Sie siegt, weil sie nicht muss

Marlen Reusser kam spät und fulminant zum Radsport. Jetzt verhilft die Europameisterin und Olympiazweite vor allem ihren Teamkolleginnen zum Erfolg. Was braucht es, damit sie die ganz grossen Rennen gewinnt? Und war ihr Triumph bei Gent- Wevelgem der Anfang davon?

Der Helfer in der orangen Leuchtjacke erschrickt, macht einen Schritt zurück und breitet seine Arme aus. Er will sie noch aufhalten, doch Marlen Reusser ist zu schnell. Sie kann nicht mehr rechtzeitig reagieren. Wie in Zeitlupe biegt sie in die Seitenstrasse im belgischen Wevelgem ein, bremst ab, wendet und steuert ihr Velo übers Trottoir zurück auf die Strasse, die heute für sie eine Siegesstrasse ist. 

Ihren Triumph diesen Frühling im Klassiker Gent–Wevelgem errang Marlen Reusser auf Umwegen. Gemeint ist damit nicht nur die verpasste Abzweigung, die sie bloss wenige Sekunden gekostet hat, sondern ihr ungewöhnlicher Weg in den Profisport. 

Noch mit 25 Jahren – in einem Alter, in dem andere Spitzensportler:innen ihre Karriere bereits beendet haben – machte sich Reusser keine Vorstellung von der Welt, in der sie heute, nur sieben Jahre später, zu den Besten zählt.

Sie ist Olympiazweite. Weltmeisterschaftszweite. Europameisterin. Vergangenes Jahr gewann sie eine Etappe der Tour de France. Mit wem man auch über sie spricht: Alle sagen, in den nächsten Jahren sei für Marlen Reusser alles möglich.

Anruf bei Maja Reusser, Bäuerin in Hindelbank, einem Dorf im Emmental. Die Frage, ob ihre Tochter ein sportliches Kind gewesen sei, bringt sie zum Lachen. «Marlen fiel auf alle möglichen Arten auf. Aber nicht im Sport.»

Marlen ging in die Pfadi, in die Jugi und ins Dorftanzen. Sie verdiente sich ein Sackgeld, indem sie auf dem elterlichen Hof Kindern das Ponyreiten beibrachte. Die Schule fiel ihr leicht, sie hätte eine Klasse überspringen dürfen, sagten die Lehrer:innen. Doch die Eltern wollten das nicht. Marlen spielte Geige und Klavier und nahm bereits als Teenager Unterricht an der Hochschule der Künste in Bern. Nach der Matur studierte sie Medizin, promovierte als Dr. med. und begann in Langnau als Assistenzärztin zu arbeiten. Viel deutete darauf hin, dass sie einmal als Chirurgin am Inselspital oder als Violinistin des Berner Symphonieorchesters tätig sein würde.

In Kontakt mit dem Rennvelofahren kam sie während eines Welschlandaufenthalts im Gymnasium. Ihre Walliser Gastfamilie nahm sie auf Fahrradtouren mit. Als es Zeit für die Rückkehr war, informierte sie ihre Eltern, dass sie nicht den Zug nehmen werde. Sie werde mit dem Velo nach Hindelbank kommen.

Ab da unternahm sie Ausfahrten durchs Emmental und ins Berner Oberland. Manchmal verabredete sie sich mit Freundinnen, aber meistens zog sie alleine los. Am liebsten waren ihr die brütend heissen Sommertage, an denen sie schon ins Schwitzen kam, wenn sie nur ihre Sachen aus dem Schuppen holte. Sie fuhr aber nicht Velo, um fit zu werden oder jemanden zu besiegen. Es war mehr so, dass sie – wie viele Jugendliche – ständig über tausend wirre Dinge nachdachte. Auf dem Velo wurde es plötzlich ruhig und überschaubar im Kopf. Sie spürte den Wind an den nackten Beinen und die Kraft, die in ihrem grossen Körper steckte. Sie mühte sich die Anstiege hoch, weil sie sich auf die Abfahrten freute.

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Bis heute denkt Marlen Reusser gerne an diese Fahrten zurück. Als wir uns an einem bitterkalten Winternachmittag in Bern für diese Geschichte zum ersten Mal treffen, sagt sie: «Auf diesen Touren habe ich Momente erlebt, in denen ich wirklich dachte: Jetzt könnte ich sterben. Ich meine das nicht im suizidalen Sinn. Ich empfand Glück, war mir selbst so nah wie nie zuvor.» Irgendetwas in ihr wollte weg und etwas wagen. «Das ist das Gute in der Schweiz: Wenn man es übertreibt, findet man immer ein Postauto, das einen nach Hause bringt», sagt Reusser.

Sie pubertierte früh, forderte viel, stellte alles in Frage. Sie eckte an – auch bei ihrer Familie. Das Fahrrad war kein Sportutensil, es war Trostspender und Fluchthelfer bei den Unruhen ihrer Jugend.

2016 suchte ein Kollege kurzfristig eine neue Partnerin für ein Sie+Er-Paarzeitfahren, für das er sich angemeldet hatte (das ist eine selten ausgetragene Radsportdisziplin, bei der man eine bestimmte Strecke zu zweit absolviert).

«Hast du Lust?», fragte er.

«Ich bin völlig untrainiert», antwortete sie, ohne zu wissen, was es bedeutet, trainiert zu sein.

«Macht nichts», sagte er.

Im Rennen fuhr er – Typ ambitionierter Hobbyvelofahrer – dann in ihrem Windschatten. Da war sie 25 Jahre alt.

Im Rückblick ist es leicht, in einem einzelnen Ereignis einen alles verändernden Moment zu erkennen. Aber manchmal stimmt es: Denn hätte der Kollege sie nach dem Paarzeitfahren nicht gefragt, ob er ihr einen Trainer vermitteln dürfe, wäre Marlen Reusser heute wahrscheinlich nicht Veloprofi.

Ihr erster Trainer hiess Bruno Guggisberg, ein ehemaliger Radprofi, der heute als medizinischer Masseur in Bern arbeitet. Einen Sommer, einen Herbst und einen Winter lang schrieb er ihr Pläne und führte sie in die Trainingslehre ein. Dann meldete Guggisberg sie für ein Strassenrennen im Jura an. Im März. Gott, war sie nachher wütend auf ihn. Kalt wars. Und gefährlich. 

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Fotografie: Flavio Leone
Das Schweizerkreuz auf dem Kragen erinnert an Marlen  Reussers vergangene Schweizermeisterinnentitel.
Das Schweizerkreuz auf dem Kragen erinnert an Marlen Reussers vergangene Schweizermeisterinnentitel. Fotografie: Flavio Leone

Marlen Reusser hatte keine Ahnung, wie man sich im Peloton – dem grossen Pulk der Fahrerinnen – bewegt. Hier bedeutete Radfahren nicht Freiheit, sondern Enge. Sie merkte, dass es nicht genügte, die Beine zu gebrauchen. Wollte sie eine gute Position haben, musste sie Ellenbogen und Schultern einsetzen. Vom Hinterrad der Vorfahrerin trennten sie nur Zentimeter. Und wenn sie kurz nicht aufpasste, lag sie am Boden (und riss andere mit).

Sie hasste es. Unter Tränen fuhr sie das Rennen zu Ende und schwor, sich so etwas nicht noch einmal anzutun. Bruno Guggisberg aber, der von ihrem Talent überzeugt war, überredete sie, bis zu den Schweizer Meisterschaften im Zeitfahren weiterzumachen. Ein paar Monate noch, sagte sie sich, dann wäre das Abenteuer – ein einziger grosser Fehler! – beendet.

Im Zeitfahren fährt man nicht gegen andere, sondern gegen die Uhr, muss keine Rempler, keine Dränglerinnen fürchten. 

Der grösste Unterschied zu einem Strassenrennen liegt aber darin, dass sich ein Zeitfahren fast nur anhand physischer Attribute – Kraft, Stehvermögen, Ausdauer – entscheidet, während es in einem Strassenrennen auch um Klugheit, Witz, Erfahrung geht: Wann ist der beste Zeitpunkt für einen Angriff? Im Windschatten welcher Fahrerin fährt es sich besonders kraftsparend? Wo sollte man auf keinen Fall eine Pinkelpause einlegen?

Klar, in welcher Disziplin eine technisch und taktisch ungeschulte, körperlich aber starke Fahrerin wie Marlen Reusser eher eine Chance hatte: natürlich im Zeitfahren.

Die Schweizer Meisterschaften fanden an einem Frühsommertag im Juni 2017 im solothurnischen Lüterkofen-Ichertswil statt. Nur drei Wochen zuvor hatte Marlen Reusser zwischen Langnau und Zäziwil ihr erstes Einzelzeitfahren überhaupt bestritten.

Mehr wegen seines Pflichtbewusstseins war auch der Nationaltrainer Edi Telser zugegen, das Rennen verfolgte er frei von Erwartungen am Ende eines steilen Anstiegs vom Strassenrand aus. Seit den Rücktritten von Karin Thürig und Nicole Brändli klaffte bei den Schweizer Rennvelofahrerinnen eine riesige Lücke, und der Südtiroler Telser konzentrierte sich eher auf die erfolgreicheren Mountainbikerinnen.

Doch nun staunte er über die Frau, die da vor seinen Augen den Berg hochraste. Warum sagte ihm der Name auch nach einem Blick auf die Startliste nichts? Edi Telser stieg ins Auto, die letzten Kilometer des Rennens fuhr er hinter der Unbekannten her. Im Ziel bestätigte sich der Eindruck von unterwegs: Marlen Reusser war mit Abstand die Schnellste.

Gute Trainer:innen sind eine Mischung aus Goldschürferinnen und Pferdeflüsterern: Ob jemand Talent hat, erkennen sie nach wenigen Augenblicken. Komplizierter wird es für sie, wenn gravierende Mängel die offensichtliche Begabung begleiten. Wie Marlen Reusser die Kurven ansteuerte und das Gewicht verlagerte, wo sie laufen liess oder bremste– das war für einen Ästheten wie Telser fast nicht zum Zuschauen.

Sie hatte eine Riesenstärke: ihren Motor. Und eine Riesenschwäche: alles andere.

Für die meisten dürfte das eine erstaunliche Nachricht sein, aber es gibt richtiges und falsches Velofahren. «Es ist wie beim Laufen», erläutert Edi Telser. «Da denkt man auch, dass man es als Kind mal lernt, und dann kann man es einfach. Aber zwischen alltäglichem und wettkampfmässigem Laufen besteht ein riesiger Unterschied.»

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Fotografie: Flavio Leone

Um herauszufinden, welchen Wert Reussers Leistung wirklich hatte, machte Telser ihr einen Vorschlag. Sie sollte sich bei Sport-physiolog:innen einem Belastungstest unterziehen. Und an den Weltmeisterschaften im September starten, dem wichtigsten Zeitfahren des Jahres.

Von Lüterkofen-Ichertswil auf die Weltbühne in nur drei Monaten – das war Edi Telsers Plan. Und der ging auf unglaubliche Weise noch besser auf, als er es sich erhofft hatte. Hier Marlen Reussers Platzierungen an den jährlich stattfindenden Weltmeisterschaften im Zeitfahren seit 2017: 29., 17., 6., 2., 2., 3.

Und was ergab der Belastungstest? Dass überhaupt noch nie eine Schweizer Radfahrerin – egal, in welcher Disziplin – bessere Leistungswerte hatte als Marlen Reusser, unsere Wochenendausflüglerin aus Hindelbank, die sich auf dem Velo bloss Ablenkung vom Geigenspiel und Medizinstudium verschaffen wollte.

Sie hatte soeben das Studium beendet und in Langnau einen Job als Assistenzärztin angetreten, doch nun zögerte sie nicht mehr wie vor dem Paarzeitfahren: Sie wollte – neben der Arbeit! – wissen, wie weit sie es als Velofahrerin bringen kann. Edi Telser, der sich um sie bemüht hatte, war erleichtert. Aber er ahnte auch, dass es nicht einfach würde. «Eine 19-Jährige, die seit zehn Jahren von einer Olympiamedaille träumt, gibt nicht so schnell auf, wenn sie mal keine Fortschritte macht», sagt er. «Aber eine 26-jährige Quereinsteigerin wie Marlen, die in ihrem Leben so viele andere Dinge hat, die ihr wichtig sind – die schmeisst vielleicht alles hin, wenn es einen Moment nicht läuft.»

Um dem vorzubeugen, stellte er sie einem Trainer vor, der mehr Zeit hatte als er: Marcello Albasini.Er ist eine Legende im Schweizer Männerradsport, Vater eines ehemaligen Profis, Mentor von Zeitfahr-Spezialisten wie Stefan Bissegger, seit Jahrzehnten im Geschäft. Ein Arbeiter, der nichts von Abkürzungen hält.

Bisher war das nicht Marlen Reussers grosse Stärke gewesen, aber nun musste sie es lernen: auf andere hören. Mit jedem Training traute sie sich mehr zu: mehr Distanz, mehr Intensität. Und mit jeder Einheit, die sie zusammen mit dem Techniktrainer Oscar Saiz, den ihr der Verband zur Verfügung stellte, verbrachte, wurde sie auf dem Velo sicherer. Der frühere spanische Downhill-Mountainbiker ist auf dem Rad ein Künstler, die beiden entwickelten eine Routine: Er fuhr vorneweg, sie hinterher. So konnte sie sehen, was er macht. Sie lernte, wie man bei Regen in eine Kurve liegt, ohne zu stürzen. Wann man in einer Abfahrt spätestens bremst. Wie man die aerodynamischste Position findet.

«Alle, die zwischen 25 und 30 schon mal etwas komplett Neues zu lernen versucht haben, wissen, wie schwierig das ist», sagt Marcello Albasini. «Wie sich Marlen diese Sicherheit angeeignet hat, ist erstaunlich. Sie gehört technisch vielleicht nicht zu den Besten der Welt, aber viel Rückstand hat sie nicht mehr.» Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit im Herbst 2017 hatte er ihr gesagt: «Das ist ein Experiment, aber lass uns versuchen, dich an die Olympischen Spiele zu bringen.» Vier Jahre später, im Sommer 2021, war es dann ein bisschen mehr als bloss die Teilnahme: Marlen Reusser gewann im Olympiazeitfahren in Tokio Silber, geschlagen nur von der Überfliegerin Annemiek van Vleuten aus den Niederlanden.

«Eine 26-jährige Quereinsteigerin schmeisst vielleicht hin.»

von Edi Telser, Nationaltrainer

Bis hierhin hatte Reusser ihre Karriere in kleinen Schritten geplant. Sie dachte ein paar Monate, höchstens ein Jahr voraus. Sie wollte sich stets die Möglichkeit offen lassen, sich vom Sport wieder abzuwenden.

Das war nun anders. Aber wohin führt der Weg? Wer sich für Radsport interessiert, der oder dem drängen sich bei Reusser irgendwann Parallelen auf zu einem anderen Schweizer Top-Fahrer, dem früheren Zeitfahr-Spezialisten Fabian Cancellara. Wie Reusser kommt er aus der Umgebung von Bern, und alles, was sie noch gewinnen will, hat er schon gewonnen (und einiges mehr): Olympiagold, Weltmeisterschaftsgold, sogar die Flandernrundfahrt, eines der wichtigsten Eintagesrennen.

Doch das sind die einzigen Gemeinsamkeiten. Fabian Cancellara fand als Kind zum Radsport und hatte nie ein anderes Ziel, als an die Weltspitze zu gelangen. Als ihn schon alle kannten und sich die reichsten Teams um ihn rissen, war er noch ein Jugendlicher. Er konnte sich von einer langen Historie des Männerradsports inspirieren lassen und sich seine Vorbilder unter Dutzenden grossen Namen aussuchen. Lud er zu einer Medienkonferenz, war der Saal proppenvoll. Auch sieben Jahre nach seinem Rücktritt ist der Radsport seine Welt: Er ist Fahrermanager, Nachwuchsmentor, neuerdings sogar Teambesitzer.

Im Vergleich zu anderen Velofahrerinnen bekommt Marlen Reusser gar nicht mal so wenig Medienaufmerksamkeit. Doch während Fabian Cancellara in solchen Momenten über die Teamtaktik oder seinen Fitnesszustand dozierte, unterhält man sich mit ihr über ihr politisches Engagement für die Jungen Grünen, über Vegetarismus, zyklusorientiertes Training, Magersucht oder über den Klimawandel. 

Ihr ist das einerseits recht, sie nutzt ihre Bekanntheit gern dafür, ihre Überzeugungen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Andererseits ist es aber auch Ausdruck eines Phänomens, das nicht aus der Welt zu schaffen scheint: Dass es im Frauensport häufig nicht reicht, einfach eine gute Sportlerin zu sein. Idealerweise überzeugt frau zusätzlich mit Aussehen, Intelligenz, Charme.

Das zweite Gespräch mit Reusser findet am Telefon statt, im Hintergrund höre ich das Meer rauschen. Es ist Ruhetag im Trainingslager in Spanien, auf einer Sitzbank am Strand legt Marlen Reusser die Beine hoch. Hier bereitet sie sich auf die Saison vor, die für sie mehrere Höhepunkte bereithält: im Frühling die Eintagesklassiker, im Herbst die Zeitfahr-Weltmeisterschaften. Und im Sommer die Tour de France.

Vor wenigen Jahren schien das unmöglich, seit 2022 ist es Realität: Die Frauen haben wieder eine Tour de France. Die Tour de France ist das wichtigste Radrennen der Welt, alles ist hier x-fach grösser: Sponsorengelder, Publikumsinteresse, Erwartungen. Für die Männer wird die Rundfahrt seit 1903 ausgetragen, unterbrochen einzig in den Weltkriegsjahren. Die Frauen durften das Schaufenster 1955 und dann noch ein paar Mal in den 1980er Jahren nutzen. Dass sich das ändert, haben sie sich ganz alleine erkämpft.

Zum Beispiel die Niederländerin Marianne Vos, lange die beste Radfahrerin der Welt. Im Jahr 2013, als die Männer die 100. Austragung ihrer Tour feierten, weibelte sie um Unterstützung für eine Tour de France Femmes. In einer Woche kamen 100000 Unterschriften zusammen. Tour-Chef Christian Prudhomme ärgerte sich, dass sich die Frauen für ihre Aktion ausgerechnet das Jubiläum der Männer ausgesucht hatten: «Sie hätten zuerst auf uns zukommen können, bevor sie sich an die Öffentlichkeit wenden», sagte er. Marianne Vos erwiderte: «Man liess uns keine Wahl.»

Oder Marion Rousse, frühere französische Meisterin. Heute ist sie Direktorin der Frauen-Tour. Als es bei der Premiere letztes Jahr zu schweren Stürzen kam und sich manche den Mund über die vermeintliche Fahruntüchtigkeit der Frauen zerrissen, sagte sie trocken: «Wenn Männer stürzen, sind sie Helden. Wenn Frauen stürzen, können sie nicht Rad fahren.»

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Fotografie: Flavio Leone

Oder Marlen Reusser. Wenn sie den Eindruck hat, Frauenradsport komme in der Berichterstattung zu kurz, ruft sie beim Schweizer Fernsehen an. Sie lässt sich nicht mit dem Argument abspeisen, man orientiere sich blossam Publikumsinteresse, sondern nimmt die Medien in die Pflicht. Zwei Sportjournalisten von Tamedia sagte sie in einem Interview: «Der Sport ist männlich, in den Zeitungen sowieso. Sie als Redaktoren denken, dass Sie spiegeln, was interessiert. Aber die Medien können ihren Kurs zu einem gewissen Grad selbst steuern. Sie stehen in der Verantwortung.»

Marlen Reusser fährt seit dem vergangenen Jahr für das beste Team der Welt: SD Worx aus den Niederlanden. Sie hat dort allerdings eine eigenartige Rolle: Weil SD Worx mit Lorena Wiebes (der weltbesten Sprinterin), Demi Vollering (der weltbesten Allrounderin) und Lotte Kopecky (der weltbesten Eintagesfahrerin) noch über drei weitere Fahrerinnen von ähnlichem oder grösserem Kaliber verfügt, kommt Reusser oftmals die Aufgabe zu, schon früh im Rennen Lücken zu Fluchtgruppen zuzufahren oder einer Kollegin auf der Ziellinie den Sprint anzuziehen. 

Oder sie muss sich in die Fluchtgruppe begeben, um die anderen Teams unter Druck zu setzen. So war es im Frühling 2023 beim Ardennenklassiker Lüttich–Bastogne–Lüttich, wenige Tage nachdem ihr Vertrag mit SD Worx bis 2024 verlängert worden war: Reusser fuhr vorneweg. Einen Moment lang sah es danach aus, dass sie das Rennen sogar gewinnen könnte, doch dann machte sich doch noch bemerkbar, dass sie so lange alleine draussen im Wind gefahren war. Von hinten näherten sich die Favoritinnen, darunter Demi Vollering, die dank Reussers Vorausfahrt bis hierhin noch überhaupt keine Führungsarbeit hatte leisten müssen. Im Sprint um den Sieg mit der Italienerin Elisa Longo Borghini war sie die Erholtere.

Und Reusser? Die fuhr noch auf Platz 3, trotz der Erschöpfung von der langen Flucht. Man kann sich denken, was möglich gewesen wäre, wenn sie vom Team eine andere Aufgabe bekommen hätte.

Wenn sich Marlen Reusser – wir sprechen jetzt nicht vom Zeitfahren, sondern von Strassenrennen – eine Chance bietet, darf sie zwar um den Sieg fahren. Gleichzeitig ist sie dazu da, anderen im Team den Sieg zu ermöglichen. Es sind Ziele, die sich widersprechen. Marlen Reusser steht weit oben in der Hierarchie des besten Teams. Aber nicht zuoberst.

Das ist vielleicht das Interessanteste am Radsport: Er ist Teamsport und Einzelsport zugleich. Er ist ein Einzelsport, weil am Ende nur eine Person auf dem Podest steht. Es gibt nur eine Siegerin oder einen Sieger. Nur eine Person kann als Erste über die Ziellinie fahren. Aber zugleich ist es ein Teamsport, weil niemand es ohne Unterstützung nach oben schafft (in der Regel bleiben die Unterstützer:innen unsichtbar, namenlos, unterbezahlt). Bei SD Worx ist es noch aus einem anderen Grund ein Teamsport: weil man dort erkannt hat, dass man mehrere Asse in der Hand haben muss. Wenn eine Karte nicht sticht, versucht man es eben mit einer anderen.

Ist Marlen Reusser eine Karte, die sticht? Kann sie die ganz grossen Rennen gewinnen? Sie träumt vom Sieg bei der Flandernrundfahrt. Als sie vergangenes Jahr Platz 5 belegte, sagten ihr viele, sie hätte Erste werden können. Aus ihrer ganz persönlichen Sicht war das Rennen eine Enttäuschung. Aus Sicht des Teams aber ist alles richtig verlaufen, denn Lotte Kopecky hat gewonnen.

Ich spreche noch einmal mit Marcello Albasini, Marlen Reussers Trainer von 2017 bis zur Olympiasilbermedaille 2021, der sich inzwischen in einer speziellen Rolle befindet: Als Sportlicher Leiter des aufstrebenden Teams UAE ist er seit dieser Saison gewissermassen ihr Konkurrent. Albasini sagt: «Wer Marlen im Team hat, weiss, dass man über eine Maschine verfügt. Die Frage ist, wie man diese Maschine einsetzt. Man kann sie als Leaderin einsetzen, damit sie Rennen gewinnt. Oder als Arbeiterin, die anderen hilft, Rennen zu gewinnen.»

Kurze Pause.

«Ich glaube, SD Worx hat sie zum Arbeiten eingestellt.»

Ich sage, Reusser sammle bestimmt viel Rennerfahrung und könne viel von den anderen Weltklassefahrerinnen abschauen.

«Aber vor lauter Lernen sollte man eines nicht vergessen: Auch Gewinnen muss man lernen. Und das tut man nicht, indem man anderen den Sprint anzieht. Man tut es, indem man im Rennen an sich selber denkt», entgegnet Albasini.

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Fotografie: Flavio Leone

Würde er Marlen Reusser gern zum Team UAE holen?, frage ich. Albasini lacht. Allzu viel will er wohl nicht verraten.

Ich kontaktiere Hendrik Werner, Reussers neuen persönlichen Trainer, der auch ihr Partner ist (die Arbeits- und die Liebesbeziehung entstanden parallel). Wir treffen uns in Bern zum Kaffee, als die beiden über die Weihnachtstage Reussers Familie in Hindelbank besuchen. Hendrik Werner, 39 Jahre alt, lebt die meiste Zeit des Jahres auf Mallorca. Er hatte einst selbst das Zeug zum Veloprofi, hörte aber vorzeitig auf und wurde stattdessen Sportwissenschaftler an der Universität Paderborn. Heute ist er einer der weltweit gefragtesten Radtrainer. Er ist der Typ, der alles in Frage stellt. Doch dabei belässt er es nicht. Er macht dann auch tatsächlich vieles anders: Er hält wenig davon, dass sich im Radsport heute alle an Wattwerten, Pulswerten, Blutwerten orientieren. «Fahren nach Zahlen», sagt er etwas abschätzig dazu. Er fin-det die Orientierung am Exakten schon wichtig, warnt aber auch davor, sich davon bremsen zu lassen. Er möchte, dass Velofahrer:innen – hauptberuflich ist er Trainer im Männerteam Bora-Hansgrohe – wieder etwas mehr auf ihre Intuition, ihr Herz hören. «Was, wenn du den besten Tag deines Lebens hast? Wenn du verliebt bist und verborgene Kräfte freisetzen könntest? Greifst du dann nicht an, nur weil der Computer nichts davon weiss? Ich glaube, dass wir die Antwort meistens in uns selbst tragen, uns von den Zahlen dann aber ablenken lassen», sagt Werner.

Reusser gefällt diese Einstellung. Sie ist dank Albasini auf Werner aufmerksam geworden, die beiden hatten im einstigen Schweizer Team IAM Cycling zusammengearbeitet. Nach der Olympiasilbermedaille 2021 in Tokio sagte Albasini zu ihr, sie brauche jemanden, für den es nach oben kein Limit gebe. «Du trainierst jetzt schon häufig mit Männern. Du brauchst jemanden, der sich im Männerbereich auskennt.» 

Noch in jenem Herbst reiste Reusser zu Werner nach Mallorca, um ihn kennenzulernen. Nach einer Woche war klar, dass sie es gemeinsam versuchen wollten. Nach der Rückkehr fragte Marlen Reusser ihre Vertrauten Edi Telser und Marcello Albasini, ob man sich mit jemandem auch zu gut verstehen könne, um noch eine professionelle Trainer-Athletin-Beziehung zu führen, was beide verneinten. 

Heute sind Hendrik Werner und Marlen Reusser Freund und Freundin, was im Sport schnell Fragen aufwerfen kann. Es gibt erstaunlich viele Liebesbeziehungen zwischen weiblichen Athletinnen und männlichen Trainern, und die zeichnen sich nicht immer durch Ebenbürtigkeit aus. Manche sind von Unterwürfigkeit und einem Machtgefälle geprägt, das der Stärkere ausnutzt, um die Schwächere zu immer selbstzerstörerischeren Leistungen zu treiben. Aber Marlen Reusser ist nicht der Typ, der jemandem blindlings folgt (schon gar nicht einem Mann). Und Hendrik Werner ist nicht der Typ für Machtspiele.

Aber warum begann er überhaupt mit Marlen Reusser zu ar-beiten, obwohl er sich vorgenommen hatte, keine individuellen Athlet:innen mehr zu betreuen? Werner reizte, was andere als Nachteil sehen könnten: dass Reusser nicht im Radsport grossgeworden ist. Er sah natürlich die offensichtlichen Schwächen, die das mit sich brachte, die Unsicherheit beim Fahren im Peloton oder beim Erkennen einer Angriffsmöglichkeit. Aber er sah auch Vorteile: dass Reusser viel Raum für Verbesserungen hatte. Und er dachte über eine Frage nach, die sich im Grunde auf jedem Lebensweg irgendwann stellt: Was ist besser, eine Generalistin oder eine Spezialistin zu sein?

In der Forschung gibt es Hinweise darauf, dass eine frühe Spezialisierung nach der Schule zunächst einen Lohnvorsprung bedeutet, dass aber eine spätere Spezialisierung diesen Vorsprung wieder wettmacht, weil jene, die zuvor viele Dinge ausprobieren, später eine Tätigkeit finden, die wirklich ihren Fähigkeiten und ihrer Persönlichkeit entspricht. Zugleich bringen sie einen reicheren Erfahrungsschatz mit als jene, die sich früh vor allem aufgrund ihres Talents, nicht aber aufgrund ihres intrinsischen Interesses auf etwas konzentrieren.

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Fotografie: Flavio Leone

Bei vielen Sportler:innen findet die Persönlichkeitsentwicklung in einer hermetisch abgeriegelten Welt mit klaren, unhinterfragbaren Abläufen und Werten statt. Marlen Reussers Persönlichkeit wurde auf dem Rennvelo geformt, aber auch in der Schule, in der Musik, im Studium. Kurz: im normalen, vielfältigen Leben.

«Sie können sich nicht vorstellen, was das für einen Unterschied macht», sagt Hendrik Werner beim Kaffee in Bern. Als ihre grösste Stärke identifizierte er denn auch nicht wie alle anderen ihren Motor. Sondern ihre Selbstkenntnis. «Damit meine ich nicht ihr Selbstbewusstsein. Ich meine, dass sie sich selbst fühlen, sich verstehen, sich zuhören kann. Sie kann Entscheidungen treffen und dann auch dazu stehen.»

Aber wird das reichen, damit sie die ganz grossen Rennen gewinnt? Werner glaubt, dass sich Reusser exponieren muss. Er sagt: «Sie muss im Rennen Situationen kreieren, die ihre Gegnerinnen dazu zwingen, zu reagieren. Sie muss sie herausfordern und von sich aus den Sieg suchen. Ich glaube, dass es wenige Fahrerinnen gibt, die mithalten können, wenn Marlen einmal richtig in die Pedale tritt. Sie sollte nicht warten, bis das Team für sie fährt. Sie sollte den Moment selbst wählen. Je länger sie wartet, desto gefestigter wird sie in ihrer Helferinnenrolle. Und irgendwann kommt sie da nicht mehr raus, weil alle in ihr nur noch die Helferin sehen.»

So viele Ratschläge: vom Nationaltrainer Edi Telser, von ihrem ehemaligen Trainer Marcello Albasini, von ihrem Trainer und Lebenspartner Hendrik Werner. Aber was macht Marlen Reusser nun damit? Sie macht sich ihre eigenen Gedanken. Kann man gewinnen lernen? Während im Hintergrund das Rauschen der Wellen zu hören ist, erzählt sie am Telefon am Meer in Spanien, sie habe lange gedacht, man müsse ein bisschen verrückt sein, um im Sport Erfolg zu haben. Man müsse psychisch einen Knacks haben, irgendwie unzufrieden mit dem Leben und schräg drauf sein. Nur so, dachte sie, lasse sich erklären, warum sich die Supererfolgreichen im Training derart quälten: weil sie ein unerfülltes Bedürfnis stillen wollten.

Sie dachte, dass Sportler:innen in dieser Hinsicht nicht sehr anders als Künstler:innen seien, von denen man ja auch sagt, dass nur extreme Charaktere zu gros-sen Werken fähig seien. Von gu-

ter Kunst wird erwartet, dass sie 

grösser ist als das Leben. Auch von gutem Sport? Sie sagt: «Es gab in meinem Leben viele Jahre, in denen ich nach etwas suchte, nach etwas strebte. Aber heute bin ich glücklich, bin ein recht normaler Mensch. Und trotzdem habe ich im Sport einen gewissen Erfolg.»

Vielleicht, weil Sport für sie ein Spiel ist. Anderswo auf der Welt ist das bestimmt anders, aber Marlen Reusser aus Hindelbank bei Bern muss nicht Velo fahren, um ihre Familie durchzubringen. Sie muss nicht die Träume ihrer El-tern leben. Auf ihr lasten nicht die Hoffnungen einer gebeutelten Nation, die wenigstens im Sport etwas Trost findet. Sie will wissen, was möglich ist. Aber wenn sie es nicht erreicht, geht die Welt nicht unter. Vielleicht wird sie diesen Juli an der Tour de France etwas für ihr Leben nach dem Sport lernen, so, wie sie im Studium etwas für das Zeitfahren lernte.

Vielleicht ist das der grosse Vorteil der Generalistin, die zur Spezialistin geworden ist: dass sie gewinnt, weil sie nicht gewinnen muss. So wie beim Frühjahrsklassiker Gent–Wevelgem.

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