Einfach immer weiter

Als Junior war er Teamkollege des zehnfachen Mountainbike-Weltmeisters Nino Schurter. Seine sportliche Berufung hat Robin Gemperle aber anderswo gefunden: Er ist innert kurzer Zeit zur prägenden Figur der Ultraveloszene geworden.

Robin Gemperle deckt sich mit Coladosen und «den allerkleinsten Chipspackungen der Welt» ein, wie er erzählt.
Robin Gemperle deckt sich mit Coladosen und «den allerkleinsten Chipspackungen der Welt» ein, wie er erzählt. Fotografie: Nils Laengner

Robin Gemperle hat 21 Snickers in zweieinhalb Tage gegessen. Es ist Anfang Februar, als der Aargauer das Resultat seines Experiments auf Instagram teilt. «Zwei Sachen, die scheisse sind: Es ist verdammt kalt – und mein Bart trotzdem noch nicht eingefroren. Meine Hände tun weh. Und zwei Sachen, die geil sind: Die Hälfte ist jetzt dann durch. Und ich habe schon 21 Snickers gegessen», erzählt Gemperle radelnd und grinst dabei sein breites Grinsen. 

Der 27-jährige Aargauer sendet das Video aus den Bergen in Marokko, wo er das Atlas Mountain Race bestreitet, ein Nonstop-Mountainbike-Rennen ohne Betreuung. Auf dem 1302 Kilometer langen Rennparcours gilt es 20200 Höhenmeter zu bewältigen – das entspricht ziemlich genau den Eckdaten der achttägigen Tour de Suisse. Mit dem Unterschied, dass die Strecke praktisch komplett über unbefestigte Wege führt. Trotzdem kommt Gemperle bereits drei Tage, 20 Stunden und 15 Minuten nach dem Start in Marrakesch im Ziel in Essaouira an. Als Sieger. In der Instagram-Liveübertragung wirkt er desorientiert, überfordert von den vielen Menschen im Zielgelände. Er stellt sein Bike ab – und trottet davon. 

«Wenn du gut darin bist, nicht aufhören zu wollen und nicht zu schlafen, dann bist du in diesen Rennen vorne dabei», sagt Gemperle einige Wochen später in einem Café in Zürich, nun wieder ganz bei sich. Er ist zurück in seinem Alltag. Als ETH-Student pendelt er täglich von Aarau nach Zürich. 

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Die Rückkehr in die Normalität war nicht einfach. Zu den 21 Snickers kamen in der zweiten Rennhälfte noch einige mehr dazu. Der Schokoriegel ist unter Ultravelofahrer:innen beliebt, weil er fast auf der ganzen Welt verkauft wird und besonders kalorienreich ist. «Nach Marokko musste ich einen Zuckerentzug machen, so sehr war mein Körper davon abhängig geworden», sagt Gemperle. 

Als Jugendlicher war er ein so talentierter Mountainbiker, dass Thomas Frischknecht, der einstige Spitzenbiker und heutige Chef des Scott-Sram-Biketeams, auf ihn aufmerksam wurde. Ab dem Alter von 16 Jahren fuhr Gemperle zwei Saisons für die Equipe um Nino Schurter, seit Jahren der weltbeste Mountainbiker. «Mein Talent hätte wohl gereicht, um Profi zu sein. Aber ich hätte kein cooles Leben führen können. Einen Weltcup hätte ich garantiert nie gewonnen», meint Gemperle. Stattdessen studiert er nun Architektur, legt als House-DJ unter anderem in Zürcher Szeneclubs wie der Zukunft oder dem Gonzo auf und organisiert mit Freunden unter dem Namen Klub Fritto Misto Gastroevents.

Und doch ist das Velo eine Konstante in seinem Leben geblieben: Nach dem Mountainbike entdeckte Gemperle die Fixies, Starrlaufvelos ohne Bremsen, fuhr damit auch Rennen. Als er während des Studiums dafür keine Zeit mehr hatte, habe er gemerkt, «wie geil Velofahren ist». Dem Fixie blieb Gemperle treu, unternahm damit enorme Touren. Zusammen mit Bruder Dario und seinem Freund Julian radelte er mal nach Riga, mal nach Kopenhagen. In einem Tag pedalten sie nonstop nach Paris, in 50 Stunden legten sie die 1000 Kilometer nach Barcelona zurück. Immer auf dem Fixie, mit einem Gang und minimalem Gepäck. Gemperle merkte bald, dass ihm diese langen Distanzen viel weniger zu schaffen machten als seinen Mitstreitern. «Ich komme nicht an meine Grenzen bei diesen Dingen. Darum sagte Julian: ‹Dann fahr doch mal das TCR!›» 

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Fotografie: Nils Laengner

2013 wurde das TCR, kurz für Transcontinental Race, erstmals ausgetragen. Innert kurzer Zeit erreichte es grosse Bekanntheit. Das liegt am ungewöhnlichen Format: Das TCR führt quer durch Europa. Gegeben sind der Startort (meist in Belgien) und das Ziel (meist weit im Osten, in Griechenland, der Türkei oder Bulgarien) sowie ein paar Checkpoints unterwegs. Für die Route zwischen diesen Punkten sind die Teilnehmenden selber verantwortlich. Ebenso für Verpflegung und allfällige Unterkünfte. Hilfe von aussen ist nicht erlaubt. Kurz: Das TCR ist ein 4000 Kilometer langes Veloabenteuer quer durch Europa. Eine Angelegenheit für Ausdauerfreaks – aber sicher kein Wettkampf, der irgendjemanden sonst interessieren würde.

Falsch gedacht. Rund um diese Solo-Wettkämpfe – das TCR ist längst nicht mehr der einzige dieser Art – hat sich eine Gemeinschaft von Fans gebildet. Dot-Watcher nennen sich diese. 

Von Ultrarennen gibt es keine TV-Bilder, verfolgen lassen sich die Wettkämpfe nur über die GPS-Tracker, die alle Teilnehmenden mitführen müssen. Jeder erzeugt auf der digitalen Landkarte einen Dot (englisch für Punkt), dessen Bewegung man von daheim aus verfolgen kann. Dazu kommen sporadische Berichte der Teilnehmenden in den sozialen Medien, welche eine:n an den Abenteuern teilhaben lassen. Zuhause fiebern Dot-Watcher mit den Fahrer:innen mit, wenn sie physische Schmerzen durchleiden, sich mit Material- und Navigationsproblemen herumschlagen oder auf Verpflegungs- und Unterkunftssuche sind. 

Vergangenen Sommer, beim TCR 2022, gibt ein Punkt auf der digitalen Landkarte den Dot-Watchern Rätsel auf. Es ist jener von Robin Gemperle. Niemand weiss damals etwas über diesen Schweizer, der gerade dabei ist, die Ultracycling-Welt aufzumischen. 

Nach rund 2000 gefahrenen Kilometern fährt Gemperle also an der Spitze des TCR mit. Als dritter Fahrer erreicht er den zweiten Checkpoint beim berüchtigten Gaviapass, südöstlich von Bormio. Und überholt wenig später mit Ulrich Bartholmös gar einen der Favoriten des Rennens. Der Deutsche wundert sich. Auch er kennt Gemperle nicht, zudem wirkt der mit seiner Erscheinung, Nasenring und wilder Haarschopf, auf den ersten Blick nicht wie ein ernstzunehmender Konkurrent. Was ebenfalls nicht ins Bild passt: Der TCR-Debütant hat nur halb so viel Gepäck dabei wie die anderen Teilnehmer. Gemperle sagt dazu: «Richtig kalt hatte ich nur ein Mal. Und so viel mehr Kleider, wie ich da gebraucht hätte, hätte ich niemals mittransportiert.» 

Natürlich verfolgen die Dot-Watcher fortan den kühnen Neuling genau. Und sorgen sich um ihn, als Gemperles Punkt sich am sechsten Renntag plötzlich gar nicht mehr bewegt. Während Stunden. Dann postet er eine kurze Nachricht auf Instagram. Es ist ein Screenshot aus einem Austausch mit einem Freund. «Alte, ich bi cooked», schreibt Gemperle diesem, «Arsch fleischwunde no joke». Dieses Sprachmischmasch verstehen nur Schweizer Dot-Watcher – die dafür ziemlich ungefiltert. 

obin Gemperle (rechts) fährt 2019 zusammen mit seinem Bruder Dario (links) und Julian Meier in sechs Etappen von Aarau nach Riga. In Litauen geht vieles schief. Die drei bekommen am Abend kein Essen und übernachten hungrig auf einem Feld. Am nächsten Morgen finden sie nach 80 Kilometern in einer Tankstelle die «übelsten Sandwiches meines Lebens», erzählt Gemperle. Der Ultracycler mag es auch an seinen Events unkonventionell. An seiner Partyreihe heisst es 2022 morgens um 3 Uhr in Aarau: Oyster Break. Licht an für 2 Minuten und 72 Austern. Gemperle legt gerne zusammen mit seinem «DJ-Ziehvater» Gianni House auf.
Robin Gemperle (rechts) fährt 2019 zusammen mit seinem Bruder Dario (links) und Julian Meier in sechs Etappen von Aarau nach Riga. In Litauen geht vieles schief. Die drei bekommen am Abend kein Essen und übernachten hungrig auf einem Feld. Am nächsten Morgen finden sie nach 80 Kilometern in einer Tankstelle die «übelsten Sandwiches meines Lebens», erzählt Gemperle. Der Ultracycler mag es auch an seinen Events unkonventionell. An seiner Partyreihe heisst es 2022 morgens um 3 Uhr in Aarau: Oyster Break. Licht an für 2 Minuten und 72 Austern. Gemperle legt gerne zusammen mit seinem «DJ-Ziehvater» Gianni House auf. Fotografie: Nils Laengner

Gemperle schmunzelt, als er sich an die Episode zurückerinnert. «Da bezahlte ich Lehrgeld», meint er. Er hatte kein zweites Paar Velohosen eingepackt. «Nach ein paar Tagen glitzert das Sitzleder von den Schweiss-Salzkristallen», sagt er. «Das ist dann wie Schmirgelpapier. Auswaschen hilft auch nur bedingt: Du hast kaum mehr Kraft in den Händen, um die Hose auszuwinden.» Entsprechend geschockt ist er, als er bei einem Stopp seinen schmerzenden Sitzbereich inspiziert und zwischen seinen Beinen eine lange offene Wunde entdeckt. 

Gemperle habe ein Spital aufgesucht, heisst es nun unter den Dot-Watchern – sein GPS-Punkt ist ganz in der Nähe stehen geblieben. «Dabei war ich einfach im Gästezimmer eines Bauernhofs schlafen gegangen – mit einer halben Zentimeter dicken Schicht Zinkcrème im Schritt», sagt Gemperle. 12 Stunden später setzt er sich wieder auf den Sattel, fragt in Apotheken nach Linderung bringenden Blasenpflastern. «Aber finde mal Compeed in Kroatien.» Um den Sieg kämpfen nun andere.

Doch Gemperle gibt nicht auf. Als einer von ganz wenigen Konkurrenten wählt er in Serbien eine riskante, aber kürzere Route über einen unbefestigten Pass. Mit dem Rennvelo. Tatsächlich hat er vor der letzten Schlüsselpassage, der Transalpina-Hochstrasse in Rumänien, noch Chancen auf einen Podestplatz. Doch der Schlafmangel macht ihm zu schaffen, er erleidet auf der Kiespassage drei Plattfüsse. «In der ersten Nacht des Rennens hatte ich meinen einzigen Platten gehabt. Doch auf den 3500 Kilometern danach kaufte ich mir nie einen neuen zweiten Ersatzschlauch. Das war so arrogant. Meinem Papi habe ich das bis heute nicht gesagt.» Natürlich hat er auch Flickzeug dabei. «Aber nach neun Tagen ist alles, deine Hände, deine Kleider, dein Material, so fettig, dass nichts mehr klebt. Ich sass weinend am Strassenrand, verlor Stunden.» Die Lösung ist dann eine TCR-typische. Er behebt den Defekt mit einem für Traktoren gedachten Flicken. Doch nun meldet sich der Hintern wieder – und der Velocomputer mit der einprogrammierten Route gibt den Geist auf. Gemperle denkt ans Aufgeben, kauft an der Tankstelle ein Bier. Erst ein Telefonat mit seinem Bruder – womit er sich in die Grauzone des TCR-Reglements bewegt – bringt ihn wieder in die Spur. Nach drei Stunden Schlaf pedalt er wie ein Wilder weiter. Unterwegs wird er noch von einem streunenden Hund gebissen. Egal, weiter. Immer weiter.

An die Begegnung mit dem Hund erinnert er sich erst wieder nach der Zielankunft. Als Achter erreicht er das Schwarze Meer, nach 10 Tagen, 13 Stunden und 53 Minuten, nach 4357 Kilometern durch Belgien, die Niederlande, Deutschland, Tschechien, Österreich, die Schweiz, Italien, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Montenegro, Serbien, Rumänien und Bulgarien. Wieder ist es sein Bruder, der ihn daran erinnert, dass Rumänien als Tollwut-Spot gilt. Verdreckt und übermüdet wankt Gemperle ins nächste Spital. «Die dachten dort, ich sei betrunken.» Erst nach langen Verhandlungen erhält er die erste Spritze gegen Tollwut. 

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Fotografie: Nils Laengner

Diese zehn Tage bewegen einiges in Gemperles Leben. Man kennt ihn nun ihn der Szene. Als Christoph Strasser, eine Ikone des Ultraradsports, kürzlich seine Rückkehr zum TCR 2023 ankündigte, nannte er Gemperle «eine der absoluten Grössen». «Da denke ich: Alter, chill mal! Das wird erst mein drittes grosses Rennen sein», sagt Gemperle. Zugleich freut ihn der Zuspruch. Auf Instagram folgten ihm vor dem TCR 1000 Accounts. Mittlerweile sind es 4000. «Man redet das ja gerne klein. Aber das ist schon cool. Da folgen mir nun 3000 Personen, weil sie inspirierend finden, was ich mache.» 

Als Velosponsor unterstützt ihn neuerdings Scott, sein Ex-Teamchef Frischknecht spielte da auch eine Rolle. Die beiden haben den Kontakt nie verloren über die Jahre. Frischknecht zeigt sich beeindruckt von seinem einstigen Nachwuchsfahrer: «Für mich ist Robin einer der geilsten Velofahrer der Schweiz. Was er macht, fasziniert mich. Ich bin froh, ist er aus dem klassischen Rennsport rausgegangen und hat seine Art, Velo zu fahren, selber erfunden.» 

Die beiden haben bereits gemeinsame Pläne geschmiedet. Nonstop von daheim nach Genua, das würde Frischknecht reizen. Gemperle wäre dabei, doch das TCR geniesst Priorität – neben Studium, DJing und Gastroevents. «Das Velo nimmt genau jenen Platz in meinem Leben ein, den ich will», sagt er. Wobei: Alkohol trinke er mittlerweile schon nur noch sehr wenig. Und auch auf die Ernährung achte er etwas besser. «Ich bin fit und merke, was für ein Ziel ich mit dem TCR vor mir habe.» 

Konkret will er dies auch nach dem Sieg in Marokko nicht aussprechen. Er sagt bloss: «Entweder fahre ich wie letztes Jahr. Oder ich passe mein Tempo nach unten an. Doch so, wie ich rede, ist es klar, welchen Ansatz ich wählen werde.»

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