Kurbeln statt Grübeln
Fabian Recher ist derzeit der beste Schweizer Handbiker. Jetzt setzt er alles in Bewegung, um an den Paralympics erfolgreich zu sein. Gelingt es ihm, über sich hinauszuwachsen?
Text und Fotografie: Nicolai Morawitz
Fabian Recher lebt erstmals alleine. Im vergangenen Herbst ist der heute 24-jährige Spiezer in einen unscheinbaren Häuserblock in der Thuner Agglomeration gezogen. Das sei ein grosses Stück Unabhängigkeit, sagen Menschen aus seinem Umfeld. Recher wurde mit offenem Rücken geboren. Er ist teilweise in den Beinen gelähmt und im Alltag im Rollstuhl unterwegs. Sein Fahrrad treibt er mit den Armen an.
Rechers Wohnung ist zweckmässig eingerichtet. Medaillen und Maskottchen sorgen für Farbtupfer in den vier Wänden des Handbikers. Ein Koala auf der Sofalehne erinnert an die letzte Reise. Beim Weltcup-Rennen in Adelaide fuhr er auf den dritten Platz. Nach fast zwei Jahren Durststrecke wieder ein Erfolg auf internationaler Bühne. «Ein paar Topshots haben aber gefehlt», sagt Recher beinahe entschuldigend.
«Fabian liebt den Leistungssport – er ist sein Leben», sagt Flurina Rigling am Telefon. Die zweifache Paracycling-Weltmeisterin ist Trainingspartnerin und gute Freundin von Recher. Er analysiere sämtliche Leistungsdaten und sei ein akribischer Routenplaner. Zugleich sieht sie in ihm einen leidenschaftlichen Teamplayer mit einer sehr positiven Ausstrahlung und einer Portion Selbstironie. So hängt er sich schon mal im Rollstuhl an ihre Sattelstange.
Was die sportliche Entwicklung des Paraplegikers betrifft, sagt sie: «Fabian bringt alles mit – aber es fehlen noch Puzzleteile.» Und: «Er ist grundsätzlich jemand, der die Inputs gerne von aussen bekommt, und nicht unbedingt das Heft selber in die Hand nimmt.» Recher legt das als Stärke aus: Er sei offen für andere Meinungen und wolle daran wachsen.
Für die grossen Saisonziele Paralympics in Paris und Velo-WM in Zürich will Recher alles optimieren. Er arbeitet mit Ex-Veloprofi Marcel Wyss als persönlichen Coach zusammen und sucht Trainingspartnerschaften mit ausländischen Athleten. Erstmals in seiner Karriere sei er schon im Januar «im Rennmodus», sagt er. Anders als im regulären Velosport begann die Saison für die Handbiker:innen bislang erst im April. Mit der zunehmenden Professionalisierung sind aber jetzt auch die Parasportler:innen früher gefordert.
Nun war Recher an diesem Samstagmorgen bereits rund drei Stunden unterwegs: Worb, Münsingen – es sind die dunklen Linien auf Rechers Strava-Karte, auf der seine gefahrenen Strecken abgebildet werden. Gewohntes Terrain. 2023 legte er rund 11500 Kilometer auf seinem Handbike zurück. In diesem Jahr dürften es mehr werden. Doch egal wie viele Kilometer auf seinem Radcomputer angezeigt werden – der 24-Jährige liebt seinen Sport in all seinen Facetten: Die Erschöpfung, die Strecken, einmalige Begegnungen.
Und dann ist da wie bei allen Velo-Athlet:innen die Technik, an der es zu feilen gilt. Mit dem Unterschied, dass es bei Handbikes nur sehr wenige Hersteller weltweit gibt, und die Dreiräder mühevoll auf die Athlet:innen angepasst werden müssen. Recher hat dafür 2023 mit dem Velomechaniker Patrick Griessen zusammengespannt, der ihn vielfach unterstützt, ohne eine Rechnung zu stellen.
Recher habe wochenlang recherchiert für ein neues Bike, sagt Griessen. Es ging um eine Anschaffung von rund 18000 Franken. Doch irgendwann habe er Recher zur Eile ermuntert, damit das Bike für die Paralympics perfekt auf ihn eingestellt ist. «Manchmal muss man einfach machen», sagt der 53-Jährige. Recher sei zwar herzensgut, aber nicht besonders entscheidungsfreudig.Trotz des Preises fährt Recher immer noch ein modifiziertes Standard-Produkt – Top-Athlet:innen aus Frankreich und Holland seien mit Massanfertigungen da noch einen Schritt weiter.
Einer, der die internationale Handbike-Szene perfekt kennt und den Schweizer Parasport geprägt hat wie kein anderer, ist Heinz Frei. Er gewann bisher 15 Mal paralympisches Gold. Zuletzt hat er mit 63 Jahren an den Paralympics in Tokio im Handbike-Strassenrennen Silber gewonnen. Frei ist immer noch aktiv und fährt zusammen mit Recher. Frei war sein sportlicher Ziehvater. «Fäbu» müsse manchmal zum Glück gezwungen werden, sagt Frei. Nach einem zuletzt «schwierigen Jahr», sei dieser viel ins Grübeln geraten, habe sich Stunden mit der Analyse seiner Leistungswerte aufgehalten. Dabei spiele im Spitzensport eben auch die Psyche eine grosse Rolle – Recher arbeitet nun mit einem Mentaltrainer zusammen.
Frei streicht heraus, wie gut die Strukturen heute für Handbiker:innen hierzulande seien. Recher absolvierte als erster Paraathlet die Spitzensport-RS in Magglingen. Seitdem kann er in Tenero, Andermatt oder Magglingen 120 Trainingstage absolvieren. Er erhält zudem die maximale finanzielle Unterstützung durch den Rollstuhlsportverband und Gelder der Schweizer Sporthilfe. Recher arbeitet mit einem Teilzeit-Pensum im Personalwesen und ist zusammen mit Flurina Rigling Botschafter der Rad-WM in Zürich.
Der 66-jährige Frei sieht Recher auf einem guten Weg, dass er die Schweiz noch vor der WM bei den Paralympics in Paris würdig vertreten kann – und sogar in die Medaillenränge fährt. «Er hat mehr Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Stolz gewonnen», ist sich Frei sicher.
Rechers bislang grösster Erfolg war Bronze an der WM 2021 in Portugal. Seitdem weiss der 24-Jährige: «Ich kann es schaffen.» Und doch hadert er mit sich: 2023 seien seine Leistungswerte noch über jenen von 2021 gelegen, aber auch die Konkurrenz habe sich entscheidend verbessert. Die erhofften Ergebnisse blieben aus.
Er versucht deshalb mit seinem Mechaniker bei Griffen, in der Kraftübertragung und der Aerodynamik Boden gut zu machen. In einem Rennen kommt es im Paracycling wie auch im regulären Radsport aber nicht nur auf das Material, sondern auf den Instinkt an und die Fähigkeit, das Rennen zu lesen. Recher erklärt, in der liegenden Position reiche eine Leistung von 200 Watt aus, um in der Ebene einen Schnitt von 40 Stundenkilometern zu fahren. An den Anstiegen geht die Tachonadel dann aber nach unten: «Da wird ausgesiebt», sagt Recher, wobei schon kleine Höhenunterschiede für eine Selektion sorgen können.
Er sieht sich selber als «Puncheur», also als kräftigen Fahrer, der in welligem Gelände seine Stärken ausspielen kann, und da liegen ihm diese Rennsituationen. Die WM-Strecke mit dem langen Anstieg sieht er als sehr herausfordernd.
Bis sich diese Fragen in Zürich stellen, absolviert Recher noch weitere Weltcups in Europa. Und zum ersten Mal ein Höhentrainingslager am Berninapass. Die absolute Weltspitze, also die Top 5, habe derzeit noch ein anderes Niveau als er – «an guten Tagen kann ich aber in diesen Bereich vorfahren», sagt der 24-Jährige. Er formuliert es eher als Analyse, gibt es nicht als ehrgeiziges Ziel aus. «Ich finde meine Ziele auf dem Weg» – ein langsames Vortasten also. Die Rechersche Philosophie in Kurzform.