An der Kette wachsen

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Bild: GettyImages

Zum Wachs kam ich durch Eitelkeit. Und die musste zuerst leiden. Zuerst aber ein Blick ins Profi-Peloton. Anruf bei Cédéric Stähli, Mechaniker beim Pro-Team Q36.5. Ein Tüftler, der alles tut, um seine Fahrer schneller zu machen. Er erzählt eine taufrische Geschichte. Zum Zeitfahren der diesjährigen Tour de Romandie habe er erstmals allen Fahrern eine gewachste Kette montiert. Von da weg wollte jeder auch für normale Etappen eine solche. Das hiess für ihn mehr Arbeit. Als wir telefonieren, kommt er gerade aus dem Service Course. Drei Stunden habe er an diesem Nachmittag mit dem Wachsen der Ketten verbracht. Kein Vergleich zum klassischen Kettenservice mit Putzen, Trocknen und Ölen.

Was ist dran am Trend Wachs statt Öl? Für Radprofis zählt nur das eine: schneller werden. Drei und mehr Watt soll eine gewachste Kette im Renntempo gegenüber einer geölten sparen. Zur Einordnung: Bei einer gebirgigen Tour-de-France-Etappe leisten die Fahrer 250 und mehr Watt im Durchschnitt, bei einem Zeitfahren sind es über 400 Watt. Stähli erzählt allerdings von Messungen, die zeigten: Es gibt Kettenöle, die weniger Widerstand haben als Wachs.

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Warum dann wollten nach der Tour de Romandie alle Fahrer nur noch gewachste Ketten fahren? «Sie liebten das Fahrgefühl: leiser und geschmeidiger. Und sie hatten eben schon auch das Gefühl, gegen weniger Widerstand treten zu müssen», erzählt Stähli. Erfahrungen mit Kettenwachs sammelt er schon länger. Auch bei Paris–Roubaix habe er gewachste Ketten verwendet: «Weil das Wachs trocken ist, bleiben Staub und Dreck nicht kleben. Die Ketten bleiben länger geschmeidig.» Und das sei, über ein ganzes Rennen gesehen, ein nicht zu unterschätzender Effizienzgewinn. Ja gar wenn es sauber ist, baue das Kettenöl schneller an Leistung ab, wie der Test gezeigt habe, bei dem das Kettenöl anfänglich besser war.

Die Mehrarbeit wartet nach dem Rennen. Wachs ist wasserlöslich. Und weil Profiräder nach jedem Rennen mit Wasser gewaschen werden, sind die Ketten danach trocken wie die Sahara. Also rein in den Kocher und neu einwachsen. «Nur heissgewachste Ketten halten ein Rennen lang», sagt Stähli. Nach der Reinigungsprozedur kommen die Ketten in flüssiggekochtes Wachs. Und wenn die Räder schon während des Rennens nass werden? «Wir verwenden auch bei Regen Wachs. Öl ist noch schneller ausgewaschen.» Klar hätten sich Fahrer bei Regenrennen beim Teamwagen über eine trockene Kette beschwert. «Dann haben wir eben etwas Öl draufgegeben.»

Meine Wachserfahrungen decken sich mit denen der Profis. Ich will nicht mehr mit Öl. Mein erster von zwei Vorteilen: Wenn ich das Rad nicht waschen muss, hilft Flüssigwachs aus der Flasche. Das verlängert die Lebensdauer der zuerst heissgewachsten Kette auf bis zu 800 Kilometer. Da nehme ich gerne in Kauf, dass es Nerven kostet, Flecken vom Kettenreiniger hinterlässt und Wachstropfen in der ganzen Werkstatt gibt.

Vorteil 2: Ketten, Ritzel und Kettenblätter zeigen weniger Abnutzung. Unabhängige Tests bestätigen eine mehrfache Lebensdauer dank Wachs. Das zahlt sich buchstäblich aus. Und die Eitelkeit? Wachs probierte ich aus, weil es auf den transparenten Reifenflanken keine schwarzen Schmierflecken hinterlässt. Wachs sieht gut aus, fährt sich gut. Kostet aber Aufwand und fordert die technischen Fähigkeiten. Doch an solchen Aufgaben kann man: wachsen.

Simon Joller ist Produzent des SRF-Wissenschaftsmagazins «Einstein». Er ist überzeugt: Auch für Hobbyfahrer:innen wie ihn mit einem Flair für Velotechnik ist Wachs eine saubere Sache.

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