Sattelnase runter
Text: Simon Joller
Illustration: Andrea Rearte
Mitten im WM-Strassenrennen in Ruandas Hauptstadt Kigali rüttelte Remco Evenepoel energisch an seinem Sattel – und an der Regel, dass der Sattel horizontal ausgerichtet sein soll. Der belgische Superstar beklagte sich später, seiner sei horizontal eingestellt gewesen, dabei hätte er ihn gegen vorne lieber nach unten geneigt. Immer mehr Profis fordern von ihren Mechaniker:innen: Nase runter. Gewisse nur für bergige Strecken, andere möchten immer einen geneigten Sattel.
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Die Studie eines Sportinstituts in Slowenien verglich 2011 die Muskelaktivität im Flachen und bei einer Steigung von 20 Prozent. Die Teilnehmenden fuhren zuerst mit klassisch horizontal ausgerichtetem Sattel. Am Berg zeigten sich negative Auswirkungen auf die Bewegungseffizienz.
Was beim Bergauffahren passiert, wenn man den Sattel horizontal belässt, weiss der Sportwissenschaftler Raphael Böni. Er hat die Profis des Teams Tudor im Sattel analysiert. «Um beim Bergauffahren den veränderten Schwerpunkt auszugleichen, beugt man sich entweder tiefer über den Lenker oder man rutscht auf dem Sattel nach vorne.» Doch beides sei leistungsmindernd, sagt Böni: «Vorne auf dem Sattel zu sitzen, ist schmerzhaft, das Becken wird instabiler, man verkrampft sich. Den Oberkörper zu neigen hingegen verkleinert den Hüftwinkel, was die Blutversorgung der Beine reduziert, die Atmung behindert und das Zusammenspiel der Beinmuskeln verschlechtert.»
Die slowenischen Forschenden wollten wissen, was ein geneigter Sattel bringt. Sie kippten ihn um 20 Prozent, so, als ob es keine Steigung gäbe. Tatsächlich arbeiteten die Muskeln nun wieder so effizient wie im Flachen. Böni erklärt: «Der Hüftwinkel öffnet sich wieder so, als würde man im Flachen fahren.»
Wie viel das bringen kann, haben Forschende der University of Colorado 2021 gemessen. Bei einer Steigung von 14 Prozent verbesserte sich die Effizienz um 1.4 Prozent. Auch in dieser Studie neigten die Wissenschaftler:innen den Sattel so stark wie die Steigung, also 14 Prozent. Das entspricht 8 Grad. Und kratzt an der Limite des Weltradsportverbands UCI.
Noch bis 2015 wäre eine solche Sattelneigung gar nicht erlaubt gewesen. Nachdem eine Studie des Verbands British Cycling gezeigt hatte, dass ein geneigter Sattel Sitzbeschwerden reduzieren kann, änderte die UCI die erlaubte maximale Absenkung von 2.5 auf maximal 9 Grad.
Sollten wir also alle unseren Sattel neigen? Raphael Böni warnt: «Rasch lastet zu viel Gewicht auf den Händen und Schultern, und man rutscht auf dem Sattel nach vorne.» Er empfiehlt, zuerst den Sattel horizontal zu fahren, ihn dann um ein halbes Grad und bei positivem Gefühl um ein ganzes zu neigen. Sein Tipp zum Messen bei Sätteln, die nicht flach sind: «Die Neigung auf den vorderen zwei Dritteln messen.» Mehr als ein Grad Neigung sei bei Hobbyfahrer:innen kaum sinnvoll, sagt Böni.
Wenn es allerdings um den WM-Titel geht, darf es durchaus etwas mehr sein. Remco Evenepoel wechselte nach seinem Wutausbruch in Kigali auf ein Velo mit geneigtem Sattel und wurde Zweiter. Ist es ein Zufall, dass der Weltmeister Tadej Pogačar während des ganzen Rennens einen von Auge sichtbar stärker geneigten Sattel fuhr? Jedenfalls ist der leitende Autor der zitierten slowenischen Studie von 2011 heute Pogačars Berater bezüglich Sitzposition.
Simon Joller ist Produzent beim SRF-Wissenschaftsmagazin «Einstein». Er neigte übermotiviert seinen Sattel à la Pogačar. Und landete am Ende bei den 0.5 Grad à la Böni.