«Der Druck ist immer gross»
Der tödliche Sturz von Gino Mäder bei der Tour de Suisse erschütterte im vergangenen Jahr die Radsportwelt. Nun sagt Direktor Olivier Senn, was man aus dem Vorfall gelernt hat und wie es mit der Rundfahrt weitergeht.
Olivier Senn, die Tour de Suisse steht im Jahr Eins nach dem tödlichen Unfall von Gino Mäder. Wird sie mit einer Trauerminute starten?
Nein, auf gar keinen Fall. Natürlich war das eine Idee, die uns auch gekommen war. Aber im Gespräch mit der Familie wurde sehr schnell klar, dass sie das nicht will. Das respektieren wir selbstverständlich.
Nach dem tödlichen Unfall sprachen Sie sich eng mit der Familie ab. Das tun Sie heute noch?
Klar, wir standen in den vergangenen elf Monaten immer wieder in engem Kontakt, und es war klar, dass wir nichts machen werden, was die Familie nicht möchte. So wollen wir nun die schönen und positiven Seiten von Gino Mäder in den Vordergrund rücken.
Wie machen Sie das?
Wir möchten Gino als Menschen ins Zentrum stellen und die #RideforGino-Stiftung unterstützen. Gino hat bis zuletzt Geld für einen guten Zweck gesammelt, und seine Familie führt dieses Engagement nun weiter. Wir werden der Stiftung den höchsten Bergpreis der Rundfahrt widmen, auf allen Leadertrikots wird der Hashtag stehen, und wir werden Ginos Nummer 44, die er bei seinem Sturz getragen hat, nicht mehr vergeben.
Nie mehr oder bloss in diesem Jahr nicht?
Nie mehr. Auch die anderen Massnahmen werden wir in den kommenden Jahren fortführen. Gino ist ein Teil der Geschichte der Tour de Suisse und er soll dies auch weiterhin bleiben.
Sie wurden nach dem Sturz wegen der Streckenplanung heftig kritisiert. Es sei etwa fahrlässig, das Ziel nach einer Abfahrt zu planen.
Eben erst gab es beim Giro d’Italia in der ersten Etappe eine ähnliche Streckenführung, und alle haben dieses Spektakel gefeiert. Wir haben nichts getan, was ausserordentlich gefährlich wäre. Das hat auch die Untersuchung der Staatsanwaltschaft gezeigt, die kein Fehlverhalten unsererseits feststellen konnte.
Der tödliche Sturz hat die Streckenplanung also nicht beeinflusst?
Natürlich haben wir nicht gleich wieder eine Etappe geplant mit einer Abfahrt vor dem Ziel. Der Tod hat unser Bewusstsein dafür geschärft, wie gefährlich der Radsport sein kann. Wir schauen zusammen mit den Kantonspolizeien heikle Stellen genauer an, und wir werden einzelne Kurven noch deutlicher signalisieren.
Haben Sie auch in der Organisation Massnahmen getroffen?
Die Sicherheit ist neu ein eigener Bereich, der dem Sportdirektor David Loosli unterstellt ist. Wir werden zudem noch einen dritten Rennarzt dabei haben.
«Gino ist ein Teil der Geschichte der Tour de Suisse und er soll dies auch weiterhin bleiben.»
Olivier Senn
Sind diese Massnahmen ein Eingeständnis, dass Sie bisher nicht alles für die Sicherheit getan haben?
Auf keinen Fall. Optimieren kann und muss man immer etwas. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass es nie eine hundertprozentige Sicherheit geben wird. Die Tour de Suisse war auch vergangenes Jahr und davor kein unsicheres Rennen. Wir haben stets unser Bestes für die Sicherheit aller Beteiligten getan. Natürlich sind wir uns nach diesem tragischen Vorfall vergangenes Jahr noch etwas bewusster, wie gefährlich dieser Sport sein kann. Wir haben es jetzt alle sehr nahe miterlebt.
Die Tour de Suisse dürfte in diesem Jahr noch stärker unter Beobachtung stehen.
Damit kann ich gut umgehen. Mein ganzes Team hat bisher schon immer einen sehr guten Job gemacht und wir werden das auch weiterhin tun. Natürlich stehen wir nun mehr unter Beobachtung. Aber wir haben bisher schon alles für die Sicherheit getan.
Der Druck ist also nicht grösser?
Der ist immer gross. Doch wir wissen, wie wir damit umgehen können.
Sie persönlich wurden nach dem Tod von Gino hart angegriffen. Jemand soll Sie als «Mörder» bezeichnet haben. Haben Sie je ans Aufhören gedacht?
Wegen eines Trottels, der mich beschimpft? Ganz sicher nicht! Solcher Unsinn interessiert mich nicht und geht mir auch nicht nahe. Mir war es stets wichtig, dass ich mich vor mein Team stelle. Insbesondere auch vor all jene, die enorm viel Freiwilligenarbeit in die Tour de Suisse stecken. Für sie halte ich gerne den Kopf hin, wenn es Kritik gibt.
Sie freuen sich also auf die anstehende Tour de Suisse wie in allen anderen Jahren auch?
Ich freue mich sehr. Vielleicht bin ich etwas weniger gelassen als noch in anderen Jahren. Ich werde sicher öfter einmal an Gino denken und traurig werden. Aber das werde ich für mich persönlich tun. Als Tour de Suisse wollen wir positiv vorwärts gehen. Und das werden wir auch tun.
Die Tour de Suisse der Männer beginnt am 9. Juni mit einem Einzelzeitfahren in Vaduz, jene der Frauen am 15. Juni in Villars-sur-Ollon.
Olivier Senn ist 54 Jahre alt und lebt in Gansingen im Aargau, wo er aufgewachsen ist. Nach seiner Karriere als Elite-Radfahrer blieb er in verschiedenen Funktionen im Radsport-Business tätig. Mit der Firma Cycling Unlimited ist er unter anderem Veranstalter und Direktor der Tour de Suisse. Und er ist der sportliche Leiter der chinesischen Tour of Guangxi. Zudem ist Senn stellvertretender Leiter und Sportchef der Rad-WM 2024.