Nach Revolte an der Vuelta: Neues Schweizer Profiteam übernimmt Lizenz von Israel-Premier Tech
Es begann mit einem Banner von einem halben Dutzend pro-palästinensischer Aktivist:innen und endete im Fiasko mit Hunderttausenden auf den Strassen in Madrid. Das Team Israel-Premier Tech zieht sich zurück. Es übernimmt: Ein neues Schweizer Profiteam.
Ab der nächsten Saison fährt mit NSN Cycling ein neues Schweizer Profiteam in der höchsten Liga des Radsports mit. Es ist nach der Gründung von Tudor und Q36.5 bereits das dritte Schweizer Männerteam, das seit 2023 entstanden ist. Möglich macht es das Team Israel-Premier Tech, das seine Lizenz zur Verfügung gestellt hat. Bei NSN (Never Say Never) handelt es sich um ein spanisches Unterhaltungsunternehmen, an dem unter anderem der Ex-Fussballer Andrés Iniesta beteiligt ist, das nun in den Profi-Radsport einsteigt. Mitfinanziert wird das Team von der Investmentgesellschaft Stoneweg mit Sitz in Genf. Deshalb wird das Team ab dem nächsten Jahr auch unter Schweizer Flagge fahren. Der Sitz des Teams wird aber in Spanien sein, wie NSN Cycling gestern mitteilte. Das Team dürfte auch die Verträge der bisherigen Fahrer von Israel-Premier Tech übernehmen.
Die Gründung des neuen Schweizer Teams besiegelt auch das Ende der israelischen Velomannschaft, die es seit 2015 gegeben hat. Der kanadisch-israelische Multimillionär Sylvan Adams verfolgte damit unter anderem das Ziel, ein positives Bild von Israel in der Welt zu verbreiten. Seit der Eskalation des Konflikts in Gaza zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas 2023 ist Israel-Premier Tech aber zunehmend unter Druck geraten. Vollends eskaliert sind pro-palästinensische Proteste vor etwas mehr als zwei Monaten bei der Spanienrundfahrt.
Am Ende der Vuelta a España herrschte Chaos. Aktivist:innen stürmten die Strecke und blockierten das Feld, sie attackierten gar Fahrer und prügelten sich mit der Polizei. Es kam zum Abbruch. 1500 zusätzlich aufgebotene Polizist:innen konnten die 100 000 pro-palästinensischen Demonstrant:innen nicht stoppen.
Der Schweizer Veloprofi Stefan Küng erinnert sich auch Wochen danach am Telefon noch detailliert an das Fiasko von Mitte September. Das Fahrerfeld sei etwas mehr als 50 Kilometer vor dem Ziel in der spanischen Hauptstadt Madrid gestoppt worden. Demonstrant:innen hatten die Strasse blockiert. «Da näherten sie sich uns. Einzelne sprangen ins Peloton hinein und traktierten Fahrer mit Fusstritten. Felix Grossschartner zum Beispiel wurde niedergerissen», sagt Küng und erzählt, wie er in diesem Moment Angst um seine Familie hatte. Seine Frau und die beiden Kinder warteten in der Innenstadt von Madrid beim Ziel. Dort wüteten Demonstrant:innen, durchbrachen Absperrungen, warfen Banden zu Boden. Als Küng im Team-Auto endlich seine Frau erreichte, beruhigte er sich. «Sie sassen in einem Café und waren in Sicherheit», sagt der Schweizer Profi. Er ist überzeugt: «Was in Madrid passierte, war das Finale dessen, was sich über die gesamte Rundfahrt hinweg hochgeschaukelt hatte.»
Alles begann bei der fünften Etappe im Team-Zeitfahren in Katalonien. Als das Team Israel-Premier Tech unterwegs war, stellte sich ein halbes Dutzend Personen mit Palästina-Flaggen und einem Transparent auf die Strecke. Wer neutral bleibt, werde zum Komplizen, stand auf Spanisch drauf und: «Boykott gegen Israel». Die Polizei, die vor den Fahrern herfuhr, konnte die Demonstrant:innen nicht rechtzeitig aus dem Weg räumen. Das Team musste kurz anhalten, konnte das Rennen aber fortsetzen. Das Ziel des Protests: Israel-Premier Tech soll ausgeschlossen werden, weil das Land Israel einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen verübe.
Sechs Tage später, bei der zehnten Etappe im Baskenland, skandierten schon mehrere Dutzend Demonstrant:innen «Freiheit für Palästina» am Streckenrand, schwenkten Fahnen, und einzelne von ihnen rannten ins Fahrerfeld. Dabei stürzte der Italiener Simone Petilli. Auch wenn er weiterfahren konnte, lief nach der Etappe der Chat der Fahrergewerkschaft Cyclistes Professionnels Associés (CPA) heiss. Darin ist von jedem Team ein Fahrer vertreten.
«Man kann die Entscheidung, ein Team auszuschliessen, nicht an die Fahrer delegieren.»
Stefan Küng, Veloprofi bei Groupama-FDJ
Stefan Küng war bei der Vuelta der Vertreter seines Teams Groupama-FDJ. «Es kam die Forderung auf, Israel-Premier Tech von der Rundfahrt auszuschliessen, um die Protestaktionen zu beenden, die die Gesundheit der Fahrer ernsthaft bedrohten», erinnert sich Küng. Von wem die Forderung kam und wer wie abstimmte, sagt er nicht: «Was in der CPA besprochen wird, ist vertraulich.» Die Meinung der Mehrheit der Fahrer lasse sich aber wie folgt zusammenfassen: Niemand befürworte den Krieg zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas. Schon gar nicht die vielen zivilen Todesopfer, das Leid der israelischen Geiseln und der hungernden palästinensischen Bevölkerung. Aber man könne die Entscheidung, ein Team auszuschliessen, nicht während einer Rundfahrt an die Fahrer delegieren: «Es ist am Verband, eine solche Entscheidung zu treffen», sagt Küng.
Israel-Premier Tech ist kein staatliches Team. Eines seiner erklärten Ziele ist es aber, ein positives Bild Israels in die Welt hinauszutragen. Das Team entstand 2014 unter dem Namen Cycling Academy. Gegründet hatten es der ehemalige israelische Velorennfahrer Ran Margaliot und der Geschäftsmann Ron Baron. Ein Jahr später stiess der israelisch-kanadische Doppelbürger Sylvan Adams hinzu. Er war 2015 mit seiner Frau nach Israel gezogen, um sein Leben «der Förderung Israels zu widmen», wie er 2019 der «Jerusalem Post» sagte. Das US-Magazin «Forbes» schätzt sein Vermögen auf 2.8 Milliarden Dollar. Sein Vater war 1944 mit den Eltern aus einem Nazi-Arbeitslager ins damalige Palästina geflüchtet und später nach Québec ausgewandert. Dort baute er ein Immobilien-unternehmen auf, das Sylvan Adams später übernahm.
Mit Adams als Geldgeber hiess das Team fortan Israel Cycling Academy. 2018 brachte Adams den Giro d’Italia nach Israel. Mindestens zwölf Millionen Euro soll es ihn damals gekostet haben, dass die ersten drei Etappen dort stattfanden. 2020 wurde das Team in Israel Start-Up Nation umbenannt, bis 2022 der kanadische Verpackungsmaschinenhersteller Premier Tech einstieg. Der wichtigste Geldgeber des Teams ist aber nach wie vor Sylvan Adams. Der inzwischen 66-Jährige gilt als Vertrauter des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
Die pro-palästinensischen Proteste an der Vuelta wuchsen von Etappe zu Etappe an. Nach dem elften Teilstück berichteten Medien von Tausenden Demonstrant:innen auf der Zielgeraden in Bilbao. Die Organisator:innen neutralisierten die Etappe drei Kilometer vor dem Ziel, und es wurde kein Tagessieger gekürt. Der Druck auf das Team Israel-Premier Tech nahm zu. Doch dieses dachte nach wie vor nicht daran, sich zurückzuziehen, worauf Netanjahu öffentlich sagte: «Grossartige Leistung von Sylvan und Israels Radsportteam, dass sie sich nicht von Hass und Einschüchterung unterkriegen lassen. Ihr macht Israel stolz!»
Die meisten Fahrer im Team Israel-Premier Tech sehen sich nicht als Vertreter eines Landes. «Wir waren eine internationale Truppe und hatten nie mehr als fünf israelische Fahrer im Team», sagt Reto Hollenstein. Der Schweizer fuhr von 2020 bis Ende 2023 für das Team, bei dem er auch seine Karriere beendete. Inzwischen lebt Hollenstein mit seiner Familie in Österreich. Den Radsport verfolgt er noch immer intensiv. Er habe sich sehr über die Proteste bei der Vuelta geärgert, sagt er: «Sport ist etwas Friedliches. Es geht um unsere Leistung. Wir können damit nicht die Weltpolitik beeinflussen.» Das Land Israel habe während seiner Zeit als Profi kaum eine Rolle gespielt, ausser dass man sich nach der Saison dort getroffen habe. «Es war interessant für mich, das Land zu bereisen. Wir hatten zum Beispiel zusammen mit Kindern einer Sportschule einen Pumptrack gebaut», erinnert sich Hollenstein. Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit 1200 überwiegend jüdischen Todesopfern habe es diese Reise dann nicht mehr gegeben.
Aktuell stammen 3 der 32 Fahrer des Teams aus Israel. Einer von ihnen ist Nadav Raisberg. Der 24-Jährige hat auch die Vuelta bestritten. Stefan Küng sagt, er habe während der Rundfahrt mit ihm gesprochen. «Die Proteste waren nicht einfach für ihn. Er selbst sagte mir, er sei auch gegen den Krieg. In Israel gebe es auch eine grosse Protestbewegung gegen die eigene Regierung.» Raisberg selbst reagierte nicht auf eine Anfrage von «Gruppetto».
Er und seine Teamkollegen erhielten während der Vuelta zusätzlichen Polizeischutz. Und das Team entfernte erst die Beschriftung an den Fahrzeugen, später verschwand auch der Israel-Schriftzug von den Trikots. Die pro-palästinensischen Demonstrant:innen beruhigte das nicht. Im Gegenteil, die Bewegung wurde immer grösser und radikaler. Bei der 16. Etappe in Galizien warfen Aktivist:innen Scherben und Reissnägel auf die Strasse. Mehrere Fahrer hatten einen Platten. Der spanische Fahrer Javier Romo vom Team Movistar stürzte und konnte nicht weiterfahren. Erneut wurde die Etappe vorzeitig beendet. Stefan Küng sagt, die Bewegung der Demonstrant:innen sei gut organisiert gewesen: «Ich erkannte zum Teil die gleichen Gesichter am Strassenrand.» Von baskischen Fahrern habe er schon früh erfahren, wie Aktivist:innen intensiv für die Proteste mobilisierten. «Wir haben befürchtet, dass sie immer grösser werden.»
«Spanien ist in wenigen Fragen geeint. Ausser bei den Themen Wohnungsnot, Übertourismus und Palästina.»
Julia Macher, freischaffende Journalistin
Diese Interpretation greife zu kurz, sagte die deutsche Journalistin Julia Macher. Sie berichtet für verschiedene deutschsprachige Medien wie die deutsche «ZEIT» oder das Schweizer Radio und Fernsehen aus Spanien und ist Co-Host des Spanien-Podcast «Sangría – und sonst?». Macher verweist auf eine Umfrage des Think-Tanks Real Instituto Elcano. Demnach bezeichnen 82 Prozent der befragten Spanier:innen Israels Handeln als Völkermord und nur 23 Prozent glauben, Israel verteidige sich angemessen gegen die Hamas. Spanien gehörte zu den ersten Ländern, die offiziell von einem Völkermord in Palästina sprachen. Monate bevor dies auch eine Sonderkommission der Uno tat. Insofern überrascht es Macher auch nicht, dass die Proteste ausgerechnet an der Spanienrundfahrt eskalierten. «Spanien ist mit seinen autonomen Gemeinschaften in wenigen Fragen geeint. Ausser bei den Themen Wohnungsnot, Übertourismus und Palästina.»
Eine der Gruppen, die sich für die Demonstrationen verantwortlich zeigten, heisst Gernika-Palestina. Sie ist im Oktober 2023 im Baskenland entstanden. Gernika oder Guernica gilt als heilige Stadt der Bask:innen. 1936 wurde sie während des spanischen Bürgerkriegs von italienischen und deutschen Kampfjets bombardiert. Angesichts der israelischen Angriffe auf Palästina schreibt die Gruppe Gernika-Palestina: «Wir müssen unsere Stimme erheben, um zu zeigen, dass wir kein neues Gernika wollen.» Die bürgerliche Zeitung «El Mundo» warf der baskischen Unabhängigkeitsbewegung daraufhin vor, sie nutze den Israel-Palästina-Konflikt, um wieder Auftrieb für ihre eigenen Bestrebungen zu erhalten.
In der spanischen Öffentlichkeit war es kein Skandal, dass die letzte Etappe abgebrochen wurde und der Sport in den Hintergrund gerückt war. Viele sahen es ähnlich wie die spanischen TV-Kommentatoren, die am Ende nur halb im Scherz sagten: «Palästina hat die Vuelta gewonnen.» Kommt hinzu, dass selbst die Regierung die Demonstrant:innen unterstützte. Am Tag der letzten Vuelta-Etappe sagte der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez an einer Veranstaltung seiner sozialdemokratischen Partei PSOE: «Wir möchten zunächst unsere Anerkennung und unseren absoluten Respekt gegenüber den Sportlern zum Ausdruck bringen, aber auch unsere Bewunderung für ein spanisches Volk, das sich für gerechte Anliegen wie das Palästinas einsetzt.»
So überrascht es nicht, dass es ein spanischer Radprofi war, der sich am deutlichsten für einen Ausschluss des Teams Israel-Premier Tech ausgesprochen hat. Der Baske Pello Bilbao, der für das Team Bahrain Victorious fährt, dankte in einem Interview mit der Zeitung «El Periodico» den Menschen, die bei der Vuelta auf die Strasse gegangen sind. Und er prangerte die «Heuchelei der UCI» an, die 2022 nach der russischen Invasion in der Ukraine das Team Gazprom-RusVelo und alle anderen Teams aus Russland und Belarus ausschloss, dies aber bei Israel-Premier Tech nicht tue.
Stefan Küng will sich zu Bilbaos Haltung nicht äussern. Er sagt aber, dass es keine internationalen Sanktionen gegen Isreal gebe, erschwere es der UCI, Israel-Premier Tech auszuschliessen. Man dürfe nicht dem Druck von Demonstrant:innen nachgeben, findet Küng: «Wir Fahrer müssen zusammenstehen.» Andernfalls würde man einen Präzedenzfall schaffen. «Was ist, wenn als Nächstes gegen Menschenrechtsverletzungen in Ländern protestiert wird, die ein Profiteam finanzieren? Schliessen wir diese dann aus?»
«Ich kann derzeit nicht weiterhin aktiv in einem Radteam mitwirken, das nicht den Namen Israels trägt.»
Sylvan Adams, ehemaliger Teambesitzer Israel-Premier Tech
Im Fall von Israel-Premier Tech hat der öffentliche Druck Wirkung gezeigt. Der kanadische Verpackungsmaschinenhersteller Premier Tech sowie der Velosponsor Factor sagten, sie würden ihr Engagement nur fortsetzen, wenn das Wort Israel aus dem Namen gestrichen würde. Diesem Druck gab Sylvan Adams schliesslich nach, indem er seinen Rückzug ankündigte. Drei Wochen nach der Vuelta verkündete er: «Ich kann derzeit nicht weiterhin aktiv in einem Radteam mitwirken, das nicht den Namen Israels trägt.» Er werde es nicht mehr vertreten und nicht mehr in seinem Namen sprechen. Die israelische Sportplattform ONE berichtete, Adams sei weiterhin mit 10 Millionen Euro pro Saison beteiligt. Das Jahresbudget des Teams wird auf 28 Millionen Euro geschätzt.
Ob sich Adams nun ganz aus dem Radsport zurückzieht, ist bisher nicht bekannt. Premier Tech hat sich bereits vor Wochen von dem Team abgewandt. Laut Medienberichten soll der kanadische Verpackungsmaschinenhersteller beim Team Alpecin-Deceuninck einsteigen, wo sich die belgische Industrie- und Technologiefirma Deceuninck zurückziehen wird.
Neben dem Profiteam wird die neue Schweizer Mannschaft NSN Cycling auch ein Nachwuchsteam unterhalten.
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine aktualisierte Fassung eines Artikels, der in der neusten Ausgabe des «Gruppetto» erschienen ist. Abonniere das Schweizer Magazin für Radsport und Velokultur noch bis Ende Monat und erhalte die neue Ausgabe dazu.