Wo sind denn alle hin? Warum Zürich keine Velostadt mehr ist
Zürich war einst die erste Schweizer Adresse für den Radsport mit einer Ausstrahlung in die Welt hinaus. Der Erfolg basierte auf vier Säulen. Doch heute sind davon bis auf eine alle eingestürzt.
Text: Martin Born
Als 1912 im Atlantik die Titanic versinkt, wird im Norden Zürichs an der Zukunft gebaut. Oerlikon ist eine aufstrebende Gemeinde, seit sie sich vor 40 Jahren von Schwamendingen gelöst hat. Dank dem Bau der Nordostbahn, die Oerlikon mit Romanshorn, Winterthur und Zürich verbindet, ist das Bauerndorf für die Industrie interessant geworden. Die Maschinenfabrik Oerlikon bietet Arbeitsplätze.
Von den Stadtzürcher:innen wird das Kaff im Norden aber weiterhin belächelt. Die Tramlinie Zürich–Oerlikon–Seebach ist defizitär. Da trifft es sich gut, dass einige Dorfpolitiker eine kühne Idee haben. Weil die Kurven auf der alten Rennbahn auf der Hardau für die populären, weil lauten und schnellen Rennen der Steher zu wenig steil sind, braucht es eine neue. Die Oerliker:innen träumen gross, und der Direktor der «elektrischen Strassenbahn» sieht volle Trams, die von Zürich aus den Milchbuck überwinden.
Als Standort wählen sie das weit ausserhalb des Dorfzentrums gelegene Ried. Ein Sumpfgebiet. Die Städter:innen lachen. Doch der Sumpf ist nicht tief, und nach nur fünf Monaten Bauzeit steht das Betonwerk. Kostenpunkt: 300000 Franken. Bodenpreis: fünf Rappen pro Quadratmeter.
Es ist der Auftakt zur wohl schönsten Zeit in der Geschichte des Radsports. Die Zeit der beiden K, Ferdy Kübler und Hugo Koblet.
Damit wird Oerlikon zum Nabel der Radsport-Schweiz. Das Tram bringt die Zürcher:innen zu Tausenden aufs Land. 1923 finden hier erstmals Weltmeisterschaften statt. 15000 Zuschauer:innen feiern den Steher-Weltmeister Paul Suter. 1929 übernimmt Oerlikon die WM von den von der Wirtschaftskrise erschütterten USA. 1936, kurz nach der Hitler-Olympiade in Berlin, ist erstmals Zürich und nicht Oerlikon Gastgeberin. Die Stadt hat sich den Vorort zwei Jahre zuvor einverleibt. Zürichs Premiere endet ohne Schweizer Medaille. Zwar finden die Strassenrennen in Bern statt, aber Zürich bleibt der Nabel des Radsports.
Die Infrastruktur wird ausgebaut. Die Rennbahn überdachen, weil es oft regnet? Zürich denkt grösser: 1939 wird das Hallenstadion eröffnet. Zwei Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die grösste stützenfreie Halle Europas. Oder besser gesagt: Der schönste Wädlitempel der Welt. Sporthalle wird es erst mit dem Einzug des Zürcher Schlittschuh-Clubs, zur Konzerthalle 1955 mit Louis Armstrong. Noch heute weist das Rennbahn-Signet auf den Wegweisern zum Hallenstadion.
Zürich führt die ersten Weltmeisterschaften nach dem Krieg durch. Eine logische Wahl: Wo sonst in Europa sind die Strassen noch intakt? Bahn und Strasse sind wieder vereint. Die Welle der Begeisterung schwappt von der Bahn auf die Strasse über. Bilder der «Schweizer Film-Wochenschau» zeigen zehn Reihen dichte Spaliere, die im strömenden Regen die triumphale Ankunft des Albisrieders Hans Knecht bejubeln. Der kluge Taktiker Knecht gewinnt das Rennen. Zürich wird von allen Seiten für die Gastfreundschaft, die Grosszügigkeit und die tolle Organisation gelobt. Die Stadt, die heute als eher sportunfreundlich gilt, lässt damals in der Nacht vor der WM die Innenstadt hell erleuchten.
Es ist der Auftakt der für viele schönsten Zeit in der Geschichte des Radsports. Die Zeit der beiden K, Ferdy Kübler und Hugo Koblet. Die Schweiz ist im Radsportfieber und sie ist geteilt. Kübler, der Bauernbub aus Marthalen, der später zum «Adler von Adliswil» wird, vertritt die bürgerlichen Werte der Nachkriegszeit: Fleiss, Genügsamkeit, Bescheidenheit, Sparsamkeit. Er verdient sein Leben mit Hartnäckigkeit, Schweiss, Willen und Krampf. Er überbordet im Angriff und erlebt die schlimmsten Einbrüche. Hugo Koblet, der Bäckerssohn aus dem Arbeiterviertel, ist das Gegenteil. Talentiert vor allem, locker, charmant, spielerisch, verschwenderisch, kulturinteressiert, trainingsfaul, masslos.
Aus Wädli- wird ein bisschen Erotiktempel mit viel nackter Haut, Champagner und Caipirinha.
1950 gewinnt Koblet als Neuling und erster Ausländer den Giro d’Italia mit selten gesehener Leichtigkeit. Im Sommer kontert Kübler mit einem Sieg an der Tour de France, von der die Italiener wegen der pöbelnden französischen Zuschauer:innen frühzeitig abreisen. 1951 gewinnt Koblet die Tour de France auf so eindrückliche und überlegene Art, dass ihm der Übername «Pédaleur de charme» bleibt (in Frankreich wird Kübler «le fou pédalant» genannt). Für alle Ewigkeit bleibt sein Soloritt über 135 Kilometer zwischen Brive und Agen in Erinnerung, als er den nachjagenden Weltbesten um zweieinhalb Minuten davonfährt.
Kübler weiss, wenn er weiterhin viel Geld verdienen will, muss er zurückschlagen: Er setzt alles auf die WM und wird im selben Jahr in Varese – auch dank Koblets Hilfe – ins Regenbogentrikot gekleidet. Die Tour de Suisse erlebt ihre Blüte. Auch dank den beiden Rivalen, die sich respektieren, aber nicht mehr. Das Duell endet unentschieden: 3:3 in den Gesamtsiegen, 11:11 in den Etapensiegen.
In Zürich findet das Duell an der Schützengasse seinen Brennpunkt. Hier treffen sich im Café Rio die «Küblerianer» und im Restaurant Schützen, auf der anderen Seite der Bahnhofstrasse, die «Koblettisten». Der Schützen gehörte Hans Martin, dem Koblet-Mentor, ehemaligen Züri-Metzgete-Sieger, Schweizer Meister im Akrobatik-Flug und Erfinder des Schnallen-Skischuhs. Hier entstehen Legenden: wen Koblet gerade wieder verführt hat, wie viel Geld er verzockt hat oder, auf der anderen Seite, wem Kübler versprochenes Geld für Helferdienste schuldet.
Es ist der Höhepunkt in der Geschichte des Schweizer Radsports, mit Zürich als unumstrittenem Mittelpunkt. In fast allen Stadtquartieren gibt es Veloclubs. Zürich als Schweizer Velohauptstadt steht auf vier starken Säulen:
Nun fällt zumindest wieder etwas Licht in die Ruinen der einstigen Velohaupstadt.
Die erste Säule, das Sechstagerennen im Hallenstadion, gehört während langer Zeit zu Zürich wie das Sechseläuten. Es lebt nicht nur vom Spektakel auf der 250-Meter-Bahn, von grossen Teams wie Koblet/Von Büren, Van Steenbergen/Severeyns, Post/Pfenninger oder später Merckx/Sercu, Freuler/Gisiger oder Risi/Betschart, sondern auch von der Zürcher Gesetzgebung. Bis 1970 ist um 23 Uhr Polizeistunde. Das Milieu freut sich deshalb, wenn es während des Sechstagerennens ins Hallenstadion umziehen kann. Aus Wädli- wird ein bisschen Erotiktempel mit viel nackter Haut, Champagner und Caipirinha.
Ab 1970 flaut das Interesse merklich ab. Vor allem an den ersten drei Tagen gibt es immer weniger Publikum. Freitags und samstags ist die Halle zwar noch immer voll. Doch der Zerfall dieser Säule des Radsports lässt sich nicht aufhalten. Auch wenn die Urner:innen zu Tausenden kommen, um Bruno Risi und Kurt Betschart zu unterstützen, sinken Zahlen und Einnahmen. Die Bahn aus sibirischer Fichte fällt 2004 dem Hallenstadion-Umbau zum Opfer. Und der Versuch der ehemaligen Weltmeister Max Hürzeler und Urs Freuler, die Sixdays in verkürzter Form auf einer eingebauten 200-Meter-Bahn zu retten, scheitert nach neun gut gemeinten Versuchen.
Ähnlich ergeht es der zweiten Säule, der Tour de Suisse. Die Landesrundfahrt machte während Jahrzehnten bei fast jeder Austragung in Zürich Halt. Die Offene Rennbahn in Oerlikon ist ein beliebter Zielort der letzten Tour-de-Suisse-Etappe. Zwischen 1933 und 1997 ist Zürich 45-mal Ziel der letzten Etappe, zwischen 1933 und 1979 zudem 34-mal Startort. Niemandem wäre es in dieser Zeit in den Sinn gekommen, an dieser Tradition etwas zu ändern. Am wenigsten Tour-Direktor Sepp Voegeli, dem Traditionen heilig sind. Sein Nachfolger, Hugo Steinegger, denkt etwas anders. Andere Städte machen bessere Angebote als Zürich mit der Rennbahn. Und weil der Verkehr in Zürich zum immer grösseren Problem wird, endet die Tour de Suisse ab 1998 anderswo. Zwar meidet die Rundfahrt auch andere grössere Städte zunehmend, doch war etwa Bern seither immerhin noch sechsmal Etappenort.
Die dritte Säule des Zürcher Radsports ist zugleich die älteste: die Meisterschaft von Zürich, die wegen der vielen blutüberströmten Fahrer, die das Ziel erreichen, bald einmal den Namen Züri-Metzgete erhält. Entstanden ist sie im Jahr 1910. Um Schulden zu tilgen, kommt man im Veloclub Westfalen auf die Idee, die Fahnenweihe mit einem Radrennen zu verbinden. Start um 5 Uhr in Schwamendingen, 100 Kilometer, miese Strassen, viele Stürze und Defekte, 76 Teilnehmer und ein 19-jähriger Sieger: Paul Suter, der Älteste aus der erfolgreichen Gränicher Velofamilie. Es dauert zwei Jahre bis zur zweiten und drei weitere Jahre bis zur dritten Meisterschaft von Zürich. Dann schliessen sich der VC Westfalen, der Racing-Club, die Radfahrer-Union und der VC Adler zum Radfahrer-Verein Zürich zusammen. Es ist der Anfang einer bewegten Geschichte des bedeutendsten Velorennens der Schweiz.
Die Züri-Metzgete überlebt den Zweiten Weltkrieg, wird von Sepp Voegeli und dem «Tages-Anzeiger» gerettet, nachdem ein OK-Mitglied mit der Kasse durchgebrannt ist. Sie erträgt es, dass ein weiterer Retter, der Ski-Weltcup-Papst Serge Lang, den Start des Rennens, das er Grand Prix Suisse nennt, nach Basel verlegt. Und sie überlebt die deutsche «Besatzung» durch die Veranstalter des Hamburger Weltcuprennens.
Wer im «goldenen Buch» der Sieger nach grossen Namen sucht, findet sie fast alle. Natürlich auch Eddy Merckx. 2006 ist Samuel Sanchez der letzte Metzgete-Sieger. Er jubelt am Mythenquai. Die Fernsehbilder, die um die Welt gehen, sind grossartige Werbung für Zürich mit seinem See.
2007 versetzt Floyd Landis aus dem Schweizer Phonak-Team dem ProTour-Rennen den Todesstoss. Er wird an der Tour de France mit Testosteron erwischt und von der Siegerliste gestrichen. Dieser Tropfen bringt das Dopingfass zum Überlaufen. 2007 fällt die Metzgete aus. 2008 gibt es noch ein Elite-Rennen auf nationalem Niveau. Danach wird das Rennen zur «Volksmetzgete» für Hobbyfahrer:innen mit Start und Ziel in Buchs. Bis zu tausend Personen nehmen diese Gelegenheit wahr. Das weckt Erinnerungen an die grossen Zeiten in den 1960er und 1970er Jahren, als über Tausend Fahrer in diversen Kategorien starteten. 2014 ist auch die Volksmetzgete am Ende: Sponsor EKZ zieht den Stecker.
Die Tour de Suisse meidet Zürich, das Hallenstadion ist eine Eventhalle ohne Rennbahn, und die Züri-Metzgete gibt es nicht mehr. Bleibt noch die vierte Säule: die Rennbahn Oerlikon. Sie begann bereits in den 1960er Jahren zu bröckeln. Zwar trug Zürich 1961 noch einmal Bahn-Weltmeisterschaften aus, doch die Zuschauer:innenzahlen sanken danach in schwindelerregendem Tempo. 1967 sind es noch 1000 Zuschauer:innen pro Anlass. Der Bahn droht der Zerfall. Dem Stadtrat sind 200 000 Franken für notwendige Renovationen zu viel. 1973, als die Weltmeisterschaften in die Schweiz vergeben werden und die Strassenrennen in Mendrisio stattfinden, ist der Zustand der Oerliker Bahn nicht mehr WM-tauglich. Die Bahnrennen finden in Varese in Italien statt.
Es folgen Jahre der Unsicherheit. Kluge Köpfe denken sich aus, was auf dem schlecht genutzten Grundstück alles gebaut und wie viel Geld dort verdient werden könnte. Sepp Voegeli, Direktor des Hallenstadions und der Tour de Suisse, springt als Retter ein (und führt 1983 noch einmal Weltmeisterschaften durch), sein Nachfolger André Béchir führt den Betrieb weiter (der Innenraum als Parkplatz ist wertvoll), doch als klar ist, dass das Hallenstadion nach dem Umbau keine Bahn erhält und somit kein Wädlitempel mehr sein wird, scheint das Aus besiegelt.
Dann kommen sieben Aufrechte aus Oerlikon, alle «verliebt in die Rennbahn», wie Willy Kym, der TV-Reporter, der dazugehört, im Buch zum 100-Jahre-Jubiläum schreibt. Sie beschliessen, die Rennbahn zu retten. Mit wenig Geld und viel Enthusiasmus. Unter Führung des Rennbahn-Velomechanikers Alois «Wisel» Iten gründen sie die Interessengemeinschaft Offene Rennbahn Oerlikon.
22 Jahre sind seither vergangen, und heute strahlt das von der Stadt grosszügig renovierte älteste Schweizer Stadion als Monument der Beton-Architektur in altem Glanz. Wenn es nicht regnet, verbringen dort im Sommer an jedem Dienstag bis zu 1000 Menschen einen vergnüglichen Abend bei Wurst und Bier. Eine soziale Einrichtung von unschätzbarem Wert. Aber auf nur einer Säule steht keine Velohauptstadt der Schweiz.
Doch nun, nach fast 80 Jahren, wird erstmals wieder eine Strassenrad-WM in Zürich ausgetragen. Mit Stefan Küng sowie Flurina Rigling im Parasport hat die Schweiz mehrere Favorit:innen. Die Stadt Zürich, in der es Grossveranstaltungen sonst schwer haben, sperrt während über einer Woche zahlreiche Strassen und investiert fast acht Millionen Franken in den Event. Zudem begeistert das Zuricrit eine neue Generation von Radsportfans mitten in der Stadt. Und eine Etappenankunft der Tour de Suisse scheint in den nächsten Jahren nicht mehr undenkbar. Ob Zürich wirklich wieder zum Epizentrum des Radsports wird, ist ungewiss. Aber es fällt zumindest etwas Licht in die Ruinen der einstigen Velohaupstadt.