Er lüftet sein Geheimnis – das ist Stefan Küngs neues Zeitfahrvelo
Stefan Küng hat allen Grund, sich Sorgen zu machen. Kurz vor Olympia und WM muss er auf ein anderes Zeitfahrvelo umsatteln. Ausgerechnet von einem Hersteller, der nicht besonders für aerodynamische Fahrräder bekannt ist. Aber Stefan Küng weiss mehr als die Öffentlichkeit.
Text: Emil Bischofberger
Fotografie: Janosch Abel
Warum ist Stefan Küng so entspannt? Ende April treffen wir ihn in einem Café in Zürich. Küng ist mit dem Velo von daheim angerollt. Zwei Stunden von Frauenfeld bis in die Stadt, für die er nicht allzu viel übrighat. Das hat nichts mit einem Anti-Zürich-Reflex des Thurgauers zu tun. Er versucht auf dem Velo grundsätzlich verkehrsdichte Regionen zu meiden.
«Hört nicht zu sehr auf die Performance-Leute und zieht euer Ding voll durch!»
Stefan Küng
Es ist für Küng eines der ersten lockeren Trainings nach einer kurzen Pause nach den Frühjahrsklassikern. Nun richtet er den Blick voraus auf die grossen Saisonziele: Tour de Suisse, Tour de France, Olympia in Paris und Heim-WM in Zürich. Für Zeitfahrspezialist Küng sind das vier grosse Chancen: Bei der Tour hat er noch nie gewonnen. Und etwas Grösseres als Olympiagold oder einen WM-Titel in der Heimat kann ein Sportler fast nicht erreichen.
Das Einzelzeitfahren ist der vielleicht ehrlichste Velowettkampf. Alle absolvieren dieselbe Strecke. Alleine. Wer am härtesten in die Pedale tritt, gewinnt, sollte man meinen. Nur, ganz so einfach ist es nicht. Weil die Zeitfahrer mit über 50 km/h durch die Gegend rauschen, ist ebenso relevant, wie aerodynamisch sie das tun. Dazu ein Physik-Exkurs: Der Luftwiderstand nimmt bei zunehmender Geschwindigkeit im Quadrat zu: Je mehr jemand in die Pedale tritt, desto entscheidender sind die Aerodynamik und das Material. Die Symbiose von Fahrer und Maschine ist im Zeitfahren ähnlich wichtig wie die physische Form.
Genau deshalb ist es so verwunderlich, dass Küng Ende April so entspannt ist. Auf diese Saison hin wechselte sein Team Groupama-FDJ den Velosponsor, von Lapierre zu Wilier. Solche Ausrüsterwechsel sind an sich nichts Besonderes. Nur: Wilier, ein Traditionsunternehmen aus dem italienischen Veneto, ist zwar schon einige Jahre im WorldTour-Peloton präsent, arbeitete aber nie mit einem Topteam zusammen. Zugleich hatte die Liaison zwischen Groupama-FDJ und Lapierre 25 Jahre gehalten. Das aktuelle Zeitfahrvelo der Italiener ist aus dem Jahr 2018. In der Veloentwicklung ist das eine Ewigkeit. Wobei gesagt sei: Laut Wilier schnitten im Windkanal Küngs Lapierre-Modell und das aktuelle von Wilier praktisch identisch ab.
So oder so: Küng wäre damit bei Olympia und WM kaum konkurrenzfähig. Zumindest lautet so die Sofa-Analyse. Gestützt wurde diese vom bislang einzigen Zeitfahren, das Küng diese Saison auf Wilier absolvierte: An der Algarverundfahrt wurde er im Februar zwar Dritter, verlor aber auf gut 27 Minuten Fahrzeit fast 30 Sekunden auf den Sieger, Zeitfahrweltmeister Remco Evenepoel. Das ist enorm viel.
Warum also ist der 30-Jährige so entspannt und grinst, darauf angesprochen, keck? Aus einem einfachen Grund: Er weiss mehr als die öffentliche Radwelt.
Seit Groupama-FDJ und Wilier vergangenen Juli an der Tour de France handelseinig wurden, liefen die Drähte zwischen den Hauptsitzen der beiden Unternehmen in Besançon und Rossano Veneto heiss. Die Italiener schickten sich in eine eigentlich unmögliche Mission: Innert 8 Monaten wollten sie für Küng nicht nur ein konkurrenzfähiges, sondern das aktuell schnellste Zeitfahrvelo produzieren. Dazu muss man wissen: Ein solches Projekt benötigt mindestens 12, eher sogar 18 Monate bis zum ersten fahrbaren Modell. Doch Wilier und Groupama-FDJ blieben nur 12 Monate bis zu Olympia. Wilier-intern sprach man fortan vom Projekt «Cronokung» oder kürzer: CK.
Natürlich wusste Küng, wie ehrgeizig der Zeitplan war. Da hätte es auch wenig genützt, wenn er auf die Klausel im Vertrag hingewiesen hätte, den er 2022 unterzeichnet hatte. In diesem verpflichtete sich die Equipe, für Olympia in Paris ein neues Zeitfahrvelo für Küng zu entwickeln. Er konnte nur hoffen, dass es irgendwie gut kommen würde. Ein Treffen im Oktober brachte Zuversicht. Das Wilier-Entwicklungsteam präsentierte in Besançon den Groupama-FDJ-Leuten erste Designskizzen. Bis ins kleinste Detail erläuterte der Chefingenieur seine Überlegungen, ehe ihn die Franzosen unterbrachen. So viel Komplexität interessierten die Nicht-Fachleute doch nicht. Gemeint war damit auch Küng. Sie lagen falsch. «Nach dem Meeting kam Stefan zu uns Wilier-Leuten und flüsterte uns zu: ‹Mir gefällt das. Macht genau so weiter, hört nicht zu sehr auf unsere Performance-Leute und zieht euer Ding voll durch!›» So erinnert sich Claudio Salomoni, der Entwicklungschef von Wilier, bei einem Videoanruf an jenes erste gemeinsame Zusammentreffen. Die Bestärkung von Küng motivierte die Italiener noch zusätzlich. Denn für die x verschiedenen Varianten, die das Performance-Team von Groupama-FDJ sich wünschte, hätte die Zeit schlicht nicht gereicht «Unser Ingenieur sagte: ‹Ich habe eine Idee, die ziehen wir durch. Für einen Plan B bleibt keine Zeit›», sagt Salomoni. Er arbeitet seit 25 Jahren im Velobusiness, der Italiener mit dem dichten weissen Haar hat schon viele Veloentwicklungen miterlebt. Wenn man ihm beim Erzählen zuhört, wird klar, wie viel Spass ihm die Arbeit am Projekt Cronokung in den vergangenen Monaten bereitet hat.
Dabei hilft es, wenn die Zwischenresultate positiv sind. Die ersten Aerodynamik-Berechnungen des neuen Zeitfahrrahmens waren laut Salomoni «wahnsinnig gut». Was noch nicht viel heissen muss: Die einzige Wahrheit sind die Resultate, die der Test im Windkanal hervorbringt. Entsprechend nervös reiste die italienisch-französische Delegation mit einem 3D-gedruckten Modell Ende November nach Silverstone. «Als wir da zu testen anfingen, machten alle nur grosse Augen. Kein Franzose sagte mehr ein Wort», erzählt Salomoni. 16 Prozent windschlüpfriger war Cronokung im Vergleich zum bisherigen Lapierre-Zeitfahrvelo – ein Quantensprung. Noch fünf weitere Male reisten sie nach Grossbritannien, gegen 80 Stunden testeten sie im Windkanal – dank Küngs Double. Auch dieses ist Bestandteil seines aktuellen Vertrags: Das Team verpflichtete sich, eine Küng-Puppe anzufertigen, damit diese den Athleten im Windkanal vertreten konnte. 45 Kilo schwer, im Stil eines Crash-Test-Dummys, inklusive pedalierender Beine.
All die positiven Messungen reichten Groupama-FDJ aber noch nicht. Schliesslich verglich man sich stets mit dem eigenen alten Velo. Also kaufte das Team Rahmen in Küngs Grösse aller führenden Hersteller. Auf jedes Velo seiner ärgsten Konkurrenten setzten sie den Küng-Dummy. Das Testresultat blieb dasselbe: Das neue Wilier-Design war das schnellste.
«Er war wie ein Bub an Weihnachten. Das reichte mir als Feedback.»
Claudio Salomoni
Solche Meldungen erreichten auch Küng, was ihn sehr zuversichtlich stimmte. Zugleich versuchte er, nicht alles an sich heranzulassen, weil er weiss, wie sehr ihn solche Themen zu absorbieren vermögen. In Aktion trat er erst am 12. März. Es war ein verregneter Tag in Belgien, Küng weilte für das Eintagesrennen Nokere Koerse im Norden. Ihm wurde am Tag davor die erste fahrbare Ausführung des neuen Carbonrahmens präsentiert. Nun sollte er das Velo testen und den Ingenieuren sein Fahrgefühl mitteilen. Aufgrund dieses Feedbacks könnten bei der nächsten Rahmenproduktion allenfalls die einzelnen Carbonschichten anders gelegt werden. «Natürlich freust du dich auf den Moment. Zugleich willst du nüchtern bleiben. ‹Erwartet keine Euphorie!›, sagte ich jeweils dem Team», beschreibt Küng seine Stimmung vor der Jungfernfahrt auf dem neuen Zeitfahrvelo.
Eigentlich sollte Küng nur eine kurze Runde drehen. Doch dann liess er die versammelte Entwicklungscrew warten. 30 Minuten lang, unter ihnen auch Claudio Salomoni. «Ich fragte Küngs Mechaniker: ‹Jurgen, was ist los?›» Der angesprochene Jurgen Landrie antwortete: «Ganz einfach: Du musst nur sein Gesicht anschauen, wenn er zurückkehrt.» Salomoni war deshalb vorbereitet, als er Küng heranrollen sah, und filmte den Moment, als dieser zum Stoppen kam. Er hält während des Videotelefonats sein Handy in die Kamera: Auch verpixelt ist darauf zu sehen, wie breit Küngs Grinsen ist. «Er war wie ein Bub an Weihnachten», sagt Salomoni, «das reichte mir als Feedback.»
Der Feldtest war aus Marketingsicht nicht ohne Risiko: Wilier hielt Cronokung in der Öffentlichkeit geheim. Dass das im veloverrückten Belgien auch so bliebt, ist nicht selbstverständlich. Ziemlich mulmig war es den Verantwortlichen, als ein zufällig ankommender Pöstler Erinnerungsfotos knipste. Aber diese tauchten nie in sozialen Netzwerken auf. Küng erzählt nun doch noch, wie sich diese ersten Minuten auf dem neuen Zeitfahrvelo anfühlten: «Du denkst: ‹Bilde ich mir das ein oder fühlt sich das wirklich so schnell an?›»
«So ein Gefühl hatte ich noch nie auf einem Zeitfahrvelo.»
Stefan Küng
Noch intensiver spürte er das neue Niveau seines Zeitfahrvelos bei Aerodynamiktests auf der Rennbahn Grenchen am 11. April: «So ein Gefühl hatte ich noch nie auf einem Zeitfahrvelo. Es fühlte sich an, als ob das Velo einfach durchgleiten würde. Es ist feiner, hat weniger Widerstand. Und es verliert die Geschwindigkeit nicht.» Das aerodynamische Velo ist ein Faktor, die Position des Fahrers ein anderer. In Grenchen wurde Küngs Position auf dem Velo optimiert, insbesondere jene der Arme und Hände auf dem massgefertigten Carbonaufsatz. «Wir wollten aus Komfortgründen etwas daran ändern. Doch dann zeigte sich, dass wir damit mehr als ein Prozent gewonnen hatten – eine substanzielle Verbesserung», sagt Küng. Für Olympia und Heim-WM sollen weitere kleine Optimierungen dazukommen: Denn für die Rennen mit Swiss Cycling ist Küng nicht vertraglich ans Material seines Teams gebunden. So testet auch der Schweizer Verband eifrig: Pneus, Helme, Schuhe und Überschuhe.
Es ist Anfang Mai, als eine ganz besondere Lieferung bei Küng zu Hause in Frauenfeld ankommt. Sein neues Zeitfahrvelo, weiss lackiert. «Cronokung» heisst nun «Supersonica» – Überschall. Es ist eines von total drei produzierten Modellen, der Thurgauer ist der weltweit einzige Athlet, der dieses Jahr die Supersonica fahren wird. «Es ist unglaublich, was sie geschafft haben, in siebeneinhalb Monaten vom Start bis zum Prototypen», sagt er. Unter seinem linken Auge trägt er bis heute ein Pflaster, die Haut darunter ist fürs UV-Licht zu empfindlich. Es ist das bleibende Andenken an seinen letzten grossen Zeitfahreinsatz, als er an der EM vergangenen September in den Niederlanden heftig stürzte. Keinen Gedanken verschwende er mehr daran, sagt er. «Wir sind Rennpferde. Sonst musst du aufhören. Mein einziger Gedanke ist: Wie kann ich noch schneller werden?»
Das muss er auch. An Titelkämpfen kassierte Küng zuletzt schwere Niederlagen: Rang 12 an der WM 2023. Ein Jahr davor fuhr er noch knapp 3 Sekunden an WM-Gold vorbei. 2021 in Belgien wurde er WM-Fünfter, wenige Wochen nach der hauchdünn verpassten Olympiamedaille in Tokio. Wo sieht sich Küng in der Hackordnung der Zeitfahrer, neben dem Belgier Evenepoel, dessen Körper wegen seiner geringeren Masse als aerodynamisch ideal gilt? Neben der italienischen Naturgewalt, dem zweifachen Weltmeister Filippo Ganna? Neben den Alleskönnern Tadej Pogačar oder Wout van Aert? «Rein von den Leistungswerten bin ich dabei. Das sieht man, wenn ein Zeitfahren schwer und technisch ist. Wie an der WM 2022 in Australien, als ich alle schlug – bis auf einen. Aber wenn es topfeben ist, kriege ich auf die Kappe.» Also dann, wenn die Aerodynamik die grosse Differenz ausmacht. Küng kommt in diesem Zusammenhang auf die herbe Klatsche an der WM 2021 zu sprechen: «Ich war wirklich huere parat, dachte, ich würde Weltmeister an dem Tag. Ich fuhr Topwerte – und kriegte trotzdem knallhart auf den Deckel.» In der Deutlichkeit hat man das von ihm noch nie gehört. Mit seinem aktuellen Velosponsor geht man – zumindest öffentlich – nicht so deutlich ins Gericht. Umso optimistischer schaut Küng nun auf die Zeitfahren in den kommenden Monaten: «Wenn all die errechneten Prozente stimmen, die wir eingespart haben, dann wird es spannend.»
Beim Prolog der Tour de Suisse wird er seinen ersten öffentlichen Auftritt auf der Supersonica haben. Für Wilier geht es dabei in erster Linie um Prestige. über eine Viertelmillion Franken hat sich die Firma die Entwicklung des neuen Velos kosten lassen. «Kommerziell rechnet sich so ein Projekt nicht», sagt Wiliers Entwicklungschef Salomoni. Für sein Unternehmen ist Supersonica ein Velo in einer fast 120-jährigen Geschichte. Für Stefan Küng ist es jenes, das seine gute Karriere zu einer ganz grossen machen könnte. «Wir haben ihm den Rahmen gegeben, der viel, viel, viel schneller ist als der zuvor», sagt Salomoni und fügt nach einer Pause an: «Und am Schluss entscheiden seine Beine.»