Kommt es auf die Länge an?
Marc Hirschi wechselte im Jahr 2020 auf kürzere Kurbeln und gewann daraufhin das Eintagesrennen La Flèche Wallonne und eine Etappe der Tour de France. Auch bei Zeitfahren und Triathlons setzt die Elite vermehrt auf kürzere Kurbeln. Doch müsste es nicht gerade umgekehrt sein? Ein längerer Hebel zwischen Tretlager und Pedal sollte gemäss Hebelgesetz doch mehr Kraft auf die Strasse bringen.
Beginnen wir ganz am Anfang. Wie kam es überhaupt zur heute gängigen Kurbellänge? Fixe Kurbellängen gibt es seit 1884. Der Engländer John Kemp Starley konstruiert damals das erste Fahrrad mit Kurbel und Kette. Ein Erfolgskonzept. Es kommt zur Serienfertigung. Und die braucht Normen. Man einigt sich auf eine Kurbellänge von 6 1/2 Inches, rund 165 Millimeter. Die Länge der beiden Kurbelarme zusammen soll einer natürlichen Schrittlänge entsprechen.
Doch Rennfahrer:innen verlangten bald nach längeren Kurbeln. Die später dominierende kontinentaleuropäische Fahrradindustrie machte daraus den bis heute geltenden Standard von 172.5 Millimetern.
Zur Sprintleistung existieren diverse Studien. Am häufigsten zitiert wird diejenige der US-Universität Utah. Die Forschenden haben Kurbeln von 120-220 Millimeter Länge verglichen. Die Proband:innen mussten jeweils mit der maximal möglichen Kraft sprinten. In einem weiten Bereich von 145–195 Millimeter Länge war die Maximalkraft praktisch identisch. Nur mit den beiden Extremlängen von 120 und 220 Millimetern schwächelten die Radsportler:innen.
Zwar konnten die Forschenden mit den Daten berechnen, welche Länge bei welcher Beinlänge ideal wäre. Doch die Daten zeigen auch: Wer eine – theoretisch – falsche Kurbellänge fährt, verliert gerade einmal 0,5 Prozent Leistung.
Eine Studie der TU Dortmund mit Bahnsprinter:innen zeigte gar: Die ideale Kurbellänge hängt nicht mit der Körpergrösse zusammen, sondern muss individuell bestimmt werden.
Immerhin einen Pluspunkt für kürzere Kurbeln fand eine Studie der neuseeländischen Universität Massey: Mountainbiker:innen erreichten damit schneller die Maximalkraft. Doch der Einfluss der Kurbellänge auf die Sprintleistung ist über alle Studien hinweg gesehen marginal klein.
Zur Ausdauerleistung gibt es nur eine Studie. Extremlängen wurden dabei keine gemessen, sondern die üblichen Längen von 170–175 mm verglichen. Fazit: Im Ausdauerbereich hatten die Längen weder auf Herzfrequenz noch auf Leistung einen Einfluss.
Und doch fährt Marc Hirschi auf 165 Millimeter kurzen Kurbeln. Der ehemalige Radprofi Marcel Wyss hat Hirschi auf die kürzeren Kurbeln gebracht. Heute führt Wyss zahlreiche Sitzpositionsanalysen durch. Dabei stellt er zwar meist keinen messbaren Effekt fest, wenn er die Kurbellänge verändert. Die Praxis könne die Theorie also durchaus bestätigen, sagt er. Doch: Mit kürzeren Kurbeln setze man in Kurvenschräglage weniger schnell auf. Im Zeitfahren und Triathlon liessen sie eine kompaktere Position zu. Und auf langen Distanzen falle möglicherweise die geringere Hebearbeit ins Gewicht – was aber bisher noch nie gemessen worden ist.
Kürzere Kurbeln können also vorteilhaft sein. Auch wenn sie keinen direkten Effekt auf die Leistung haben. Wer als Hobbyfahrer:in auf die Standardmasse setzt, macht aber sicher nichts falsch.
Simon Joller ist Produzent des SRF-Wissenschaftsmagazins «Einstein». In seiner Freizeit fährt Simon am liebsten ein Gravel-Bike – mit einer Kurbellänge von 175 Millimetern.