«Wir sind doch keine Holländer!»
Ob über Pflastersteine, Sand oder durch Schlamm, in keinem anderen Land wird der Radsport so euphorisch zelebriert wie in Belgien. «Das hat historische Gründe», erzählt der Botschafter des belgischen Königreichs bei einem Besuch in seiner Residenz in Bern.
Text: Corsin Zander und Laurent Aeberli
Fotografie: Raul Surace
Die Biergläser auf dem Holztisch sind schon wieder voll. Der Beamer projiziert eine Dreckpiste an die Wand, auf der sich Veloprofis abmühen. Das Parkcross in Maldegem ist ein unbedeutendes Radquerrennen. Es wird auf VRT 1, dem grössten TV-Sender Flanderns, live übertragen. Doch das spielt hier an diesem Mittwochnachmittag alles keine Rolle.
Botschafter Pascal Heyman ist in einen Vortrag über Velokultur vertieft. Nur selten fällt sein Blick auf die Leinwand, auf der gerade der Nationalsport seiner Heimat zelebriert wird. An keinem Ort der Welt ist der Radsport so wichtig wie in Belgien, einem Land fast ohne Berge, mitten in Europa. Ob Arbeiter oder CEO: Wer etwas auf sich hält, gibt sich dem Sport hin.
Bittet man als Journalist:in einen Botschafter um ein Treffen, ist das meist kompliziert. Sagt man dem höchsten Vertreter des Königreichs Belgien in der Schweiz, man wolle ein Radrennen schauen und etwas über die Faszination Radsport erfahren, geht es schnell. Ohne Umschweife lädt Pascal Heyman in seine Residenz, eine neobarocke Villa im Berner Kirchenfeldquartier. Auch der Konsul, Koen Gabriels, lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen.
Der Radsport sei tief im Alltag der Belgier:innen verankert, sagt Pascal Heyman: «Wir sagen: ‹Du musst leben wie ein Flandrien.› Das heisst kämpfen, aufstehen, wenn man am Boden ist, es wieder und wieder versuchen, bis man besser wird.» Sofort ergänzt Koen Gabriels: «Der Flandrien, das ist ein Bauernsohn. Er trägt einen Ersatzreifen um den Hals, hat Schmutz im Gesicht. Und er sitzt natürlich auf dem Rennvelo.»
Dieses Bild des einfachen Velorennfahrers aus Flandern passt so gar nicht zum Ort, wo das Gespräch stattfindet. Über den massigen Fauteuils und dem mächtigen Sofa hängt ein grosser Kronleuchter. Der belgische Staat hat die Villa aus dem Jahre 1903 gekauft und nutzt sie seit 1949 für repräsentative Besuche. In den oberen Stock des Hauses ist Botschafter Heyman bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren eingezogen. Seine Frau, eine slowenische Diplomatin, und sein dreijähriger Sohn sind in Belgien geblieben.
Der Flandrien, das ist ein Bauernsohn. Er hat Schmutz im Gesicht und sitzt auf dem Rennvelo.
Koen Gabriels
Im Wohnzimmer im Erdgeschoss serviert Heyman natürlich nicht irgendein Bier: Westvleteren, ein belgisches Trappistenbier, gebraut von Mönchen, blond, sechs Volumenprozent. «Das beste Bier der Welt», sagt Heyman. Die Frage nach einem Glas Wasser geht unter. «Bier ist auch nur Wasser», kommentiert Heyman lachend.
Ob nach einer Ausfahrt oder für das Publikum eines Rennens: Radsport ist in Belgien eng mit dem Bier verknüpft. Und so fliesst es im Verlaufe des Nachmittags in der Botschafterresidenz kontinuierlich. Es wird in den drei Stunden immer dunkler und stärker. Erst acht, später zwölf Prozent.
«Als der Radsport noch vor dem Ersten Weltkrieg in den Niederlanden, Frankreich, Spanien und zum Teil noch im Norden Italiens entstanden ist, waren die Belgier mittendrin», doziert Konsul Gabriels. «Die Zeitungen haben damals besonders spektakulär über den Radsport berichtet. Sie machten aus den Fahrern Helden. Viele Arbeiter hofften, mit einem Rennrad ebenfalls zum Helden zu werden.»
Der historische Hintergrund des Radsports ist den Belgier:innen wichtig. Wie Heyman oder Gabriels sprechen viele darüber. Gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war Belgien arm. Insbesondere der nördliche Teil des Königreichs, Flandern mit den fünf Provinzen Antwerpen, Ostflandern, Flämisch-Brabant und Westflandern, wo Niederländisch gesprochen wird. Die Fläche ist knapp ein Drittel so gross wie die Schweiz, heute wohnen hier 6.7 der 11.6 Millionen Menschen im Königreich. Von den 62 belgischen WorldTour-Fahrern sind über 50 aus Flandern. Die Anderen kommen aus dem französischsprachigen Wallonien im Süden oder dem kleinen deutschsprachigen Teil im Osten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Radrennen eine Möglichkeit, der Arbeit in der Fabrik zu entkommen und aufzusteigen. Das hat sich in die belgische Volksseele eingebrannt. Walter Godefroot, Sieger der Flandernrundfahrt 1968 und 1978, sagte einst: «Als ich 16 war, arbeitete ich 57 Stunden pro Woche in der Fabrik, und am Abend machte ich vierstündige Ausfahrten mit dem Velo.» Ein sogenannter «wahrer Flame», als den er sich selbst sah, war für ihn «ein Mann, der angreift – selbst wenn er dem Tod in die Augen schaut.» Diese Bezeichnung verdient sich in Belgien nicht jeder. «Eddy Merckx war kein Flandrien. Er ist viel zu elegant gefahren», sagt Koen Gabriels mit ernster Miene.
Wie bitte? Merckx gilt als der erfolgreichste Radfahrer aller Zeiten.
Der Radsport in Belgien ist allerdings mehr als nur die Arbeit von Stars, er ist ein Volkssport. «Wohin man auch geht, am Sonntag treffen sich Gruppen von 20 bis 30 Radfahrern, um gemeinsam zu fahren», erzählt Botschafter Heyman.
Diese Clubs hätten auch Begleitfahrzeuge mit Werbetafeln und Lautsprecher dabei, die sie begleiten, auf den Strassen Autos vor der Radfahrergruppe warnen oder jene einsammeln, die einen Defekt oder keine Kraft mehr haben. Es seien meistens Männergruppen, auch wenn der Sport in den vergangenen Jahren bei Frauen immer beliebter geworden sei. «Ein Club ist immer verbunden mit einer Kneipe als Sponsor», sagt Gabriels. Und darum auch mit dem Bier.
In den Kneipen kann man als Veloclubmitglied öfters vergünstigt Bier trinken.
Pascal Heyman
Der Besuch in einem solchen Supporters-Café, in dem es kaum einmal guten Kaffee gibt, ist fast wichtiger als das Radfahren. «In den Kneipen kann man als Clubmitglied öfters vergünstigt Bier trinken», erklärt Heyman. Und Gabriels ergänzt: «Die Clubs organisieren auch Rennen im Dorf. Nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Jugendliche. Das ist wichtig für deren Integration.»
Das Velo ist in Belgien vor allem ein Sportgerät. Auf die Frage, ob die Belgier:innen auch mit dem Rad zur Arbeit fahren, hält sich Konsul Koen Gabriels die Hände an den Kopf und ruft: «Wir sind doch keine Holländer!» Natürlich wolle der Staat nun das Velofahren fördern, sagt Heyman etwas diplomatischer. So zahlt der Staat allen, die mit dem Velo zur Arbeit fahren, einen kleinen Geldbetrag von einigen Rappen pro Kilometer. Primär aber werde die Veloinfrastruktur im ganzen Land ausgebaut.
Es gibt in Belgien ein Netz aus sogenannten «Fietsknooppunten», Knotenpunkte für Velorouten. Damit kann man sich eine Route zusammenstellen für eine Ausfahrt. Auch dies dient aber in erster Linie dem sportlichen Fahren in der Freizeit.
Belgien ist geteilt in das niederländischsprachige Flandern im Norden und das französischsprachige Wallonien im Süden. Anders als in der ebenfalls mehrsprachigen Schweiz gibt es keine nationalen TV-Sender oder gesamtbelgische politische Parteien. Die Menschen im Norden gelten als arbeitsam, jene im Süden als weniger fleissig. «Das ist natürlich ein Klischee, die Realität ist viel differenzierter», meint Botschafter Heyman. Er selbst stammt aus Westflandern.
Der Norden gilt als konservativ, der Süden als sozialistisch. In beiden Landesteilen sind extremistische Parteien auf dem Vormarsch. Aber wenn es um den Radsport geht, ist das Land geeint. Gabriels erwähnt Philippe Gilbert, der 2012 Strassenweltmeister wurde und in seiner Karriere zahlreiche Klassiker gewann: «Der ist ein Nationalheld, und der ist Wallonier.»
Die Heldenverehrung geht über die Landesgrenzen hinaus. So ist etwa der Niederländer und amtierende Strassenweltmeister Mathieu van der Poel auch in Belgien sehr beliebt. «Er ist für uns ein halber Belgier», sagt Gabriels. Nicht nur weil van der Poel in Belgien wohne, sondern wegen seiner Persönlichkeit und seines Fahrstils: «Er kämpft immer. Er fährt wie ein Flandrien.»
Es gibt selbst spanische oder italienische Radfahrer:innen, die in Belgien eine grössere Fanbasis haben als in ihren Herkunftsländern. Auch Stefan Küng hat mit den King-Küng-Freunden in Ostflandern einen Fanclub mit 160 Mitgliedern.
Dennoch schmerzt es die Belgier:innen, dass die wirklich grossen Erfolge ihrer Fahrer:innen bei den drei grossen Landesrundfahrten viele Jahre zurückliegen. Zwischen 1969 und 1974 gewann Eddy Merckx die Tour de France fünfmal. 1976 hat mit Lucien Van Impe das letzte Mal ein Belgier die grösste Landesrundfahrt gewonnen. «Es war damals ein sehr heisser Sommer. Ich war acht Jahre alt», erinnert sich Konsul Koen Gabriels.
Nun hat 2022 Remco Evenepoel immerhin wieder einmal die Vuelta a España gewonnen. Viele trauen ihm zu, in diesem Jahr die Tour de France zu gewinnen. Die Belgier:innen sowieso.
Was wäre dann in Ihrer Heimat los, Herr Gabriels? «Uiuiuiui. Ja, das ist, äh … Ja, das ist … Das wäre ein nationaler Feiertag für ganz Belgien. Wir würden eine Woche lang feiern.»