Steiler Aufstieg

Mit 31 Jahren Schweizermeisterin, mit 32 Veloprofi, mit 33 an die Olympischen Spiele: Die Karriere der Polizistin Elena Hartmann begann spät, entwickelte sich dafür umso rasanter.

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Obwohl Elena Hartmann 2024 an den Olympischen Spielen teilnimmt, steht sie bis im März 2025 ohne Vertrag da.

Text: Felix Schindler

Fotografie: Claude Gasser

Die Physik ist unbarmherzig. Der Regen verwandelt den Asphalt unweit des Vélodrome Jacques Anquetil in Paris in eine Rutschbahn. Im Kreisverkehr verliert der Gummi des Reifens die Haftung – Elena Hartmann stürzt und schlittert über den Asphalt. Es ist der 27. Juli 2024. Vor 20 Minuten ist die 33-jährige Schweizerin von der Startrampe des olympischen Zeitfahrens gerollt. Und jetzt – 15 Kilometer vor dem Ziel des bedeutendsten Rennens ihrer Karriere – liegt Hartmann am Boden.

Zwei Jahre zuvor, an einem warmen Sommertag im Juni, steht Edi Telser im zürcherischen Steinmaur am Strassenrand und mustert die Teilnehmerinnen der Schweizermeisterschaften im Zeitfahren. Telser ist erfolgreicher Nationaltrainer der Schweizer Radfahrerinnen. An diesem Tag sieht er eine ihm unbekannte Athletin vorbeifahren und entschliesst sich, ihr mit dem Auto zu folgen. «Der Tritt, die Position auf dem Zeitfahrrad, der Speed … das hat gut ausgesehen. Für mich war klar: Das ist jemand mit Potenzial», sagt er rückblickend.

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Hartmann gewinnt das Zeitfahren 33 Sekunden vor einer der stärksten Duathletinnen der Schweiz. Sie wird Schweizermeisterin – und ist schlagartig keine Unbekannte mehr. Telser nominiert sie für die Europameisterschaften im Zeitfahren, die zwei Monate später in München stattfinden. Bis dahin hatte Hartmann vor allem Triathlon-Wettkämpfe bestritten – mit Erfolg, besonders auf dem Velo. In München aber trifft sie erstmals auf die Radsport-Weltelite: Die Schweizerin Marlen Reusser ist am Start, um ihren Titel zu verteidigen, auch die Niederländerin Ellen van Dijk, die alles gewonnen hat, was man gewinnen kann. Hartmann wird Neunte – und bestätigt damit, was Telser am Strassenrand in Steinmaur bereits erkannt hat.

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Das ist knapp drei Jahre her. Inzwischen ist Hartmann dreifache Schweizermeisterin im Zeitfahren und hat über 100 Profirennen absolviert, wovon sie sieben gewinnen konnte.

Fünf Wochen vor der diesjährigen Tour de Suisse sitzt Hartmann nun in einem Restaurant bei der Kapelle Michaelskreuz. Nicht der Kapelle wegen ist sie hierhergefahren, sondern wegen der Steigungsprozente auf dem Weg dorthin. Die Strasse führt vom luzernischen Root auf den Rooterberg, ist knapp vier Kilometer lang und bis zu 12 Prozent steil. Diesen Anstieg werden die Fahrerinnen auf der letzten Etappe zweimal bewältigen. Nach dem zweiten Mal sind es nur noch 15 Kilometer bis ins Ziel. Wer immer diese letzte Etappe der Tour de Suisse gewinnen wird, muss auf dem Michaelskreuz ganz vorne mit dabei sein.

Hartmann sitzt im Trikot ihres neuen Teams Ceratizit am Tisch, vor sich ein Glas Rivella Rot und einen Fitnessteller. Sie ist gut gelaunt, lacht, scherzt und dreht beim Fotoshooting später richtig auf. Ihr Freund Thomas Lecomte sagt später am Telefon: «Elena ist, ohne Übertreibung, der glücklichste Mensch der Welt. Egal, welche Hürde sie überwinden will – sie geht lachend darauf zu.»

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Ob bei der Ernährung, ihrem Material oder dem Pacing: Elena Hartmann überlässt nichts dem Zufall.

Die erste Hürde überwindet sie 2023, als sie einen Vertrag bei einem Profiteam unterzeichnet. Für Israel Premier Tech-Roland startet sie an der Tour de Suisse und gewinnt bald das erste Eintagesrennen in Berlin. Doch mit den Renneinsätzen zeigt sich auch die rabiate Seite des Radsports: 2024, an der Vuelta Femenina in Spanien, stürzt sie schwer, erleidet eine Gehirnerschütterung und muss das Rennen aufgeben.

So weit kommt es beim olympischen Zeitfahren in Paris nicht. Mit Schürfungen steigt sie wieder auf das Fahrrad, beendet das Rennen und wird 17. Dass sie überhaupt in Paris starten würde, hatte niemand erwartet – auch nicht sie selbst. Erst zwei Wochen vor dem Rennen wurde sie nachnominiert, weil Marlen Reusser krankheitsbedingt ausfiel. «Sofort begann ein Kampf gegen die Zeit», erzählt Hartmann. Andere Athletinnen bereiten sich jahrelang auf Olympia vor – Hartmann blieben Tage. Ernährung, Material, Pacing: Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Sie entschied: Das Zeitfahrrad des Teams, auf dem sie sich nie richtig wohl fühlte, bleibt zuhause. Sie fährt in Paris das Rad ihres Freundes, der gleich gross ist wie sie. Mit einem geliehenen Velo an die Olympischen Spiele? Eine ungewöhnliche Entscheidung, aber dieses Rad kennt sie, technisch ist es auf höchstem Niveau. Damit hatte sie alle Schweizer Meistertitel gewonnen. Nach dem Start verläuft alles nach Plan – bis sie auf dem rutschigen Asphalt stürzt. Wie ihr ergeht es mindestens sieben weiteren Fahrerinnen – auch Superstars wie Chloé Dygert und Lotte Kopecky. Die amerikanische Meisterin im Zeitfahren, Taylor Knibb, stürzt gleich dreimal. Hartmann fehlen am Ende 69 Sekunden auf ein olympisches Diplom. Und man stellt sich unweigerlich die Frage: Was wäre ohne Sturz möglich gewesen? «Vermutlich hätte es auch dann nicht gereicht», sagt sie. Im September an der Rad-WM in Zürich ist die Konkurrenz vergleichbar stark wie in Paris. Hartmann kommt als 13. ins Ziel.

Sie will mehr, will optimieren. Deshalb verlässt sie das Team Roland Ende des vergangenen Jahres. Hartmann macht Tests im Windkanal und sucht nach Potenzial für Verbesserungen: aerodynamischere Helme und Anzüge, perfekt eingestelltes Material, der optimale Reifendruck, Kettenwachs. Da ein Watt, dort ein halbes. «Ich wusste, dass wir es besser machen können. Aber man wollte nicht investieren. Das hat mich geärgert.»

Zunächst steht sie ohne Vertrag da. Seit Mitte März fährt sie für Ceratizit. Das Team gehört zur obersten Liga und wird deshalb automatisch zu allen Rennen der UCI Women’s WorldTour eingeladen. Aber Ceratizit gehört auch zu den kleinsten Teams der höchsten Klasse. So wie ihr letzter Arbeitgeber. Hartmann schwärmt vom neuen Team, von der Menschlichkeit des Chefs und den Mechanikern, die das Maximum aus ihren Fahrrädern herausholen. Auch Nationaltrainer Telser ist zuversichtlich: «Elena sammelt Erfahrungen und entwickelt sich ständig weiter. Das ist gut.»

Ceratizit startet auch bei kleineren Rennen, wo die Chancen auf Siege grösser sind – etwa bei der Tour El Salvador. Sie weiss bereits, worauf sie sich einlässt. Sie war schon 2024 dort – und gewann die Rundfahrt. Und nun verteidigt sie ihren Titel und gewinnt die Rundfahrt zum zweiten Mal.

Ein steiler Aufstieg. Vor allem für jemanden, die eigentlich gar nicht Radprofi werden wollte.

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Aufgewachsen ist Elena Hartmann in Domat/Ems GR. Ihr Vater erzählt am Telefon, dass die Familie mehr oder weniger die gesamte Freizeit draussen in der Natur verbrachte. Immer in Bewegung – Skifahren, Bergtouren. Elena macht rhythmische Sportgymnastik und spielte zehn Jahre im Fussballverein. Nach der Matura in Chur studierte sie Sportwissenschaften, unterstützte Spitzensportler:innen bei der Armee und arbeitete bei der Stiftung Schweizer Sporthilfe.

2020 begann ein neues Leben. Hartmann absolvierte die Ausbildung zur Polizistin – wie einst ihr Vater und eine ihrer Schwestern. Noch heute arbeitet sie bei der Kantonspolizei Zürich. Wenn sie nicht selbst an der Rad-WM in Zürich gestartet wäre, hätte sie mit ihren Kolleg:innen die Strecke gesichert. Inzwischen hat sie ihr Pensum auf 20 Prozent reduziert. Wenn ihre Karriere als Radprofi irgendwann endet, will sie wieder ganz Polizistin sein. Seit einigen Jahren lebt sie in Baar, nur wenige Kilometer vom Michaelskreuz entfernt. Der Rooterberg ist ihr Trainingsrevier. Gute Voraussetzungen also für einen Exploit an der Tour de Suisse? Das hängt auch davon ab, welche Rolle sie im Team übernehmen wird. Aber: «Die Länge dieses Anstiegs liegt mir gut, aber eigentlich ist mir der Anstieg ein bisschen zu steil», sagt Hartmann. Mit ihrer Grösse von 1.78 m hat sie nicht die idealen Voraussetzungen, um die Berge hochzuklettern.

Hartmann steht vor dem Gasthof Michaelskreuz am Streckenrand. Hinter ihr liegt ein steiler Aufstieg, vor ihr die Rigi. Die Strasse führt runter Richtung Ziel in Küssnacht. Diese 15 Kilometer sind wie gemacht für die dreifache Zeitfahr-Schweizermeisterin. Sie kennt jede Kurve, jeden Dolendeckel, die kurze, aber brutale Gegensteigung und die letzten Kilometer entlang des Vierwaldstättersees.

So viel Spekulation sei erlaubt: Wenn Elene Hartmann mit den Ersten an der Kapelle Michaelskreuz vorbeifährt, ist am letzten Tag der Tour de Suisse Women für sie alles möglich.

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