Die Lötlegende

Keiner kann Rahmen bauen wie er, heisst es. Ein Besuch bei Walter Schor in Gränichen.

Text: Pascal Ritter

Fotografie: Urs Jaudas

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Schors Werkstatt befindet sich in einem Wohnquartier in Gränichen AG im Anbau des Hauses, wo er mit seiner Frau Therese lebt.

Als ich mein Ziel am Ende einer steilen Strasse erreiche, sehe ich durchs Fenster eine Gestalt. Sie dreht sich um, nimmt etwas aus der Ablage hinter sich und bückt sich wieder über ein Velo, das auf einem Ständer aufgebockt ist. Es stimmt also, was man sich erzählt: Walter Schor ist mit seinen 79 Jahren immer noch am Schrauben. Ihn zu finden, war schwierig und einfach zugleich. Eine Website oder E-Mail-Adresse hat Schor nicht. «Damit fange ich nicht mehr an», sagte er am Telefon. Seine Nummer fand sich ganz simpel im Telefonverzeichnis. Vermerk: «Velos».

Auf seine Spur kam ich vor ein paar Jahren an einem frühen Samstagmorgen auf dem Zürcher Helvetiaplatz. Umrahmt von einer Absperrung, reihten sich alte Damenräder an moderne Carbon-Renner. Es war Velobörse. Da las ich seinen Namen zum ersten Mal auf einem blau schimmernden Rennrad mit Campagnolo-Schaltung. Die Aufschrift «SCHOR» in serifenlosen Grossbuchstaben sagte mir damals nichts. Das änderte sich, nachdem ich für das Velo 350 Franken hingeblättert hatte. Eine meiner ersten Ausfahrten führte nach Luzern, wo mir ein älterer Herr beim Anblick meines Velos am Ufer des Vierwaldstättersees einen Kurzvortrag über Leben und Wirken eines Walter Schor hielt. Er habe lange bei der Tigra gearbeitet, bevor er sich selbstständig machte, erfuhr ich dort. Tigra, das sagte mir etwas. Man sieht immer wieder mal einen Rahmen aus der Aargauer Fabrik, die noch bis ins Jahr 2000 Velos herstellte. Später hatte ich einen Platten an der Zürcher Gutstrasse. Als ich bei Dreiercycles, einem lokalen Rahmenbauer, nach einem neuen Reifen fragte, gratulierte mir Inhaber Patrick Dreier zu meinem Velo. Schor sei ein Meister im Löten. Kaum einer könne Muffen, die Verbindungsstücke zwischen zwei Stahlrohren, so gut mit dem zähen Messing verlöten wie er. Auf der Offenen Rennbahn in Zürich Oerlikon schwärmte Platzchef Alois Wisel Iten, ein Kunde und Freund von Schor: «Walti lieferte immer perfekte Rahmen. Da gab es im Unterschied zu anderen Lieferanten nie etwas zu beanstanden.»

Walti Schor
Das Feuer brennt noch. Walter Schor baut keine Velos mehr, den Schweissbrenner hat er aber immer schnell zur Hand.

So schwer ist es nicht. Ich kann es einfach.

von Walter Schor

Wer ist dieser Walter Schor und wie kam er zu seinem Ruf?, fragte ich mich und machte mich auf den Weg. Schor lebt in Gränichen, einer 8000-Einwohner-Gemeinde im Aargauer Wynental direkt an der A1 auf der Höhe von Suhr. Fällt der Name des Ortes im Radsportkontext, wird er auch mal mit Grenchen im Kanton Solothurn verwechselt, wo sich das Velodrom befindet. Dabei hat Gränichen seine ganze eigene Radsportgeschichte. Hinter der reformierten Kirche steht noch heute der Grabstein von Heiri Suter. Dieser gewann vor ziemlich genau 100 Jahren als erster Nicht-Belgier die Flandernrundfahrt und im gleichen Jahr auch noch Paris-Roubaix.

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Schors Werkstatt befindet sich in einem Anbau seines Hauses, wo er mit seiner Frau Therese Schor-Stirnemann lebt. Seine Tochter ist längst ausgezogen. Es ist Dezember, als ich ihn zum ersten Mal treffe. Schor trägt ein Gilet über dem Hemd. Zwischen Rädern und Reifen, Sätteln und Schläuchen surrt ein Ölofen. Der vermeintliche Schrott, der sich in der engen Werkstatt türmt, stellt sich bei genauerer Betrachtung als Ansammlung seltener Teile heraus. Schimmert dort unter alten Shimano-Katalogen nicht noch die Kartonschachtel mit der Campagnolo-Record-Hochflanschnabe von 1974? Hängt dort neben der Autogrammkarte der belgischen Radlegende Eddy Merckx nicht noch ein Ersatz für das Kettenblatt, das einem die alte Fahrradkette angefressen hat?

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Schors chaotisch wirkende Werkstatt hat bei seiner Kundschaft Kultstatus. Die grössten Schätze stehen aber in seiner Wohnung.

Schor geht leicht gebückt die wenigen Schritte vom Eingang bis zum Bock, wo ein Stahl-Velo aus den 1970er Jahren eingespannt ist. Es ist in seinen Signaturfarben lackiert: Grün, Gelb und Weiss. Auf Umwegen kam es zurück zu ihm, und er richtet es für den nächsten Kunden her. Das Licht der Neonröhre fällt auf sein graues Haar. Es wirkt, als würde er sein linkes Auge ständig zukneifen. Das ist ein Überbleibsel eines Velounfalls in der Jugend. Schor erzählt: Zu zweit waren sie unterwegs, die Velolichter erhellten die dunkle Strasse nur schwach, als sich zwei Lichtkegel von hinten und von vorne näherten. Und so passierte es. Der Lenker des Jaguars, der von hinten kam, übersah, vom Licht des anderen Autos geblendet, die zwei Gümmeler auf seiner Fahrbahn. Schor lag darauf 12 Tage bewusstlos im Kantonsspital Aarau. Schädelbruch. Der Unfallfahrer, der damalige Wirt des Bahnhofsbuffets in Aarau, stand täglich am Krankenbett und brachte ihm später nie mehr eine Rechnung an den Tisch.

Schor erinnert sich gelassen an den Unglückstag. «Irgendwann musst du abschliessen damit», meint er und nennt einen «Vorteil» der ganzen Geschichte: Er musste nicht ins Militär. Kaum aus dem Spital, setze er sich wieder aufs Velo und fuhr Rennen. Zum grossen Durchbruch reichte es ihm nicht. Er blieb dem Sport aber treu, unterhielt zwischen 1970 und 1985 ein eigenes Rennfahrerteam. Auf einem Bild an der Werkstattwand posieren junge Radsportler auf Landstrassen. Auf ihren Wolltrikots stehen gross der Teamname «Groupe Sportive Schor» und die Namen ihrer Velovereine, Wohlen oder Hochdorf. «Das ist der Mächler Erich, der hat später Mailand–San Remo gewonnen», sagt Schor und zeigt auf einen der Fahrer.

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Manch ein Profi trainierte als Amateur mit Schors Rennvelos. Etwa Oscar Camenzind, der Weltmeister von 1998. Beim Gedanken daran greift Schor zu seinem Adressbuch und wählt die Nummer von Camenzind; der nimmt vom Velosattel aus ab und schnauft ins Telefon: «Es stimmt. Solange ich selber für ein Velo bezahlte, kaufte ich Schor.»

Als ich im Winter 2022 in seiner Werkstatt stehe, ist es eigentlich schon zu spät. Den Schweissbrenner hat Walter Schor niedergelegt, die Produktion von Stahlrahmen eingestellt. Eigentlich. Als ich ihn bitte, ihn für den Fotografen nochmals anzuwerfen, zischt die Flamme nach 30 Sekunden bläulich aus dem Kolben. Handschuhe oder Schutzbrille sind nicht Schors Ding. Mit seinen von jahrzehntelanger Arbeit gezeichneten Händen greift er nach einem Rohr und spannt es im Schraubstock ein. In der Rechten hält er den Schweissbrenner, mit der Linken greift er nach einer Zange und schnappt sich damit eine Kabelführung. Die Flamme färbt sich orange und gelb. Ein paar Sekunden später sind Kabelführung und Oberrohr zu einem Teil verschmolzen.

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Die Muffen, das Gelenkstück zwischen zwei Rohren, verzierte Schor mit ausgefeilten Herzen­.

Ob es stimmt, dass kaum einer Muffen und Rohre so gut verlöten kann wie er, frage ich. Schor lächelt, dreht den Hahn der Gasflasche wieder zu, schüttelt den Kopf und sagt: «So schwer ist es nicht. Ich kann es einfach.» Rund 5000 Stahlrahmen hat er in seinem Leben zusammengelötet, schätzt Schor. Gezählt habe er sie nicht. Die meisten für die Marke Tigra. Die Fabrik befand sich nur einen Kilometer von seinem Haus entfernt. Im Jahr 1970 hatte er genug von der «Chrüppelbude», wie er sagt. Die Bezahlung war bescheiden und das Dach undicht. Schor lacht und erzählt von einem Mitarbeiter, der bei schlechtem Wetter in der Fabrik einen Regenschirm aufspannte. Also nahm er seinen Schweissbrenner nach Hause und arbeitete zusammen mit seiner Frau Therese auf eigene Rechnung. Sie machte das Büro und speichte Räder ein, er baute Rahmen. Dabei zeigte er Liebe fürs Detail. Oft feilte er kleine Herzen in die Muffen.

Schor schraubt heute praktisch nur noch für die langjährige Stammkundschaft. Er baut noch Velos auf, kauft die Rahmen aber ein. Bei meinem zweiten Besuch im April 2023 steht ein blaues Gravel-Velo mit elektronischer Schaltung zum Abholen bereit.

Kurz bevor ich aufbreche, erzählt Schor noch eine Anekdote. Sie handelt von einem Berufskollegen, der Interesse zeigte, seine Werkstatt zu übernehmen. Wegen der schönen Aussicht vom Werkzeugbock direkt am Fenster. «Die bekommst du nicht so schnell», habe er ihm gesagt. Solange er noch kann, will er weitermachen. Weltmeister Camenzind fragte Schor am Telefon noch, ob er nicht ein Comeback geben und wieder einen Stahlrahmen bauen wolle. «Nein», antwortete Schor. «Jetzt ist fertig», habe er sich gesagt.

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