisten aus, die nötig sind, um Akzente setzen zu können: Sprinter, Bergfahrer und Rouleure, Leader und Teamplayer, aber auch Fahrer, die in Eintagesrennen oder an Rundfahrten brillieren können. «Der Mix ist entscheidend», sagt Ryder, «auch zwischen Erfahrung und Jugend.»

Unter den 23 Fahrern aus 13 Nationen bei Q36.5 sind drei Schweizer. Sie wirken in den Gesprächen motiviert. Im November gab es ein paar Teamtage in Mailand, da sei man auch mal zusammen in den Ausgang gegangen, erzählt Filippo Colombo. Über die Stränge geschlagen hätten sie aber nicht, sagt der 25-Jährige. Man glaubt ihm, so fokussiert wie er auf den Radsport ist. Der Tessiner ist auf der Strasse ein Quereinsteiger. Sein Fokus gilt dem Mountainbike, das grosse Ziel sind die Olympischen Spiele 2024 in Paris. Bei Q36.5 will er Erfahrungen sammeln. «Strassenrennen sind gefährlicher als Bike-Rennen, weil das Tempo sehr hoch sein kann und die Dynamik im Feld unberechenbar ist», erläutert Colombo in Calpe. Nur Wochen nach dem Gespräch wird er sich bei Paris–Roubaix bei einem Massensturz den Arm brechen.

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Fotografie: Maurice Haas

Ebenfalls einen speziellen Karriereverlauf hat Matteo Badilatti hinter sich. Nach dem Studium in St. Gallen wurde der Bündner erst 2018 mit 26 Jahren Profi. Bei Q36.5 ist er als 30-Jähriger einer der ältesten Fahrer. Nach einem schweren Sturz im Herbst 2022 ist er in Calpe noch vorsichtig unterwegs. Badilatti gerät ins Schwärmen, wenn er von den Voraussetzungen in seinem neuen Team spricht und davon, wie professionell alles aufgebaut ist: «Die Strukturen sind ausgezeichnet, wir profitieren etwa bei der Datenerfassung von einem enormen Wissen.» Einen Monat nach dem Trainingslager wird Badilatti auf der Königsetappe der Ruanda-Rundfahrt seinen ersten Sieg in einem Profi-Rennen feiern. 

Am Anfang einer vielversprechenden Laufbahn steht Fabio Christen, der dritte Schweizer bei Q36.5. Der 20-Jährige stammt aus einer radsportverrückten Familie, beide Eltern waren Profis, der Grossvater fuhr einst die Tour de France. Auch Christen erlitt 2022 eine heftige Verletzung nach einem Radunfall, darf sich aber nun nach dem Abschluss seiner kaufmännischen Lehre voll auf seine Karriere konzentrieren. Ihm lagen mehrere spannende Offerten vor, das Q36.5-Projekt reizte ihn am meisten. Hier muss er seinen Platz erst noch finden. Nach drei Tagen Trainings-Weekend kennt er zumindest alle Teamkollegen mit Vornamen, wie er erzählt. «Ich bin ein Allrounder und kann in den nächsten Jahren viel lernen», sagt Christen, der an der U23-WM im Herbst einer der Schweizer Trümpfe sein wird.

Die Ziele sind hoch gesteckt und die Sponsoren potent. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob das reicht, um einen der grossen Schweizer Fahrer wie Gino Mäder oder Stefan Küng anzuwerben und mit ihnen in den Reigen der World-Tour-Teams aufzusteigen. Teamchef Doug Ryder hat mit der Verpflichtung von Vincenzo Nibali bewiesen, wie ehrgeizig er ist. Ryder ist ein Visionär. 2015 gelang es ihm, mit Qhubeka als erstem afrikanischem Team an der Tour de France teilzunehmen. «Das hatte vorher kaum jemand für möglich gehalten», sagt Ryder in Calpe. Und: «Man muss seine Träume leben.»

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Wie kommt das Team zu seinem Namen?

Q36.5 ist eine Velokleiderfirma mit Niederlassungen in Zürich und im italienischen Bozen. CEO Luigi Bergamo und seine Frau Sabrina Emmasi-Bergamo halten etwas mehr als Hälfte der Aktien am Radsportteam. Etwas weniger als ein Drittel der Anteile gehört dem frühreren Glencore-Chef Ivan Glasenberg, und den Rest der Aktien hält ein amerikanischer Geschäftsmann.

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