«Ich bin nichts, ich kann nichts, ich habe nichts» – Hans Knecht, der erste Schweizer Velo-Weltmeister
Hans Knecht war der erste Schweizer, der Velo-Weltmeister geworden ist. Er gewann das Rennen, wie er sein gesamtes Leben kämpfte: Mit schlechten Voraussetzungen, aber mit einem unbändigen Willen.
Text: Simon Häring
Nach einer Nacht im Heu, das noch nicht abbezahlte Fahrrad fest umklammernd, streicht er sich das letzte Salatöl seiner Mutter in das widerspenstige Haar, um es zu bändigen, stopft die zu grossen Halbschuhe, die er ohne zu fragen von seinem Bruder genommen hatte, mit Zeitungspapier aus, zieht sich die Arbeitshose seines Vaters und ein blau eingefärbtes Unterleibchen seiner Schwester über und befestigt die Startnummer 113 mit zwei Stecknadeln. Dann stellt er sich an den Start seines ersten Rennens. Die Menge lacht über ihn, zeigt mit dem Zeigefinger auf ihn und ruft voller Hohn und Spott: «Was will der Knirps? Ihm fehlt nur noch die Milchflasche mit dem Gummilutscher dran!» So beschreibt es Hans Knecht in seiner 1949 erschienenen Autobiografie «Strasse ohne Ende».
Der Wind singt in den Speichen. Die Felgen sind wie metallene Kreise, die rasch und leicht mit dem Zirkel gezogen werden. Das Sattelleder krächzt, der vernickelte Lenker funkelt in der Sonne, als sende er Blitze aus. Wie gesetzmässig legt sich Glied um Glied der Kette ins Hohlrund des Kettenkranzes. Vor ihm sind gebeugte Rücken in schweissklebrigen, farbigen Leibchen. Unermüdlich stampfen die sehnigen Beine und die kraftstrotzenden Muskeln, während sich in den furchigen Gesichtern die wilden Kerben der Spannung abzeichnen.
Hans Knecht erinnert sich noch viele Jahre danach wortreich an sein erstes Radrennen. Er war damals ein Jüngling, der nichts hatte ausser einem unheimlichen, trotzigen Willen: dem Elend zu entfliehen und das Glück zu suchen. Aufgewachsen in ärmsten Verhältnissen in Albisrieden und Altstetten – der Vater war Bauarbeiter in Wollishofen, die Mutter Hilfsarbeiterin in einer Gärtnerei im Heuried – hatte Knecht das Fahrrad dafür auserkoren, den sozialen Aufstieg zu verwirklichen.
Sein erstes Rennen führt über 100 Kilometer durch das Zürcher Oberland. Knecht tritt ohne Kenntnisse von Taktik, Strategie oder Verpflegung an. Und es endet unschön. In den Adern ist das Blut längst zu Blei geworden, die Beinmuskeln schmerzen, als wären sie stundenlang mit Ruten geschlagen worden. Die Müdigkeit überkommt Knecht, der rauhe Stoff der Hose, der saure, scharfe Schweiss und die Bewegungen des Tretens haben ihm den Hintern wund gescheuert. Unerbittlich brennt die Sonne, als ihn selbst seine schärfste Waffe, sein Wille, nicht mehr im Sattel halten kann. Als er zu sich kommt, liegt er auf einem gepolsterten Möbel beim Arzt. Der Körper geknechtet, das Fahrrad verschwunden. Zwei Buben hatten es abgeholt und behauptet, sie würden es Knecht zurückgeben. Als er am Morgen ausgezogen war, sein Glück zu suchen, hatte Hans Knecht wenig. Und am Ende des Tages nichts mehr.
Zurück in Albisrieden wäscht er sich mit brauner Schmierseife und kaltem Wasser den Dreck der Strasse und den klebrigen Schweiss vom ausgezehrten Körper und schwört sich, nicht weiter namenlos zu bleiben. Also verschreibt sich Hans Knecht einem spartanischen Lebensstil, wie er in seiner Autobiografie eindrucksvoll schildert: Statt mit dem Tram nach Schlieren zu fahren, wo er eine Lehre zum Färber absolviert, steht er am Morgen eine halbe Stunde früher auf und geht barfuss zur Arbeit. Auch bei Regen, Schnee und Kälte, weil er sein gespartes Geld nicht in neue Schuhe investieren möchte. Abends trägt er Zeitungen aus, hilft in einer Velowerkstatt, putzt bei einer wohlhabenden Dame, er gibt das Rauchen auf, trinkt kein Bier mehr, kaut beim Essen besonders lange und gibt von seinem Sold in der Rekrutenschule keinen einzigen Rappen aus.
Von den 311.45 Franken, die er sich in drei Jahren angespart hat, kauft er sich ein neues Rad und tritt dem Veloclub Altstetten bei. Alles, was danach folgen sollte, verdankt Hans Knecht seinem Willen: Er sei weder körperlich dazu berufen noch dazu auserkoren, im Sport Hervorragendes zu leisten. Sein Antrieb bleibt das Gefühl, das ihm in die Wiege gelegt worden war: «Ich las es ab an allen Wänden, ich sah es in allen Augen und ich fühlte es aus allen Bewegungen: Ich bin nichts, ich kann nichts, ich habe nichts.»
Ausser dem Willen, der «hinter meiner Stirne horstet, gierig und wild, dem sehnigen Krallengriff des Adlers gleich». Das Gefühl der Wertlosigkeit bleibt ein lästiger Begleiter. Als er einmal mit Freunden über den Gotthard fährt, ohne Halt von Zürich nach Mailand, überkommt es ihn wieder, als er in der Kirche Santa Maria delle Grazie steht. «Wie nichtig ich angesichts Leonardo Da Vincis Abendmahl bin und wie unsinnig mein Streben und Trachten, wie wertlos mein Leben war», schreibt Knecht in seiner Autobiografie.
Das Erlebnis erinnert ihn an den Schwur, den er sich gegeben hatte: Ich will nicht namenlos bleiben. Fortan geht er um 20 Uhr ins Bett, macht Waldläufe, isst Haferbrei und trinkt täglich zwei Tassen Ovomaltine. «Ich duldete keine Ermattung des Willens, keine Erschlaffung des Geistes und keine Erlahmung des Körpers.» Erfolg zu haben, wird zur Obsession.
An Pfingsten im Jahr 1935 fährt Knecht sein zweites Rennen als Junior – und gewinnt sogleich die 22. Meisterschaft von Zürich. Doch inzwischen hat eine Wirtschaftskrise Europa und auch die Schweiz erfasst, oft ist Knecht arbeitslos. Manchmal weist er dem Schalterbeamten des Arbeitsamtes am Ende des Tages 45 Stempel vor von Unternehmen, die bestätigen, er habe sich um Arbeit bemüht. Dafür erhält er vier Franken pro Tag. Um an Rennen im Ausland teilzunehmen, fehlt ihm das Geld, die Armut peitscht unerbittlich.
Doch für einmal ist Knecht das Glück hold: Nach ersten Erfolgen als Amateur finanziert ihm ein spendabler Gönner einen achtwöchigen Trainingsaufenthalt in Belgien. Knecht erkennt Schwächen (Etappenrennen, weil sich sein Körper nicht schnell genug erholt), und Stärken (lange Sprints und das Rennen einzuschätzen). Eisern schleift er an seinem Körper, akribisch schult er den Geist. Sein Schicksal kettet er an sein Rad, einen Teil seiner Seele, immer mit dem Gedanken: «Ich will nicht in der Finsternis zugrunde gehen. Ich will empor zum Licht.»
Nachdem er 1938 die Züri-Metzgete auch bei den Amateuren gewinnt, wird Knecht 1939 in Valkenburg in den Niederlanden Amateur-Weltmeister. Reise und Aufenthalt werden vom Schweizer Radfahrer-Bund SRB bezahlt. Im Rennen über 170 Kilometer, zu absolvieren in 17 Runden, kondensiert alles zum Erfolg, was Knecht über sich und über den Radsport gelernt hat. Zwölf Mal täuscht er immer an derselben Stelle am berüchtigten Cauberg einen Angriff an, «zwölf Mal meinte ich es nicht ernst, aber jedesmal wurde ich ernst genommen. Beim dreizehnten Mal meinte ich es wirklich blutig ernst, aber gerade diesmal glaubte mir kein Mensch», schrieb er später. Zuhause in Zürich wird Hans Knecht begeistert empfangen und findet Sponsoren, wie zum Beispiel die Firma Titan, die ihm ein Markenrad zur Verfügung stellt. Schon zuvor hatten die Wirtsleute des Restaurants «Markthalle» am Limmatplatz, Herr und Frau Saladin-Kaufmann, ihm ein Jahr lang freie Kost gewährt.
1939 wird Hans Knecht Berufsfahrer. Doch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durchkreuzt seine Pläne. Aus Wochen werden Monate und aus Monaten Jahre ohne Rennen im Ausland. Alle Verträge werden hinfällig. Immerhin findet Knecht privat sein Glück, mit General Henri Guisan als Amor. Dieser hatte die Schweizer Frauen dazu aufgerufen, sich eines Soldaten anzunehmen, ihm zu schreiben und damit den Widerstandswillen zu stärken. So tritt Nelly Weilenmann in Knechts Leben. Auf Briefe folgen handgestrickte Wollsocken, Unterleibchen und manchmal Schokolade von Lindt & Sprüngli in Kilchberg, wo Weilenmann arbeitet.
«Also zog ich aus, dem Elend zu entfliehen und das Glück zu suchen.»
Hans Knecht
1944 heiraten die beiden, am gleichen Tag eröffnet Knecht ein Velogeschäft in Altstetten. Kurz darauf kommt Sohn Hans zur Welt, der allerdings nach zwei Monaten an einer Herzlähmung stirbt. Ein Schicksalsschlag, der sich 1947 wiederholen sollte. Wieder gebärt Weilenmann einen Sohn, wieder taufen die beiden ihn auf den Namen Hans, wieder stirbt er früh.
Sportlich traut man Knecht nichts zu, als er im September 1946 in Zürich bei den ersten Weltmeisterschaften nach dem Zweiten Weltkrieg an den Start geht. Die Favoriten tragen grosse Namen wie Fausto Coppi, Gino Bartali, Marcel Kint und Rik Van Steenbergen. So sind es denn auch die beiden Belgier Kint und Van Steenbergen, die dem Rennen auf den 20 Runden à 13,5 Kilometer mit 2000 Höhenmetern den Stempel aufdrücken. Es ziehen finstere Wolken auf und schwere Tropfen fallen, der Nebel wälzt sich den Hängen des Zürichbergs entlang über den Milchbuck. Der Asphalt glänzt vor Nässe wie ein Spiegel, die 50’000 Zuschauer:innen haben längst die Regenschirme aufgespannt.
Doch in der vorletzten Runde schafft Knecht den Anschluss an die Spitzengruppe. Die Belgier versuchen, ihn zu zermürben. «Erbarmungslos und grauenhaft erfolgt Antritt um Antritt. Auf Täuschung folgt Täuschung wie der Donner auf den Blitz. Sie bekämpfen mich bis aufs Blut», erinnert sich Knecht in seiner Autobiografie. Dann kann Van Steenbergen nicht mehr mithalten. Doch Kint, der Weltmeister von 1938, hängt vor dem Sprint an Knechts Hinterrad. «Jetzt fühle ich seinen Willen im Nacken, der mir die Kehle abschnürt, die Atmung unterbindet und den Puls lähmt. Überall sehe ich seinen finsteren Blick. Er spielt mit mir wie die Katze mit der Maus.»
Hans Knecht verlangsamt die Fahrt, wechselt immer wieder die Strassenseite, und als Kint für einen kurzen Moment nicht aufpasst, setzt er rücksichtslos und schroff zum Sprint an und reisst damit ein Loch von zehn Metern auf. «Ich peitsche mich auf und jage dahin, als ob der unerbittliche Tod hinter mir mit der blanken Sense aushole. Ich werfe alles in den Kampf. Vor mir das Ziel, hinter mir Kint oder der Tod», erinnerte sich Knecht an den Tag im September 1946, an dem er erster Schweizer Weltmeister der Berufsfahrer wird. Ein Kunststück, das nach ihm im Strassenrennen nur noch Ferdi Kübler 1951 und Oscar Camenzind 1998 gelingen sollte.
Es folgen Jahre der Ernte, in denen Knecht endlich gut verdient und in denen ihn auch das private Glück ereilt: 1947 kommt Tochter Nelli zur Welt. 1949 bestreitet er im Hallenstadion in Oerlikon sein letztes Rennen. Er fährt und kämpft, wie er immer gekämpft hatte: aufrecht und ehrlich, mit offenem Visier und unbefleckten Waffen. Am Ende dreht er eine Ehrenrunde mit einem Blumenstrauss, unter tosendem Applaus der begeisterten Zuschauer:innen. 15 Jahre lang hatte Hans Knecht gekämpft, gelitten und gesiegt. In seinem Rad lebt ein Teil seiner Seele. Es gab in der Schweiz keine Strasse mehr, über die er nicht gefahren war. Alles hatte er in diesen Jahren dem Gedanken untergeordnet: «Also zog ich aus, dem Elend zu entfliehen und das Glück zu suchen», schreibt er.
Hans Knecht stirbt im März 1986 im Alter von 72 Jahren. Der Namenlose aus Albisrieden hatte sich am Ende weltweit einen Namen gemacht.
Hans Knecht: Strasse ohne Ende, Scheuch-Verlag, 296 Seiten.