Warum wir Jan Ullrich nicht totschweigen
Heute, am 28. November 2023, erscheint die vierteilige Doku-Serie «Jan Ullrich – Der Gejagte» bei Amazon Prime Video. Wir waren beim Screening in Zürich dabei und wurden auf Instagram gefragt: «Weshalb gibt man dem Herrn noch eine Plattform?» Ein Kommentar.
Die kurze Antwort auf die Frage, weshalb wir Jan Ullrich eine Plattform geben, lautet: Weil er ein Teil der Radsport-Geschichte ist.
Aber an dieser Stelle wollen wir gerne genauer auf die Frage eingehen. Dafür beginnen wir bei uns. Das «Gruppetto» will hochwertigen Journalismus betreiben. Kernstücke des Magazins sind hintergründige Porträts und Reportagen, bei denen die Menschen und die Velokultur im Vordergrund stehen – weniger der Sport als solches und seine Resultate.
Online, in unserem Newsletter und auf Social Media liefern wir Service und geben das aktuelle Geschehen in der Radsportszene wieder. Wir beleuchten den Radsport on- und offline in all seinen Facetten. Der Schweizer Journalistenkodex hält in seiner Präambel fest: «Journalistinnen und Journalisten sichern den gesellschaftlich notwendigen Diskurs.» Dazu gehört auch, über Dinge zu berichten, die wir persönlich ablehnen oder nicht unserer Haltung entsprechen. Entscheidend ist, dass wir sie einordnen.
Jan Ullrich ist, stand heute, Sieger der Tour de France 1997 und des olympischen Strassenrennens 2000. Er lieferte sich packende Duelle mit Lance Armstrong und war nicht nur in Deutschland ein beliebter Sportler. Über zehn Jahre lang prägte er die Szene in einer Zeit, in dem zweifelsohne viele illegale Substanzen mit im Spiel waren. 2006 wurde Ullrich von seinem Team suspendiert. Danach kam es ab etwa dem Jahr 2010 zum grossen Absturz. Ullrich konsumierte Alkohol, Kokain und rauchte nach eigenen Angaben auch mal 600 (!) Zigaretten an einem Tag. Neun Zigaretten zusammengebunden aufs Mal. Mittlerweile hat er sich wieder gefangen.
Bis vor kurzem sprach Jan Ullrich kaum in der Öffentlichkeit und war nicht wirklich geständig. Er betonte stets, dass er «nie jemanden betrogen» habe. Nun, 2023, erklärt er diese Aussage für falsch. Er meint aber, dass es zu jener Zeit nicht möglich gewesen wäre, eine grosse Rundfahrt zu gewinnen, ohne zu dopen. Er habe mit dem Betrug lediglich Chancengleichheit hergestellt.
Jan Ullrich ist also ein geständiger Betrüger. Berichten wir über ihn, bieten wir ihm ohne Zweifel eine Plattform.
Wir tun dies bewusst, weil eine neue Dokumentarserie über einen erfolgreichen, wenn nicht den erfolgreichsten, deutschen Radsportler erscheint. Die Serie gibt neue Einblicke in Ullrichs Leben, die Triumphe, die Betrügerei, den Absturz.
Also haben wir als «Gruppetto» zwei Möglichkeiten. Schreiben, was ist. Oder: Nicht schreiben, was ist.
Jan Ullrichs neue Einsichten, Geständnisse und Entschuldigungen totzuschweigen, erachte ich hier als die eindeutig schlechtere Möglichkeit. Je mehr Fakten auf dem Tisch liegen, je mehr Details bekannt, je mehr Geständnisse öffentlich sind, desto weniger schwebt die Dopingwolke über den heutigen Top-Athletinnen und Athleten. Natürlich bleibt Ullrich auch einige Antworten schuldig. Wer hat ihn wie genau dazu gebracht, Doping zu nehmen? Wie wurde es vertuscht? Wer hat sich dagegen gewehrt? Wer hat Kritik unterdrückt? Wer wusste wann wie viel darüber, was alles konsumiert wurde? Ullrich sagt zu all dem, er wolle niemanden hineinziehen und nur über sich sprechen. Damit verkennt er, dass er Teil des Systems ist und sich nicht einfach als einzelne Figur dabei herausnehmen kann.
Aber durch sein Geständnis und die Dokuserie beantwortet er immerhin einen Teil der Fragen. Der Radsport verdient eine Aufarbeitung seiner unsauberen Vergangenheit. Vor allem auch um sich so die Glaubwürdigkeit zurückzuholen, die er verdient.
Also schreiben wir, was ist. Und ermöglichen es so, dass die Gesellschaft den notwendigen Diskurs über Leistungssport führen kann.